Einsatzort Verkehrsflugzeug
Notfälle in Verkehrsflugzeugen
CHRISTOPHER NEUHAUS
Notfälle in Verkehrsflugzeugen stellen primär keine klassischen Einsatzindikationen für den Rettungsdienst dar. Dennoch wird medizinisches Fachpersonal immer häufiger im Rahmen privater oder beruflicher Flugreisen mit der plötzlichen Notwendigkeit der Patientenversorgung an Bord konfrontiert und dabei vor besondere logistische und organisatorische Herausforderungen gestellt. Weiterhin haben Notärzte häufig Kontakt mit Notfallpatienten aus Luftfahrzeugen, wenn beispielsweise nach der Landung mit einem medizinischen Notfall (sog. in-flight medical emergencies, IFME) eine notärztliche Versorgung am Boden mit Transport in ein Krankenhaus erforderlich ist. Neben notfallmedizinischem Basiswissen sind bei diesen Notfällen insbesondere spezifische Kenntnisse über flugphysiologische Besonderheiten unerlässlich, um Symptome des Patienten richtig erfassen und bewerten zu können. Insbesondere die Bewegung in der „dritten Dimension“ Höhe kann durch Beschleunigung und atmosphärische Veränderungen von hoher pathophysioloischer Relevanz für den Patienten bzw. dessen Versorgung sein.
Einsatzbedingungen und Risikobewertung
Laut der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation ICAO wuchs das weltweite Passagieraufkommen in den letzten Jahrzehnten stetig bis auf 2,5 Milliarden Personenim Jahr 2012 an, wovon 209 Millionen allein in Deutschland transportiert wurden. Gemäß der demografischen Entwicklung der Industrienationen stieg damit auch der Anteil älterer Passagiere, die am Luftverkehr teilnehmen. Deren wachsende Zahl an Vorerkrankungen, gepaart mit zunehmenden Transportkapazitäten und Reichweiten moderner Flugzeugmuster, erhöhen die Wahrscheinlichkeit für medizinisches Fachpersonal mit einem Notfall an Bord eines Linienflugs konfrontiert zu werden. Trotz einer in Fachkreisen empfundenen und viel diskutierten Häufung von Notfällen in der kommerziellen Luftfahrt, existieren jedoch nur wenig detaillierte Daten über deren genaue Inzidenz, Ursachen und Outcome. Weitestgehend unbekannt sind bisher auch Details zu medizinischen Notfällen von Flugzeugbesatzungen, die trotz strenger und regelmäßiger Kontrollen ihrer flugmedizinischen Tauglichkeit ebenfalls hiervon betroffen sein können.
Aktuelle Studien beziffern die Inzidenz eines medizinischen Notfalls mit ca. einem Notfall pro 10.000 bis 40.000 transportierte Passagiere bzw. 22 bis 33 Zwischenfällen pro Tag im internationalen Luftverkehr.
Diese Zahlen basieren jedoch im Wesentlichen auf retrospektiven Analysen einzelner Airlines, wobei bisher nahezu keine Daten einzelner Länder oder internationaler Datenbanken verfügbar sind. Ein weiteres Problem stellt die Abhängigkeit der Daten von der gewählten Bezugsgröße dar. Einige Studien nutzen die absolute Anzahl gemeldeter Zwischenfälle pro Jahr, wodurch nur ein relatives Risiko beschrieben wird. Andere Autoren beziehen sich auf die Gesamtzahl der geflogenen Stunden bzw. die Anzahl der durchgeführten Flüge. Diese wesentlich solidere Vergleichsmenge ist aber sehr schwer zu erfassen und im Allgemeinen nur als Schätzwert verfügbar, da Daten hierzu von den Fluggesellschaften nur selten publiziert werden. Neuere Studien berechnen die Inzidenz bezogen auf Passagierzahlen als Vergleichsmenge. Die Deutschen Lufthansa AG rechnet aufgrund eigener Daten mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% eines Zwischenfalls pro 24 Interkontinentalflüge.
Daten zu plötzlichen Todesfällen und Herz-Kreislauf-Stillständen in der kommerziellen Luftfahrt sind limitiert. Die International Airlines Transport Association (IATA) geht von 1.000 Fällen pro Jahr aus, die Inzidenz läge somit bei 1 Herzstillstand pro 5–22,6 Mio. transportierte Passagiere. Angaben über Todesfälle an Bord schwanken zwischen 1 pro 3–10 Mio. transportierter Passagiere.
Zur künftigen Verbesserung der Datengrundlage gibt es erste Bemühungen für größere Register von Notfällen an Bord von Verkehrsflugzeugen; die Deutsche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrtmedizin e.V. (DGLRM) stellt hierfür ein Formular zur Verfügung.
Art der Notfälle
Es konnte gezeigt werden, dass ca. 2/3 der Notfälle an Bord von Verkehrsflugzeugen auf einer Verschlechterung vorbestehender Erkrankungen beruhen, wohingegen neu aufgetretene Probleme wesentlich seltener sind. Bei den vorbestehenden Erkrankungen waren Atemwegserkrankungen (21%), kardiovaskuläre Erkrankungen (14%) und abdominelle Erkrankungen (10%) am häufigsten. Über die genauen pathophysiologischen Ursachen der Zustandsverschlechterung ist vergleichsweise wenig bekannt. Insbesondere aber der reduzierte Luftdruck, erniedrigte Sauerstoffsättigung, verminderte Luftfeuchtigkeit, Dehydration und eventuell Stress können Zustandsverschlechterungen begünstigen.
Die Synkope stellt, unabhängig von den Vorerkrankungen des Patienten, den mit Abstand häufigsten Notfall dar, gefolgt von Angina pectoris und unspezifischen kardialen Beschwerden, gastrointestinalen Erkrankungen, respiratorischen Problemen und psychiatrischen Notfällen. Die Inzidenz von Herz-Kreislauf-Stillständen an Bord von Luftfahrzeugen kann als gering angenommen werden (AWMF 2015). Daten der Lufthansa AG aus den Jahren 2010–2011 ergaben im Mittel 8 Fälle pro Jahr. Untersuchungen konnten zeigen, dass in bis zu 89% der Herz-Kreislauf-Stillstände ein Kammerflimmern bzw. eine ventrikuläre Tachykardie vorlag, weswegen das Mitführen von AED bei US-amerikanischen Airlines seit 2004 durch die Federal Aviation Administration (FAA) vorgeschrieben ist. Europäische Airlines sind bisher nicht gesetzlich zur Vorhaltung derartiger Geräte verpflichtet, wobei die US-Standards bereits häufig erfüllt werden. Daten zur Frühdefibrillation an Bord von Flugzeugen zeigen Erfolgsraten von bis zu 91%, wobei in 33–55% der Patienten ein Überleben bis zur Krankenhausentlassung erreicht werden kann.
Therapeutische Strategien: Ausrüstung an Board
Europäische Regularien fordern einen Erste-Hilfe-Kit (First-Aid-Kit, FAK) als Minimalstandard für die Versorgung des Notfallpatienten an Bord, in dessen Handhabung das gesamte Kabinenpersonal geschult und eingewiesen sein muss (EU 2008). Das FAK enthält neben (nicht verschreibungspflichtigen) Medikamenten gegen leichtere Symptome wie Kopfschmerzen, Übelkeit oder Durchfall auch Material zur oberflächlichen Wundversorgung und Schienung, Verbandspäckchen, Binden und Nahtmaterial. In Luftfahrzeugen mit mehr als 30 Sitzplätzen wird zusätzliches Material gefordert, welches in der Regel unter Verschluss gehalten wird und nur medizinischem Fachpersonal zugänglich ist (Emergency Medical Kit, EMK/Doctor’s Kit, DK).
Jede Airline kann durch ihre jeweiligen medizinischen Abteilungen oder Beraterfirmen festlegen, welchen genauen Inhalt Erste-Hilfe-Kits an Bord haben und was zusätzlich mitgeführt wird. Das kann besonders bei der medikamentösen Ausstattung zu großen Unterschieden führen.
Ungefähr die Hälfte der europäischen Airlines stellt orale Schmerzmittel zur Verfügung; mehr als zwei Drittel der Flugzeuge haben antipyretische, antiemetische und antiallergische Medikamente an Bord. Knapp 2/3 der Airlines stellen Material für i.v. Zugänge und Infusionslösungen bereit, ungefähr die Hälfte hält Medikamente zur Narkoseführung sowie Material zur Atemwegssicherung (Laryngoskope, Endotrachealtuben) vor. Opioide werden generell nicht vorgehalten, was nicht zuletzt den aufwändigen Bestimmungen in Bezug auf sichere Lagerung und internationalen Transport geschuldet ist.
Es muss vom behandelnden Fachpersonal jedoch beachtet werden, dass insbesondere auf Luftfahrzeugen im Kurzstreckenverkehr auf viele dieser Ausrüstungsgegenstände verzichtet wird. Beispielhaft sei erwähnt, dass von einem Drittel der europäischen Airlines dort keinerlei Equipment für die Atemwegssicherung bereitgestellt wird. Eine vorausschauende Planung und gute Kommunikation mit der Flugzeugbesatzung ist daher essenziell!
Für die Versorgung des kardialen Notfallpatienten werden von etwa einem Drittel der Airlines EKG- bzw. AED-Geräte mitgeführ. Katecholamine zur Behandlung von Hypotensionen sind vergleichbar selten, während in mehr als zwei Drittel der EMK antihypertensive Wirkstoffe vorhanden sind. Die leitliniengerechte Behandlung des Myokardinfarkts (mit Aspirin, Heparin, Nitraten und Antiarrhythmika) ist aufgrund der heterogenen Ausstattung nicht sicher gewährleistet. Für den Fall einer kardiopulmonalen Reanimation halten nicht alle Airlines Adrenalin in den EMKs vor.
Auszug aus "Notfallmedizin in Extremsituationen"
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