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Das Gehirn ist eine soziale Plattform

Gehirn und Gesellschaft: Das Gehirn ist eine soziale Plattform

Thomas Druyen

Mein Gehirn ist mein Garten. Ich habe ihn von meinen Eltern geerbt und bin mir bewusst, dass darin auch das Vermächtnis meiner Vorfahren liegt. Ihn bloß zu erhalten hieße, in der Vergangenheit stecken zu bleiben. Ihn verwahrlosen zu lassen bedeutet, gar kein eigenes Leben zu führen. Die ersten bewussten Bilder dieses Gartens haben meine Vorstellungen geprägt. Sie sind wie die Konturen eines Malbuchs für Kinder, in ihnen habe ich das erste Mal gegärtnert. Zwei fundamentale Einsichten zeichnen sich ab: Jeder Mensch besitzt einen eigenen Garten, und keiner dieser Gärten ist ein Abbild der Welt, sondern lediglich eine Vorstellung davon. Jeder Schritt, jeder Gedanke und jede Handlung in diesem Garten haben Einfluss auf seine Landschafts- und Lebensarchitektur. Ob bewusst oder unbewusst – wir sind unentrinnbar die Gärtnerinnen und Gärtner. Wir können nicht wie auf einem fliegenden Teppich abheben und plötzlich anderswo ganz neu anfangen. Wie ein Mosaikstein sind wir in ein Fundament aus Natur, Kultur und Umgebung eingelassen, das mit unserem Wesen und allen einströmenden Herausforderungen interagiert.

Die Beschaffenheit meines Gartens richtet sich nach der Art und Weise, wie ich ihn benutze und gestalte. Darin liegt meine Freiheit. Ich kann kaum beeinflussen, was mir widerfährt, aber sehr wohl, wie ich darauf reagiere. Das Wetter, andere Menschen, die Verhältnisse und alles Unvorhersehbare sind Faktoren meiner Lebensbewältigung, die meine Gartenpflege beeinflussen. Insofern ist mein Garten kein Befehlsstand, in dem ich losgelöst agiere, sondern der zentrale Mittelpunkt für Koordination, Vermittlung, Beziehungen und lebenslanges Lernen. Mir ist es nicht möglich, den gesamten Garten in seiner Vielschichtigkeit zu überblicken. Die meisten Vorgänge vollziehen sich ohne meine bewusste Teilnahme, und dennoch bin ich hundertprozentiger Teil dieser Geschehnisse.

Leider ist das Erlernen dieser Gartenarbeit noch kein fester Bestandteil unserer Erziehung und Bildung, sodass wir weitgehend auf uns selbst zurückgeworfen sind. Dazu kommt, dass jeder Garten erheblich von Bedingungen abhängig ist, die uns maßgeblich vorbestimmen. Ob man auf dem Land, in unwirtlicher Umgebung, in armen oder reichen Ländern, in wohlhabenden oder prekären Verhältnissen geboren wird, definiert unsere Ausgangsbedingungen. Es ist müßig, in Bezug auf die Lebensquelle über Fairness oder Gerechtigkeit nachzudenken, denn wir haben keinen Einfluss darauf, wo unser Leben aus dem Boden wächst. Nur im Bauch der Muttererlebt der Mensch offenbar jenes Gleichgewicht, das ihm Ruhe beschert. Danach finden wir uns alle im eigenen Garten wieder und müssen uns unserem Schicksal stellen.

Auf einer weißen, vorstrukturierten Fläche beginnt nun der Lauf der Dinge: Ob bürgerliche oder fürstliche Eltern, Flüchtlinge oder Kriegsopfer, überforderte oder begnadete Erzieherinnen und Erzieher, das Klima der ersten Jahre bestimmt unser Selbstwertgefühl. Wenn wir spüren, dass wir Einfluss nehmen können, entdecken wir den Garten als einen Raum der Veränderung. Erleben wir das Gegenteil, empfinden wir den Garten als Gefängnis. Über allem steht die Furcht, dass unsere Gärten von Krankheiten, Übergriffen und eigenen Unzulänglichkeiten bedroht sind. Diese Ängste sind ein immerwährender Angriff auf unser Gleichgewicht. Da wir das Ausmaß aller Gärten niemals überschauen können, halten wir den eigenen Garten für die Welt. Die Art und Weise, wie wir den Garten bestellen, entscheidet letztendlich, in welcher Realität wir leben. Je öfter wir den Keim der Abneigung säen, umso stärker wächst die Pflanze der Feindschaft. Je mehr wir den Setzling des Mitgefühls pflegen, desto kräftiger wächst die Blume der Achtsamkeit. Es bleibt ein endloser Kampf, den wir am Ende nicht gewinnen können, aber es sind kontinuierlich Siege möglich, und das Streben nach ihnen macht unser Leben sinnvoll. Sobald die Bereitschaft zu kämpfen nachlässt, droht die Verwilderung. In dieser Phase verlieren die Gärtnerinnen und Gärtner ihre Verantwortung an andere Mächte, die zu Schädlingen in ihrem Garten werden.

Wenn wir begreifen, dass jeder von uns auf Gedeih und Verderb seinem Lebensgarten ausgeliefert ist, wächst die Einsicht, dass wir ohne die Wechselwirkung mit anderen keine gemeinsame Welt gestalten können. Die Struktur unseres Gehirns erscheint wie das Sinnbild einer idealen Demokratie – eine Metapher, die der südafrikanische Neurowissenschaftler Henry Markram entwickelt hat:

„Jede Nervenzelle ist einzigartig, und ein und das selbe Signal wird von tausend Nervenzellen auf tausend unterschiedliche Arten verarbeitet. Doch zugleich respektieren sich die Neuronen vollständig und gleichen permanent ihre Interpretationen miteinander ab – ganz anders als eine menschliche Gesellschaft, in der einer sagt, er habe recht und alle anderen unrecht.“

Was ist naheliegender, als von dieser lebendigen Vernetzung zu lernen, um die Welt zu verstehen?Wenn wir auf dem Plateau der Vergangenheit verharren, werden wir die Verheißungen dieser unwiderlegbaren Vision nicht erkennen. Es sind berechtigte Zweifel daran erlaubt, dass unsere traditionellen Hierarchien die Menschheit in die Zukunftsfähigkeit führen. In unserem Gehirn hingegen finden ständig Rückkopplungen statt, die in alle Richtungen und Dimensionen weisen. Da gibt es weder Präsidenten, Preisträger, Päpste, noch Diktatoren oder Experten, die Unfehlbarkeit beanspruchen. Stattdessen beobachten wir ständig wechselnde Autoritäten, die im jeweiligen Moment die richtige Antwort kennen. Noch haben wir nicht begriffen, was es heißt, infolge neuronaler Plastizität flexibel zu sein und sich nicht nur dem Recht der Stärkeren zu ergeben. Auch ein kollektives Bewusstsein repräsentiert innerhalb einer Kultur eine Mehrheitsintuition. Wir sollten die Hinweise, die sich hieraus ergeben, ernsthaft überprüfen, um den eigenen Garten mit dem der anderen zu vergleichen. Unser persönlicher Radius ist nur schwer zu erkennen, wenn wir die Rolle der uns umgebenden Personen nicht verstehen. Entscheidend ist die Tatsache, dass der Mensch den anderen grundsätzlich als Projektionsfläche benötigt. In unserem Gehirn arbeiten sogenannte Spiegelneuronen, die in der Lage sind, das Verhalten anderer Individuen vorwegzunehmen. Diese Spiegelfähigkeit unserer Nervenzellen für die Vorstellung von Empfindungen versetzt uns in die Lage, intuitiv und unmittelbar die Empfindungen einer anderen Person zu verstehen. Sobald wir also die Handlung eines anderen beobachten, wird in unserem Gehirn ein motorisches Schema aktiv, das auch zuständig wäre, wenn wir selbst die Handlung ausgeführt hätten.

Dieses System der Spiegelneuronen bietet die neurobiologische Basis, um überhaupt in nachvollziehbaren Dimensionen leben zu können. Ob wir uns auf einer starkbefahrenen Autobahn, in einer ausverkauften Kinovorführung oder in einer überlaufenen Einkaufszone befinden – ohne die intuitive Vorwegnahme der Handlungen anderer kämen wir in arge Bedrängnis. Dieses Einfühlungsvermögen ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Zukunftsfähigkeit. Aus neurobiologischer Sicht steht fest, dass keine andere Technik oder Methode den emotionalen Zustand einer anderen Person besser erfasst. Hier haben wir es mit einem Verständnis auf Augenhöhe zu tun, dass das Prinzip der Gegenseitigkeit fast organisch manifestiert. Im Vermächtnis und Verständnis der Spiegelneuronen liegt das nachhaltige Potenzial, die Fremdheit der anderen empathisch zu überwinden.

Wir können sicher sein, dass unser Gehirn neurobiologisch auf gute soziale Beziehungen eingestellt ist. Neben dem in der Evolutionstheorie verankerten Überlebenskampf sehen wir die permanente Suche des Menschen nach Spiegelung und Kommunikation. Dieses Bemühen kennen wir aus der gesamten Biologie. Vor allem die Erbsubstanz ist vom Bakterium bis zum Menschen auf Spiegelung angelegt. Dass wir durch die Wahrnehmung eines anderen Menschen dessen inneren Zustand unwillkürlich simulieren können, gehört zu den großen Wundern des Lebens. Im Alltag vergessen wir leicht, dass die zentralen Werte des menschlichen Lebens auf kooperativem Verhalten aufbauen. Liebe, Fürsorge und Mitgefühl werden in wirtschaftlicher Hinsicht als ‚weiche‘ Faktoren geringgeschätzt. Aber dort, wo sie fehlen, herrscht Leid. Das wird am Extrembeispiel offensichtlich: Menschen, die soziale Isolation, Vertreibung und Gewalt erlebt haben, tragen seelische und körperliche Schäden davon, die das erlebte Leiden noch verlängern.

Auf der anderen Seite begegnet uns ein phänomenales Talent: Wir können uns in das Verhalten anderer nicht nur hineindenken und es nachvollziehen, sondern häufig besitzen wir ein klareres Bild vom Beobachteten als dieser oder diese selbst. Eltern und Freunde können in unseren Gesichtern lesen, manchmal wie in einem offenen Buch. Selbst Fremde entwerfen innerhalb von Minuten eine intuitive Ansicht unserer Person, die uns oftmals in ihren Grundzügen verblüffend nahekommt. In jedem Unternehmen, in jeder Regierung, in jedem Büro, in jedem Verein wissen die Menschen Dinge von- und übereinander, über die nicht gesprochen wird. Nennen wir es Impressionen zweiter Ordnung. Es ist erstaunlich, mit welcher Präzision wir diese vordergründigen Informationen zu einer stimmigen Erkenntnis zusammenfügen können. Wir begegnen unzähligen Menschen, deren Los auf ihrer Stirn geschrieben zu stehen scheint. Von der Hemmung bis zum Größenwahn, von der Unterwürfigkeit bis zur Herrschsucht, es dauert nicht lange, bis wir die groben Züge des Gegenübers erfasst haben.

Das eigene Gesicht und das eigene Benehmen tragen die Spuren aller Wünsche, Enttäuschungen und Inszenierungen unseres Lebens. Eine Unausgewogenheit des Verhaltens, die man selbst eventuell nur vage spürt, kann für einen Außenstehenden unmittelbar erkennbar sein. Die tatsächliche Seelenverfassung perfekt zu überspielen, gelingt nur ganz wenigen. Auch die kleinen Selbstlügen, von denen man meint, sie tief im Inneren vergraben zu haben ,äußern sich in Mimik und Gestik. Nicht nur die eigene seelische Diaspora hat etwas Beängstigendes, auch die unglaubliche Naivität, mit der man sich vor der Einsicht der anderen geschützt fühlt. Erneut offenbaren sich hier zwei zentrale menschliche Schwächen: das Fehlen einer verlässlichen Selbsteinschätzung und die mangelhafte Kenntnis der Funktionsweise unseres Denkens. Im Zuge der Digitalisierung und der Nutzung von Künstlicher Intelligenz sind wir schon jetzt auf dem Wege, technisch ausgelesen zu werden. Unsere Ähnlichkeiten sind so groß und vorhersehbar, dass uns Algorithmen und Software wahrhaft auf den Grund gehen werden. Gott sei Dank bleibt das Unbewusste vorerst eine unüberwindbare Hürde für diese weitreichenden Vermessungen.

Unabhängig davon konstruieren wir bisher die uns umgebende Welt ausschließlich im eigenen Gehirn. Dementsprechend reden wir mit einem Anspruch auf Gültigkeit immer nur von dieser uns eigenen Welt. Die unfassbare Menge an subjektiven Erklärungsdefiziten ändert nichts an der Selbstverständlichkeit unserer Weltsicht. Vor dieser gravierenden Mangelbeschaffenheit erscheint die Künstliche Intelligenz zuweilen als Segen, die uns vielleicht aus dem Tal der Begrenztheit herausführen kann. Dazu müsste es ihr in einiger Zukunft gelingen, all unsere Taten, Worte und Gedanken gesamtheitlich zu scannen, um ein tatsächliches Porträt unseres Seins zu zeichnen. Noch ist auch das Bild, das wir uns von der Person machen, zu der wir uns entwickelt haben, lediglich eine Variation unserer Vorstellung. Denn paradoxerweise sind wir selbst das einzige Wesen, das wir nicht direkt anblicken können. Der Philosoph Frithjof Bergmann hat diesen Umstand wie folgt beschrieben:

„Wie sehr wir unseren Kopf auch drehen und wenden, mit unseren eigenen Augen können wir zwar das, was vor uns steht, ganz wunderbar sehen, aber es scheint uns physiologisch unmöglich zu sein, uns selbst anzuschauen. Was für eine groteske Behinderung ist doch die Tatsache, dass wir wie aus Bosheit den einen Punkt in der ganzen Welt, der für uns der wichtigst eist, nicht erkennen können.“


Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Aus der Zukunft lernen" herausgegeben von Thomas Druyen und Valeska Mangel. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.


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