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Enttäuschter Student revolutioniert Anatomie

Ein enttäuschter Student revolutioniert die Anatomie

Während seines Studiums der Medizin in Paris um das Jahr 1530 wurde der flämische Student Andreas Vesalius (1514–1564) zunehmend unzufrieden mit der damaligen realitätsfernen akademischen Lehre, die in trockenen Vorlesungen bestand. Der junge Vesal wollte sich daher selber Gewissheit über anatomische Details verschaffen, besorgte sich nach Beendigung seines Studiums die Leiche eines Hingerichteten und präparierte dessen Skelett. Dabei stellte er eine ganze Reihe von Abweichungen gegenüber der tradierten Lehre fest. Später erhielt er die Erlaubnis, öffentliche Sektionen durchzuführen, wurde 1537 Professor in Padua und gab schließlich im Alter von 28 seine berühmten sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers heraus. Mit dieser illustrierten ersten systematischen Beschreibung von Körper und Gehirn begründete Vesalius die moderne Anatomie und machte sie zum Fundament der Medizin. Mehrere Gefäße, Drüsen, Knochen, Muskeln und Bänder des menschlichen Körpers sind nach Vesalius benannt.

– Wulf Bertram 

Anatomie: Auch in Zukunft eine Mischung aus dreidimensionalem Verständnis und haptischer Erfahrung, nur mit viel mehr digitalen Elementen und Möglichkeiten

FRIEDRICH PAULSEN

Andreas Vesalius war natürlich nicht der Erste, der anatomisches Wissen „visuell erfahren“wollte und sich angeeignet hat, er war aber der Erste, der es in einem Buch „De humani corporis fabrica libri septem“ mit für seine Zeit hochwertigen Holzschnittdrucken für einen größeren Personenkreis verfügbar und somit visuell begreifbar machte (Paulsen et al. 2022).Vor ihm hatten schon die bekannten Anatomen des Altertums Hippokrates von Kos 460–370 v. Chr. und Galen von Pergamon 131–200 n. Chr. Schriften verfasst, die zahlreiche anatomische Details berücksichtigten (s. Kap. I.5).Viele mehr oder weniger bekannte Anatomen folgten, wie Mondino di Luzzi (1270–1326), der die Leichenpräparation in den Anatomieunterricht einführte und dazu ein Buch herausbrachte, allerdings ohne Abbildungen. Und natürlich Leonardo da Vinci (1452–1519), der ein Meister der visuellen Darstellung von durch ihn selbst präparierten Körpern war. Leonardo stellte zwar sehr viele detaillierte Zeichnungen her, sein geplantes Anatomiebuch wurde aber nie fertig und es blieb bei einer Sammlung anatomischer Skizzen. So war es dann Andreas Vesal, der mit seinen bebilderten Büchern die damalige medizinische Welt beeindruckte. Die Abbildungsqualität wurde über die Jahre bis Jahrhunderte immer besser und es wurden Farbkolorierungen möglich, die schwarz-weiß Abbildungen ablösten (Paulsen at al. 2022). 

Anfangs waren die Anatomiebücher für Studierende der Medizin nicht erschwinglich, da sie einfach zu teuer waren. Erst Mitte des19. Jahrhunderts war die Buchherstellung so weit fortgeschritten, dass Anatomiebücher auch für Studierende möglich wurden und in ausreichender Menge verfügbar waren. Neben vielen anderen Innovationen dieser Zeit, wieder ersten schmerzfreien Operation unter Narkose (1846 im Massachusetts General Hospital), führte die dadurch immer bessere Kenntnis der Anatomie dazu, dass immer mehr Erkrankungen besser verstanden wurden und chirurgisch und interventionell auch immer mehr versucht wurde (Thorwald 1956). Dieses Jahrhundert führte zur modernen Chirurgie mit vielen dramatischen Höhepunkten, aber auch vielen schicksalhaften Niederlagen. Auch die Anatomie entwickelte sich in dieser Zeit von einer deskriptiven Lehre hin zu einer angewandt funktionellen Wissenschaft. Gerade die Interaktion zwischen Anatomen und Chirurgen beförderte die wissenschaftliche Fortentwicklung immens. So war es ab Ende des 19. Jahrhunderts üblich, dass ein Chirurg zunächst zwei oder mehr Jahre wissenschaftlich und in der Lehre in der Anatomie tätig war, bevor er Chirurg wurde. 

„Ärzte ohne Anatomie sind Maulwürfen gleich: sie arbeiten im Dunkeln, und ihrer Hände Tagewerk sind Erdhügel.”

(Friedrich Tiedemann, 1781–1861, Ordinarius für Anatomie in Heidelberg)

Mit der Entdeckung der „X-Strahlen“ durch Wilhelm Conrad Röntgen 1895 kam es im 20. Jhd. über die Entwicklung in der Computertechnologie zu einer Revolution in der Bildgebung des Körpers, die ohne die Kenntnis der Anatomie nicht denkbar wäre (s. Kap. I.31). So wurde die Computertomografie (CT) in den 70. Jahren des letzten Jahrhunderts von Sir Godfrey Hounsfield entwickelt, die Grundlagen der Magnetresonanztomografie wurden bereits 1946 im Zusammenhang mit der Strukturbestimmung komplexer Moleküle beschrieben und kontinuierlich fortentwickelt. Dauerte ein Kopf-CT Anfang der 1990er-Jahre noch an die 30 Minuten, ist heutzutage mit modernen Geräten ein Ganzkörper-CT in weniger als15 Sekunden möglich. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden die Sonografie, die Dopplersonografie, Angiografie, Szintigrafie, Positronenemissionstomografie und diverse weitere Methoden entwickelt, die immer – auch basierend auf den Möglichkeiten der Datenspeicherung und -verarbeitung – weiterentwickelt und verbessert wurden. Ohne ausreichende Anatomiekenntnisse sind alle diese Verfahren nicht beurteilbar. Mit den Verfahren wurden große chirurgische Eingriffe zurückgedrängt und durch interventionelle Verfahren (wie z.B. die Stentimplantation via Herzkatheter) und mikrochirurgische Verfahren z.B. über Endoskope teilweise ersetzt. All diese Verfahren und deren Anwendung wurden oft in Kooperation mit Anatom:innen entwickelt, häufig mit ersten Tests an Körperspender:innen.

Diese rasante Entwicklung setzt sich weiter fort und findet heute auch in der anatomischen Ausbildung Anwendung. So wandelt sich die mikroskopische Ausbildung der Studierenden von histologischen Schnittpräparaten in Histologiekursen am Mikroskop zusehends zu virtuellen Mikroskopierkursen, bei denen die Studierenden mit ihren Smartphones und Tablets auf virtuelle Präparatekästen zugreifen und die Präparate wie unter einem echten Mikroskop hoch- und runter vergrößern können. Diese Entwicklung war schon vor der Coronapandemieweit verbreitet (Paulsen et al. 2010), hat aber durch die Pandemie nochmals einen intensiven Schub erhalten. In naher Zukunft werden histologische Präparate dreidimensional mikroskopierbar sein, indem mittels Software (z.B. HistoDigital®) Schnittserien dreidimensional rekonstruiert werden und den Studierenden somit die Struktur noch weiter verständlich machen (Ali et al. 2020). In dermakroskopischen Anatomie ist die Ausbildung im Präparierkurs aufgrund diverser und häufig mitgeteilter Vorteile nach wie vor das Nonplusultra, aber auch hier wird das Lernen der Anatomie immer mehr durch dreidimensionale Anwendungen basierend auf den fortschreitenden Bildgebungsmethoden und -simulationen (z.B. mittels Cinematic Rendering und KI) ergänzt (Binder et al. 2019). 

Was die Reform des Medizinstudiums, um die es in diesem Buch vor allem geht, ist die unter Vesalius stattgefundene Revolution – zumindest in der Anatomie – nicht nochmals zu erwarten. Anatomiekenntnisse sind damals wie heute in der Medizin absolut essenziell und werden es für Mediziner:innen auch in Zukunft immer sein. Die Anatomie ist heutzutage deutschlandweit fachlich gut aufgestellt. Der Nutzen und die Einzigartigkeit eines Präparierkurses – ganz im Sinne von Vesalius – sind zweifelsohne in der Ausbildung von Mediziner:innen seit Jahrhunderten offensichtlich und nicht weg denkbar, auch nicht unter Sparzwängen, das haben viele Beispiele gezeigt. Die Betreuungs- und Ausstattungsrelationen (Studierende:Lehrende) sind sicher deutlich verbesserungswürdig. 

Die Anatomie stellt nach wie vor eine unabdingbare Voraussetzung für Struktur und Funktion des menschlichen Körpers dar. Ihre klinische Relevanz wird durch die Verknüpfung mit modernen bildgebenden Methoden und der Möglichkeit dreidimensionaler digitaler Simulationen in allen klinischen Fächern gesteigert. Zukünftig werden sich haptisch-digitale Elemente mit dreidimensionalen bildgebenden Methoden vermischen und dadurch ganz neue Möglichkeiten für interventionell und chirurgisch tätige Mediziner:innen und für Studierende eröffnen.

Kernaussagen:

  • Die grundlegende Kenntnis und die haptische Erfahrung von Struktur und Funktion des menschlichen Körpers ist nach wie vor erforderlich für die Behandlung von Patient:innen. 
  • Die Verknüpfung von Anatomie, Chirurgie, sowie interventionellen und bildgebenden Verfahren basieren auf den Entwicklungen der letzten Jahrhunderte und sind exzellente Beispiele für den Nutzen der Verbindung zwischen Mensch und Digitalisierung.
  • Diese Verknüpfung ist Voraussetzung für die Entwicklung vieler neuer Therapieverfahren.

Weitere Persönlichkeiten und Erkenntnisse aus der Medizingeschichte finden Sie in "Heilkunst Reloaded" (Jana Jünger, MME | Wulf Bertram | Konstantin Brass | Anna Friederike Mutschler  | Eckhard Nagel (Hrsg.)

Bildquelle: A posthumous portrait of Andreas Vesalius.Painting by Pierre Poncet (1574–1640), Museedes Beaux-Arts, Orleans/France. URL:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Andreas_Vesalius-Pierre_Poncet.jpg (abgerufenam 19.06.2023). Public Domain



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