Ersetzen der Evidenzbasierung durch Ideologie
Die Ersetzung der Evidenzbasierung durch Ideologie – Anmerkungen zur politischen Debatte
Franz Knieps
Das Thema Medizinische Versorgungszentren (MVZ) ist erneut in den Fokus politischer Debatten um die Organisations- und Betriebsformen ambulanter ärztlicher und zahnärztlicher Versorgung gerückt. Mussten sich die MVZs nach ihrer bundesweiten Ermöglichung durch das GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003–BGBl. I, 2190 (GMG) anfangs gegen den Verdacht wehren, als Nachfolger von DDR-Polikliniken ein Instrument zur Durchsetzung sozialistischer Staatsmedizin zu sein, richtet sich die Kritik heute gegen die Beteiligung externer Investoren an der Erbringung medizinischer Leistungen im Allgemeinen – populistisch als „Ökonomisierung“ und „Gefährdung der ärztlichen Freiberuflichkeit“ verbrämt – und gegen die Gründung und Ausweitung investorengetriebener MVZs im Besonderen. Dieser Beitrag beleuchtet einige Aspekte der aus Sicht des Verfassers überwiegend Ideologie getriebenen Diskussion und spricht sich – zumindest auf der Basis heutiger Erkenntnisse – gegen weitere gesetzliche Einschränkungen von kooperativen und integrativen Betriebsformen in der gesundheitlichen Versorgung aus.
1.1 Ein Gespenst geht um – Von der Staatsmedizin zur Ökonomisierung
Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Ökonomisierung im Gesundheitswesen. Dieses Gespenst wird zum einen von denjenigen gesichtet, die noch vor Jahren vor der Einführung von Staatsmedizin und vor der Rückkehr kollektivistischer Strukturen nach DDR-Vorbild warnten. Speziell die ärztlichen Körperschaften unternahmen alle Anstrengungen, dass im Rahmen der deutschen Vereinigung das westdeutsche Modell der Einzelpraxis in der ambulanten ärztlichen und zahnärztlichen Versorgung auch in den neuen Bundesländern verankert wurde. Ambulatorien und Polikliniken wurden als Auslaufmodelle in den Übergangs- und Schlussvorschriften des SGB V platziert(daher die Bezeichnung als 311er-Einrichtungen). Zum anderen tummeln sich Politiker und Gewerkschafter auf dem populistischen Feld der Ökonomiekritik. An der Spitze dieser populistischen Zuspitzung steht neuerdings der Bundesgesundheitsminister, der als früheres Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen zwar selbst ganz wesentlich auf die Setzung ökonomischer Anreize zur Gewährleistung von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Einfluss genommen hatte, jetzt aber via Twitter, Talk Shows und Boulevardpresse Rezepte zur „Entökonomisierung“ der gesundheitlichen Versorgung verkündet. Ärztliche Praxen sollten denjenigen gehören, die auf dem Praxisschild stehen und die dort ärztliche Leistungen erbringen. Renditeerwartungen von über 10% seien unethisch und müssten unterbunden werden. Solche Aussagen werden nicht nur im linken Lager mit Begeisterung aufgenommen, werfen aber gleichwohl viele Fragen auf:
- Bedeuten sie den Abschied der auf den Knappheitsgesetzen beruhenden Ökonomie aus dem Gesundheitswesen?
- Gilt die Renditekritik auch für andere Akteure im Gesundheitswesen, speziell für die pharmazeutische Industrie, die über die Höhe der Renditen in der ambulanten und stationären Versorgung nur müde lächeln kann?
- Soll die Leistungserbringung durch Private generell zurückgedrängt oder gar verboten werden oder nur für bestimmte Betriebsformen?
- Lässt sich rechtssicher zwischen gutem und schlechtem Geld bei Investitionen im Gesundheitswesen unterscheiden?
- Lösen Einschränkungen bei der Wahl von Betriebs- und Rechtsformen Versorgungsprobleme oder schaffen und verstärken sie diese?
- Gelten die Grundsätze der Betriebswirtschaft nicht für öffentliche Einrichtungen und für (Einzel‑)Praxen?
Fragen über Fragen, deren Beantwortung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Antworten auf diese und weitere Fragen sind in jedem Fall vom Vorverständnis des Fragestellers und des Antwortenden geprägt und in besonderem Maße Ideologie geprägt. Der Zusammenbruch der internationalen Ordnung durch den russischen Angriffskriegskrieg in der Ukraine, die gefährliche Abhängigkeit der europäischen Staaten von autokratisch geführten Staaten bei Energie, Rohstoffen und Fertigprodukten, die Gesundheitsgefährdungen durch Klimawandel und Pandemien, die sozio-demografische Entwicklung und der Mangel an Fachkräften erschüttern nicht nur das Wirtschafts- und Sozialmodell der Bundesrepublik Deutschland, sondern verstärken auch die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als angeblich die Welt noch in Ordnung war. Im Westen breitet sich Untergangsstimmung wie zuletzt in den 1970er-Jahren aus, die Ostalgiker wollen zumindest in Teilen die DDR zurück. Zugegeben ein oberflächlicher und abstrakter Befund, aber er liefert die Grundierung der aktuellen Debatte um Medizinische Versorgungszentren, denn objektive Befunde geben keinen Anlass und erst recht keine Begründung, Gefahren für Qualität und Leistungsfähigkeit der Versorgung herbeizureden.
1.2 Dürftige Empirie und gewagte Schlussfolgerungen – Gutachterliche Einwände gegen die Neugründung und den Betrieb von MVZs
Zwar konstatieren einzelne Gutachten aus den Abrechnungsdaten, die in der Regel nur nach Betriebsform (Einzelpraxis oder kooperative Betriebsformen), nicht aber nach Eigentumsverhältnissen differenzieren, ein leichtes Plus des abgerechneten Honorarvolumens je Arzt bzw. Zahnarzt für MVZs. Allerdings lassen sich diese Abweichungen nicht allein für Investoren abhängige MVZs feststellen, sondern betreffen allgemein MVZs. Angesichts des nach wie vor begrenzten Anteils von Leistungen, die in MVZs erbracht und abgerechnet werden, spielen diese Abweichungen für das Gesamtsystem der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung keine Rolle und vermögen des- halb auch keine gesetzgeberischen Aktivitäten zu legitimieren, die auf eine Einschränkung der Betriebsformen hinauslaufen. Zu diesem Schluss kommt auch die Fachebene des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) in einem unveröffentlichten Brief vom 27. September 2022 an die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden. In der Anlage zu diesem Brief wer- den die jüngsten Gutachten ausgewertet, die vom BMG selbst (Ladurner et al. 2020) oder von Interessengruppen und Institutionen (Tisch u. Nolting 2021, Sodan 2020; 2021 und weitere nicht veröffentlichte Gutachten) in Auftrag gegeben wurden.
Aus einer Zusammenschau dieser Gutachten lässt sich nicht belegen, dass die behauptete „Ökonomisierung“ überhaupt stattfindet, diese zu nicht indizierten Mengenausweitungen führt und Anzeichen für eine qualitativ bedenkliche Versorgung bestehen.
Diese werden primär von ärztlichen Körperschaften herbeigeredet und ohne solide empirische Grundlage behauptet. In der Generalkritik an MVZs wird ausgeblendet, dass die Verkäufer von Arzt- und Zahnarztsitzen in aller Regel Niedergelassene sind, die zumeist allein nach dem gebotenen Preis der Käufer auswählen. Hier dominieren also gerade die betriebswirtschaftlichen Überlegungen, die an anderer Stelle so heftig gegeißelt werden. Quod licet iovi nonlicet bovi? Häufig spielt für die Wahl des Verkäufers eine Rolle, dass nach Wegfall der Altersgrenze in einem MVZ noch eine Möglichkeit zur Anstellung in Voll- oder – bevorzugt – in Teilzeit besteht. Schließlich häufen sich Meldungen, dass viele Praxen überhaupt nicht mehr an Einzelpersonen zu verkaufen sind. Die Zeiten, wo die Praxisübergabe ein wichtiger Baustein der Altersversorgung war, scheinen vorbei zu sein.
Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht durch eine nähere Untersuchung der räumlichen Verteilung von MVZs. Auch hier folgt diese den allgemeinen Trends. In der ambulanten ärztlichen Versorgung konzentriert sich die spezialisierte fachärztliche Versorgung in Städten und Ballungsgebieten. Die Grundversorgung in der Fläche ist vor allem deshalb gefährdet, weil jahrzehntelang die Weiterbildung in der Allgemeinmedizin vernachlässigt wurde, das Berufsbild des Hausarztes unattraktiv gezeichnet wurde, andere Berufsgruppen aus der Primärversorgung verdrängt wurden und die Vergütung lange hinter den Fachärzten und Fachärztinnen zurückblieb. Diesem Trend haben Politik und Selbstverwaltung durch einen ganzen Katalog von Maßnahmen entgegengewirkt, diesen aber nicht vollständig brechen können. Darüber hinaus lässt sich weder für die ärztliche noch für die zahnärztliche Versorgung feststellen, dass dieser Trend durch kooperative Betriebsformen verstärkt worden ist. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Bedarfsplanung für Zahnärzte keine Zulassungsbeschränkungen enthält und es bei Ärzten und Ärztinnen im Fall von (drohender) Unterversorgung keine Beschränkungen für räumlich und/oder Fachgruppen bezogene Bereiche gibt. Damit wird die immer wieder aufgestellte Behauptung, MVZs gefährdeten die Niederlassung in freier Praxis, ad Absurdum geführt.
Erst recht gilt dies für absonderliche juristische Konstruktionen, die Eingriffsverpflichtungen des Gesetzgebers beispielsweise aus der Gefährdung der Freiberuflichkeit (Sodan 2021) herleiten wollen. Selbst wenn man der Freiberuflichkeit juristische Wirksamkeit beimessen sollte, gibt es keine Zweifel, dass Freiberuflichkeit sowohl für selbständige als auch für angestellte Ärzte/Zahnärzte gilt. Auch ist anerkannt, dass in einer komplexeren Organisation – sei es ein Krankenhaus oder ein MVZ – die Leitungsbefugnisse des Chefarztes bzw. des ärztlichen Leiters nicht die Freiberuflichkeit der diesem unterstellten Mediziner in Frage stellen.
Freiberuflichkeit kann deshalb nur als Weisungsungebundenheit gegenüber politischen, administrativen oder ökonomischen Eingriffen verstanden werden.
Grau ist selbst diese Theorie: Der Versorgungsauftrag der Institution, Qualitätsanforderungen, die Grenzen des Fachgebiets, die Budgetlage der Einrichtung und anderes mehr haben faktisch Einfluss auf ärztliche Entscheidungen, auch in der Einzelpraxis.
Vorstellungen, das Gesundheitswesen sei ein ökonomiefreier Raum oder könne es werden, grenzen an Scharlatanerie. Die Gesetze der Knappheit gelten auch für die Daseinsvorsorge (Knieps 2022). Das musste sogar die Planwirtschaftler im real existierenden Sozialismus einräumen. Erst recht bekommen dies nationale Gesundheitssysteme wie aktuell der National Health Service in England zu spüren. Aber auch riesige Mitteleinsätze wie im fragmentierten Gesundheitssystem der USA gewährleisten weder eine bedarfsgerechte Versorgung noch eine effiziente Allokation der Finanzmittel. Es gibt also keine ordnungspolitische Ausprägung in Reinkultur von Staat, Korporatismus oder Markt. Weder kann der allwissende Staat noch die unsichtbare Hand des Marktes allein Qualität und Bedarfsgerechtigkeit der Versorgung bewirken. Vielmehr ist es generell eine Frage des ordnungspolitischen Steuerungsmixes und der intelligenten und widerspruchsarmen Ausrichtung der Steuerungsinstrumente, die keinesfalls nur in ökonomischen Anreizen bestehen.
❱❱ Es ist daher immer das Zusammenwirken einer klugen Regulierung, einer verantwortungsvollen Selbstverwaltung und des Einsatzes des Wettbewerbs zur Förderung von Qualität und Effizienz sowie die richtige Justierung der Ansätze aus regulatorischen Vorgaben, sektorübergreifender Kapazitätsplanung, leistungs- und bedarfsgerechter Vergütung und Qualitätsanforderungen entscheidend.
1.3 Das Gesundheitswesen unter dem Gesetz der knappen Mittel – Wie sollen Investitionen in die gesundheitliche Versorgung finanziert werden?
Hilfreich ist dazu ein Blick auf die Motive für die Änderung der tradierten Rahmenbedingungen für kooperative Betriebsformen in der ambulanten ärztlichen und zahnärztlichen Versorgung (Wigge 2017). Der Gesetzgeber wurde Anfang unseres Jahrhunderts gleich von mehreren Absichten geleitet. Er wollte jungen Medizinerinnen und Medizinern, die als Berufsanfänger keine Lebenszeitentscheidung für den Kauf einer Einzelpraxis an einem häufig nicht frei zu wählbaren Ort – in der Regel mit einer beträchtlichen persönlichen Verschuldung verbunden – treffen wollten, eine Arbeit als Angestellte ermöglichen. Daher wurde kurz nach dem GMG das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz vom 22. Dezember 2006–BGBl. I S. 3439 (VÄG) beschlossen, das diese Anstellungsmöglichkeit auf alle Praxisformen, also auch auf Einzel- und Gemeinschaftspraxen, erweiterte und zudem Praxisaußenstellen und Filialen ermöglichte. Heute arbeiten mit rund 26.000 etwa 20% der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte als Angestellte. Viele davon praktizieren in Teilzeit, etwa um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder einen gleitenden Übergang in den Ruhestand zu ermöglichen. Gleichzeitig sollte dem Bedürfnis gerade von Einsteigern Rechnung getragen werden, weiterhin wie am Krankenhaus in einem Team zu arbeiten, wie man es in der Weiterbildung gelernt hatte. In vielen Gesprächen mit Medizinstudierenden spielt die Befürchtung eine große Rolle, als Einzelkämpfer mit den Tücken des Alltags überfordert zu sein und in Konkurrenz zu anderen Niedergelassenen zu vereinsamen. Auch wollte man dem allgemeinen Trend zur Ambulantisierung der Medizin Rechnung tragen und die Integration von hausärztlicher und fachärztlicher Versorgung unter einem Dach fördern. Deshalb wurde es nicht nur Vertrags(zahn)ärzten gestattet, MVZs zu gründen, sondern auch Krankenhäusern und allen nach dem SGB V zugelassenen Leistungserbringern. Leider wurden die Gründereigenschaften später wieder eingeschränkt und stehen heute noch weiter zur Disposition. Mit dem VÄG wurden zudem die gesetzlichen Grundlagen geschaffen, dass Ärztinnen und Ärzte in beiden Leistungsbereichen gleichzeitig tätig sein konnten. Schließlich sollte die Fokussierung der Medizinerinnen und Mediziner auf ärztliche Aufgaben und Funktionen erleichtert werden, indem die Anstellung anderer Gesundheitsberufe und vor allem die Erledigung bürokratischer Aufgaben durch spezialisierte Fachkräfte möglich wurden. Gerade die Entlastung von Bürokratie trägt ganz wesentlich zur anhaltenden Attraktivität und der Zufriedenheit mit einer Tätigkeit in MVZs bei.
Gleichwohl werden immer wieder Schauermärchen erzählt, dass in MVZs und speziell in Einrichtungen mit Investorenbeteiligung unzulässiger Druck auf die Beschäftigten ausgeübt werde. Konkrete Nachweise dieser Behauptungen erfolgen in der Regel nicht. Trotzdem hat der Gesetzgeber die Stellung des ärztlichen Leiters gestärkt.
Unabhängig davon gilt für alle Betriebsformen, dass diese wirtschaftlich betrieben werden und sie gegenüber Patienten und Kostenträgern zu Qualität und Effizienz verpflichtet bleiben.
Viel spricht deshalb dafür, dass die Vertreterinnen und Vertreter in den ärztlichen Körperschaften eher aus ideologischen Gründen und aus Furcht vor effizienterer Konkurrenz nie ihren Frieden mit Medizinischen Versorgungszentren im Allgemeinen und der Beteiligung von Nichtärzten im Besonderen gemacht haben. Durchschlagende Argumente gegen die Qualität und Wirtschaftlichkeit der in MVZs tätigen Kolleginnen und Kollegen entbehren fast immer empirischen Belegen. Wer auf die überlegene Arbeitsethik freier Unternehmer verweist, lässt außer Acht, dass die schwerwiegenden und komplexen medizinischen Probleme fast ausschließlich von angestellten und beamteten Ärztinnen und Ärzten im Krankenhaus behandelt werden. Außerdem sollte die Gefahr der Selbstausbeutung nicht heruntergespielt werden. Die jüngeren Generationen stehen der 70 Stundenwoche – zu Recht – skeptisch gegenüber. Schließlich spricht viel dafür, dass viele MVZs aufgrund der kooperativen Binnenorganisation eine Servicequalität für Patientinnen und Patienten bieten, die nicht in jeder Einzelpraxis geboten werden kann. Das zweigt oft schon ein Blick auf das Praxisschild mit den jeweiligen Öffnungszeiten. Dem oft geäußerten Vorwurf, in MVZs könne keine Kontinuität in der persönlichen Arzt- Patienten-Beziehung gewährleistet werden, sind viele Einrichtungen mit innerorganisatorischen Maßnahmen wie zum Bespiel einer persönlichen Bestellpraxis begegnet. Anhaltspunkte für eine Unzufriedenheit der Nutzerinnen und Nutzer von MVZs bestehen nicht. Sie wären im Übrigen schlecht fürs Geschäft.
Selbstverständlich sind auch bei den regulatorischen Rahmenbedingungen für die ambulante Versorgung Verbesserungen auf allen Steuerungsebenen denkbar, aber nicht im Sinne der Vorschläge von auf Konkurrenzschutz bedachten Institutionen. Dies gilt beispielsweise für die Erweiterung der Gründungsbefugnis auf Kommunen, nachdem Kassen(zahn)ärztliche Vereinigungen bereits heute MVZs zur Behebung einer (drohenden) Unterversorgung errichten können. Allerdings bietet die Zentrumsbildung allein noch nicht die Gewähr dafür, dass Ärztinnen und Ärzte sich in diese Regionen oder Stadtteile begeben. Attraktiver könnte es für qualifizierte Pflegekräfte und andere Gesundheitsberufe werden, in oder mit solchen Einrichtungen tätig zu wer- den, wenn ihre Kompetenzbereiche – auch über Delegation und vor allem Substitution hinaus – erweitert würden. Schließlich bietet die anvisierte Krankenhausreform viele Chancen, integrative Einrichtungen der Grundversorgung über die traditionellen Sektorengrenzen und in neuer Form der beruflichen Arbeitsteilung zu schaffen. Dies gilt exemplarisch für neue Primärversorgungszentren (BMC 2022). Selbstverständlich müssen dazu neue Mobilitätskonzepte – wie etwa das Rufbuskonzept der DB Regio – entwickelt und sinnvolle Möglichkeiten der digitalen Transformation genutzt werden. Eine solche Neuausrichtung von Strukturen und Prozessen wird allein aus Steuer- und Beitragsgeldern nicht zu finanzieren sein, sondern bedarf neuer Finanzierungsformen wie den sog. White Bonds (dazu Graalmann et al. 2021) oder des gezielten Investments von berufsständischen Versorgungswerken.
❱❱ Doch werden darüber hinaus auch weiterhin private Investments nötig sein, um mit dem medizinisch-technischen Fortschritt Schritt zu halten. Das gilt insbesondere für die Fachgruppen, deren Erhaltungs- und Erneuerungsinvestitionen die Finanzkraft einzelner Ärztinnen und Ärzte übersteigen, wie zum Beispiel die Radiologie, die Labor- oder die Nuklearmedizin, aber auch die technikintensiven Fächer der fachärztlichen Versorgung.
1.4 Die Positionierung der Bundesärztekammer als Nukleus neuer gesetzgeberischer Einschränkungen
Das sieht auch die Bundesärztekammer (BÄK 2023) grundsätzlich so, die sich mit einem eigenen Positionspapier im Vorfeld der vom Bundesgesundheitsminister angekündigten Gesetzgebung zu Wort gemeldet hat. Dabei schlägt die BÄK vor, das 2015 aufgegebene Merkmal der fachübergreifenden Kooperation wiedereinzuführen. Außerdem sollen in der ambulanten ärztlichen Versorgung – wie schon in der zahnärztlichen Versorgung – Marktanteile von MVZs auf in der Regel 10% begrenzt werden; bei Unterversorgung könnte diese Marke auf 20% ansteigen, bei Überversorgung auf 5% reduziert werden. Die Bildung von Monopolen soll dabei ausgeschlossen werden. Krankenhäuser sollen MVZs nur noch in ihrem Einzugsbereich gründen dürfen. Außerdem müsse ein Bezug zum bestehenden Leistungsangebot des jeweiligen Krankenhauses bestehen, der regelmäßig überprüft werden müsse. Bestehende MVZs sollen nur noch eine Bestandsgarantie von 10 Jahren erhalten. Die BÄK plädiert zudem für eine weitere Stärkung der Position des ärztlichen Leiters, der niemals Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen darf. Die ärztliche Unabhängigkeit müsse auch disziplinarrechtlich durchgesetzt werden. Notfalls müsse bei erheblichen Verstößen dem MVZ die Zulassung entzogen werden. Dazu müsse die Disziplinargewalt der ärztlichen Körperschaften auf nicht-ärztliche Betreiber von MVZs erstreckt werden. Schließlich bekräftigt die BÄK ihre bereits 2020 gegenüber dem Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestags erklärten Forderungen, die Transparenz über die Eigentumsverhältnisse bei MVZs zu verbessern. Instrumente hierzu seien die Einführung eines Transparenzregisters und die Offenlegung auf dem Praxisschild.
Diese Vorschläge der BÄK scheinen weitgehend mit den politischen Vorstellungen des BMG und der Bundesländer übereinzustimmen. Gesetzestechnisch würde die Umsetzung dieser Änderungen allerdings schwierig ausfallen, denn sie betreffen sowohl das Vertragsarztrecht als auch das ärztliche Berufsrecht. Letzteres liegt jedoch nicht in der Kompetenz des Bundes. Inwieweit die Bundesländer deckungsgleiche Landesgesetze verabschieden könnten, wird die Zukunft weisen. Schließlich ist zu erwarten, dass die bestehende Rechtslage und eventuelle Neuerungen in absehbarer Zeit vor einer verfassungsrechtlichen Überprüfung stehen.
❱❱ Wenn schon die Fachebene des zuständigen Ministeriums im Einklang mit den von ihr beauftragten Gutachtern keinen realen Grund zu Eingriffen sieht, dürften die hier skizzierten Beschränkungen kaum zu rechtfertigen sein. Aber das werden die Gerichte zu entscheiden haben.
Eine andere Positionierung kann allerdings geboten sein, wenn sich beispielsweise Techkonzerne, pharmazeutische oder Medizingeräteindustrie samt ihrer Ableger in Start-Ups dieser Betriebsformen bemächtigen, um sachfremde Interessen in der Versorgung durchzusetzen. Deshalb ist eine intensive Marktbeobachtung ebenso notwendig wie die Herstellung von Transparenz über Eigentumsstrukturen und Einflussnahmen in der ambulanten Versorgung.
1.5 Kluge Regulierung anstelle populistischem Aktionismus
Insgesamt muss man leider feststellen, dass die Debatte um die Zukunft moderner Betriebs- und Organisationsformen in der ambulanten Versorgung derzeit ohne belastbare Evidenz und mit bloßen von Konkurrenzangst und rückwärtsgewandter Ideologie getriebenen Behauptungen geprägt ist. Es ist bedauerlich, dass eine populistisch ausgerichtete Politik in Bund und Länder dem Drängen von Interessengruppen und Funktionären nachzugeben bereit ist. Wenn überzogenen Renditeerwartungen im Gesundheitswesen Grenzen gesetzt und sachfremde Einflussnahmen verhindert werden sollen, darf dies nicht auf Investoren gestützte MVZs beschränkt bleiben. Dann stellen sich allerdings Fragen, die weit über das Krankenversicherungsrecht- und Gesundheitsrecht hinausreichen.
Weder lässt sich das Gesundheitswesen als ökonomiefreier Raum begreifen noch ohne private Leistungserbringung effizient organisieren. Auch darf die Evidenzbasierung in der Politik, die doch immer von dem Wissenschaftler auf dem Thron des Gesundheitsministers als Königsweg gepriesen wird, nicht dem Populismus und der Klientelpolitik geopfert werden. Vielmehr bedarf es einer besseren Regulierung, um die Durchsetzung von Bedarfsgerechtigkeit und ärztlicher Ethik vor den betriebswirtschaftlichen Möglichkeiten zu gewährleisten (exemplarisch Robert-Bosch-Stiftung 2021). Eine solche Regulierung setzt jedoch eine fachlich basierte Debatte an der Stelle von unsäglichen Tweets voraus. Die zu erwartenden Gesetzentwürfe zur Krankenhausreform und zur Neuordnung der gesundheitlichen Versorgung bieten jedenfalls die Chance, die versorgungspolitische Bedeutung von Medizinischen Versorgungszentren jetzt und für die Zukunft herauszuarbeiten und den Gesetzgeber von unklugen und gefährlichen Maßnahmen abzuhalten.
Dieser Beitrag ist keine Stellungnahme des BKK-Dachverbands oder gar die abgestimmte Position der Gesetzlichen Krankenversicherung. Er gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors wieder.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Medizinische Versorgungszentren - Versorgungs- und Unternehmensform mit Zukunft" herausgegeben von Dirk Knüppel, Günter Neubauer und Sibylle Stauch-Eckmann. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.