Digital Ethics
André T. Nemat
Einleitung
Von der Antike bis zur Neuzeit, vom Corpus Hippocraticum bis zur Prinzipienethik der Gegenwart und in fast allen Kulturkreisen bestimmt ärztliche Ethik das Handeln von Mediziner:innen. An Universitäten und Hochschulen ist die Ethik der Medizin ein eigenes Forschungs- und Lehrfach. Ethikkommissionen bewerten und beraten unterschiedliche gesellschaftliche sowie politische Institutionen.
Die Medizinethik ist ein Teilgebiet der allgemeinen Ethik. Sie befasst sich mit den moralischen Wertvorstellungen in der Medizin und insbesondere mit dem ärztlichen Handeln. Der Fokus liegt dabei immer auf dem Wohlergehen der Patient:innen. Was ist moralisch richtig oder falsch, was gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht? (Irrgang u. Heidel 2015).
Insbesondere befasst sich die Medizinethik mit den Grenzfällen menschlichen Lebens: Reproduktionsmedizin, Triage, Transplantationsmedizin und Sterbehilfe. Die Bioethik erweitert den Begriff der Medizinethik um ethische Überlegungen in Bezug auf jegliche Art belebter Umwelt, also neben Menschen auch Pflanzen oder Tiere (Schöne-Seifert 2021). Die Medizinethik soll Ärzt:innen unterstützen und ihnen Orientierung in komplizierten Situationen bieten.
Intensivstationen gehören in Krankenhäusern zu den Abteilungen, in denen die Welt der Medizin akkumuliert. An keinem anderen Ort werden Ressourcen derart konzentriert und gebündelt. Insbesondere die Ressource „Zeit“ ist so kostbar wie auch knapp. Entscheidungen müssen oftmals binnen Sekunden oder Minuten getroffen und umgesetzt werden. Fehler haben meistens weitreichende Folgen. Patient:innen auf einer Intensivstation befinden sich gesundheitlich im wahrsten Sinne des Wortes in einer Ausnahme- und Krisensituation. Sie sind oft selbst nicht mehr in der Lage, über ihre eigene Situation zu reflektieren oder gar zu entscheiden. Auch erscheint der Eindruck, dass die menschliche Zuwendung bedingt durch eine technisierte Medizin nur mittelbar erfolgt. Gleichwohl müssen Entscheidungen getroffen werden, über Leben, über Tod und darüber hinaus.
Digitale Transformation
Das Zusammenspiel von Ethik und Medizin ist stets durch die gesellschaftlichen Umstände und der Wissenschaft geprägt. Eines der größten gesellschaftlichen Themen unserer heutigen Zeit ist das der digitalen Transformation. Insbesondere im Gesundheitswesen hat sie einen immer stärkeren werdenden Einfluss auf den Alltag von Mediziner:innen und Patient:innen. Technologische Innovationen und medizinische Fortschritte entwickeln sich rasant. Grundlage und Voraussetzung für die ubiquitäre Nutzung und dem zunehmenden Wert der Daten ist die exponentiell steigende Rechenleistung (Moor’sches Gesetz) von Computern. Diese Zunahme der Leistungsfähigkeit bildet die wesentliche Grundlage („Treiber“) der digitalen Revolution. Das Zusammenspiel der Hardwareentwicklung sowie die Nutzung von Daten und Algorithmen (Software) macht die digitale Transformation auch im Gesundheitswesen erst möglich.
Mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit von Algorithmen steigt die Nutzung von Technologien, die sogenannte „schwache Künstliche Intelligenz“ anwenden. Meistens beruhen diese Systeme auf Mustererkennungssoftware, die beispielsweise in digitalen radiologischen Bildgebungsverfahren ein bereits hohes Maß an akkurater und automatisierter Befundung erreicht haben (Haubold 2020). Durch die Integration von Sensorik und Messtechniken überblicken Patientenmanagementsysteme (PMS) bereits eine Flut an Daten. Zahlreiche akademische Projekte wie z.B. SMITH haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Daten semantisch zu strukturieren, um eine Interoperabilität zu erreichen (Klötgen 2022; Winter et al. 2018). Mittels algorithmischer Intelligenz sollen Patient:innen auf Intensivstationen zukünftig nicht nur überwacht werden, sondern Ziel ist es, Entscheidungs-Unterstützungs-Systeme (Decision Support Systems – DSS) wie beispielsweise das Projekt „Mona“ zu implementieren (Doelfs 2021). Mit einer explosionsartigen Zunahme der Menge und Auflösung von Daten aus der Intensivpflegeumgebung werden Modelle des maschinellen Lernens zunehmend populär, die ein tieferes Verständnis der Komplexität der Intensivpflege ermöglichen.
Digitale Ethik
Unbestreitbar ist, dass mit dem Einsatz von Künstlicher Intelligenz eine Reihe ethischer Fragen aufkommen, die den aktuellen Diskurs begleiten. Können vitale Entscheidungen, die zudem unter einem permanenten Zeitdruck getroffen werden müssen, Maschinen überlassen werden? Wie können Behandelnde Verantwortung für Entscheidungen durch Maschinen im Kontext der Patientenversorgung übernehmen, deren algorithmische Entscheidungswege zum Teil verborgen bleiben? Aus einer konträren Perspektive heraus lässt sich aber auch die Frage formulieren, ob es ethisch zulässig wäre, sich der KI in DSS nicht zu bedienen, wenn man Patient:innen die bestmögliche Behandlung zu kommen lassen möchte?
Ärzt:innen stehen im Zuge der digitalen Transformation somit vor neuen Herausforderungen: Sie wollen und sollen neue Technologien zum Wohle der Patient:innen einsetzen. Allerdings können sie die Zuverlässigkeit bzw. Vertrauenswürdigkeit der neuen Technologien kaum mehr überblicken. Die Intransparenz der zugrundeliegenden Algorithmen und fehlendes Expertenwissen machen eine Analyse der Ergebnisse im intensivmedizinischen Alltag mitunter unmöglich. Aus dieser Situation heraus wird es für Ärzt:innen zunehmend wichtig, neben ihrer medizinethischen Verantwortung auch ein digital-ethisches Verantwortungsbewusstsein bzw. Expertise zu entwickeln. Doch was ist „digitale Ethik“, und wie wird sie definiert? Zum besseren Verständnis kann dieser Zweig der Ethik in drei Teile unterteilt werden (Floridi 2018):
- Ethik der Daten konzentriert sich auf ethische Probleme, die u.a. bei der Sammlung bzw. Analyse von großen Datenmengen entstehen. So stellen sich etwa Fragen der Verhältnismäßigkeit bei Big Data in der biomedizinischen Forschung(Welche Daten werden benötigt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?).
- Ethik der Algorithmen konzentriert sich auf ethische Probleme, die u.a. durch die wachsende Komplexität und Autonomie von Software entsteht. Automatisierte Diagnosen bei bildgebenden Verfahren sind hierbei ein gängiges Beispiel.
- Ethik der Infrastrukturen beschäftigt sich mit den drängenden Fragen bezüglich der Verantwortlichkeiten von Personen und Organisationen, die für Datenprozesse und -strategien verantwortlich sind. Sie hat zum Ziel, einen ethischen Rahmen für die Gestaltung von Innovationen und dem Programmieren auf Basis von u.a. digital-ethischer Leitlinien und Standards zu gestalten (Floridi u. Taddeo 2016).
Bei digitaler Ethik geht es also darum, die Grundpfeiler des digitalen Wandels – Daten und Algorithmen – sowie deren Organisation über verschiedene Infrastrukturen ethisch zu hinterfragen und Handlungskonzepte für den Umgang mit diesen zu entwickeln.
Digitalisierung wird die Zukunft der Medizin und Patientenversorgung bestimmen. In der Nutzung von Daten liegt in der Intensivmedizin ein erhebliches Potenzial für Fortschritte in der Diagnostik und Therapie. Die viel beschworenen Daten als „Rohstoff“ werden benötigt, um die Entscheidungsalgorithmen der „Roboter“ zu „trainieren“, um ihnen z.B. die Mustererkennung beizubringen. Unter allen Umständen geht es dabei aber darum, den Menschen in den Mittelpunkt sämtlicher Entwicklungen zu stellen. Voraussetzung dafür ist, dass Ärzt:innen sich und ihren Patient:innen eine zunehmende technisierte Behandlungsumgebung zumuten und Kompetenzen entwickeln, um sich den zukünftigen Herausforderungen stellen zu können. Die Reflexion darüber mithilfe der digitalen Ethik kann eine geeignete Orientierung liefern.
Fazit
Datengetriebene und digitale Innovation bilden die Grundlage einer modernen, evidenzbasierten Patientenversorgung, die in der Intensivmedizin zu immensen Fortschritten und grundlegenden Veränderungen führen wird. Durch die Anwendung von digitaler Technologie im Bereich der Intensivmedizin stellen sich zunehmend auch ethische Fragen und Herausforderungen. Im Kontext der intensivmedizinischen Behandlung wird eine Vielzahl von Daten erhoben und verwertet. Dies findet zu einem Zeitpunkt statt, an dem die meisten Patient:innen keine bewusste Zustimmung zu der Verwendung ihrer Daten geben können. Hier ist ein digital-ethisches Vorgehen von besonderer Relevanz. Insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass neue Akteure das Gesundheitswesen mitgestalten, die sich nicht notwendiger weise (medizin‑)ethischen Prinzipien gegenüber verpflichtet fühlen.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Die digitale Intensivstation" herausgegeben von Gernot Marx und Sven Meister. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.