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Prävention durch Planetary Health

Die innere und die äußere Natur - Prävention durch Planetary Health

Gustav Dobos und Anna Paul

Natur heilt. Das Kitzeln, wenn man barfuß durch eine nasse Wiese geht, der Duft von Gras und Blättern, das chaotische Muster einer Baumrinde, in dem sich das Auge verlieren kann. Es sind die Sinneseindrücke, die uns erinnern an die Zeit, als wir noch von Wildnis umgeben waren – und so gefährlich sie für uns war, so sehr war sie auch Heimat, denn wir waren Teil von ihr. 

Vielleicht ist es kein Zufall, dass unsere inneren Bilder häufig zu dieser Wildnis zurückkehren, wenn wir meditieren, zur Unendlichkeit des Meeres zum Beispiel. So wie der Atem die äußere Welt mit der inneren verbindet, so sehr berühren uns Sinneseindrücke aus der Natur innerlich – sie senken den Blutdruck, beruhigen die Nerven, heben die Stimmung und beeinflussen das Immunsystem positiv. 

Schon vor 40 Jahren hat das japanische Landwirtschaftsministerium den Begriff „shinrin yoku“ geprägt, übersetzt „mit allen Sinnen in die Atmosphäre des Waldes eintauchen“, was in Deutschland auch als „Waldbaden“ bezeichnet wird. In Asien wird nicht nur Forschung zur heilsamen Kraft der Natur betrieben, es gibt auch Zentren für „Waldmedizin“ und fachärztliche Fortbildung. Millionen Japaner und Koreaner nutzen jedes Jahr die empfohlenen Rekreationsräume, und auch in Deutschland weisen Kurregionen immer mehr „Heilwälder“ aus.

Unsere Sehnsucht nach Natur, das sind archaische Erinnerungen an unsere evolutionären Ursprünge. Denn in der Realität nimmt der nicht vom Menschengemachte Anteil der Biosphäre rasant ab. Eine landverbrauchende statt -erhaltende Land- und Forstwirtschaft, Zersiedelung und Umweltverschmutzung sind die Hauptursachen für einen drastischen Rückgang der biologischen Vielfalt in Europa, der bereits zum Untergang tausender Tier- und Pflanzenarten führte und Lebensräume bedroht. Von den neun planetaren Grenzen, die der schwedische Resilienzforscher Johan Röckström definierte (Rockström et al. 2009), sind drei von neun bereits überschritten (s. Abb. 1). Durch den Klimawandel droht eine Destabilisierung, die andere Bereiche mitzureißen droht – die Biodiversität, der Aerosolgehalt in der Atmosphäre, die Süßwassernutzung, der Landnutzungswandel, die Ozonschicht, die Zufuhr von Nährstoffen wie Phosphor und Stickstoff, die Versäuerung der Ozeane und menschengemachte Schadstoffe wie Atommüll, Schwermetalle, Mikroplastik. 

Die Dynamik der Veränderung der biologischen Bedingungen auf dieser Erde verändert unsere Vorstellung von Gesundheit. Stress, Übergewicht, Krebs, Allergien– alle chronischen Belastungen und manifesten Krankheiten werden von dieser globalen Dimension überschattet, die deutlich macht: Wenn dieser Planet nicht gesund ist, haben auch die Lebewesen auf ihm keine Chance auf ein gutes Leben. Die Rockefeller Foundation und die Lancet Commission on Planetary Health begründeten deshalb das Konzept Planetary Health (Whitmee et al. 2015). Der internationalen Planetary Health Alliance gehören inzwischen über 270 Organisationen in mehr als 50 Ländern an, die ihre Arbeit der planetaren Gesundheit widmen. (s. Abb. 1) 

Abb. 1 Die neun planetaren Grenzen © Steffen et al. 2015

1. Von Sebastian Kneipp zu Planetary Health

In den traditionellen Heilsystemen der Welt war der Zusammenhangzwischen der natürlichen Umwelt und der Gesundheit ihrer Bewohner immer präsent, auch in der deutschen Naturheilkunde. Die Ordnungstherapie, die Pfarrer Sebastian Kneipp (1821–1897) oder der Arzt Maximilian Bircher-Benner(1867–1939) propagierten, war die Basis ihrer Gesundheitslehren. Säulen waren die therapeutische Kraft von Wasser und Pflanzen, Ernährung und Bewegung sowie ein Ausgleich von Ruhe und Aktivität bzw. Umweltreizen. Die Errungenschaften der Mikrobiologie und der bildgebenden Verfahren ließen Erfahrung und ganzheitliche Sichtweisen ein Jahrhundert lang in den Hintergrund treten. Doch seit rund 30 Jahren entdeckt die Wissenschaft die Bedeutung systemischer Sichtweisen wieder. Wissenschaftlich erforscht werden nun die ganzheitlich orientierten Methoden der Naturheilkunde erneut in die Medizin integriert. Dabei spielt der Bereich der Lebensführung, ergänzt um Erkenntnisse und Methoden der Hirnforschung, der Gesundheitspädagogik und -psychologie sowie Anleihen aus der asiatischen Selbstfürsorge (Yoga, TaiChi, Qigong) eine zentrale Rolle. Gemeinsam stellen sie die Mind-Body-Medizin dar (Dobos u. Paul 2019).

So wie die klassische Ordnungstherapie sich zu einemweiterreichenden Konzept, der Mind-Body-Medizin, entwickelt und modernisiert hat, so ist diese dabei, sich in das umfassendere Konzept der Planetaren Gesundheit einzufügen. Im Kern geht es um Resilienz, und die Achtsamkeit als Basiskompetenz ist das verbindende Element zwischen allem. 

Die Klinik für Naturheilkunde an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) war das erste Krankenhaus in Deutschland, das die Mind-Body-Medizin systematisch und kassenfinanziert einsetzte. Sie tut dies seit 2009 in Kombination mit naturheilkundlichen Anwendungen: als Mind Body Medicine in Integrative and Complementary Medicine (MICOM). MICOM versteht Patienten nicht nur als passive Empfänger von Behandlungen, sondern vor allem auch als aktiv Handelnde. Die Mind-Body-Medizin hält dafür Methoden bereit, nach denen die individuellen Bedürfnisse gemeinsam mit den Betroffenen er- und bearbeitet werden. Das Ziel ist die Mobilisierung der individuellen Gesundheitsressourcen. Das geschieht durch Entwicklung und Stärkung von Selbstwahrnehmung, Selbstfürsorge und Selbstverantwortung – körperlich genauso wie emotional, gedanklich, sozial und transpersonal.

2. Naturheilkunde, Achtsamkeit und Lebensstilmedizin

Das MICOM-Konzept, basierend auf den Prinzipien der Achtsamkeit, baut auf dem Modell der Salutogenese auf, wie es von Aaron Antonovsky beschrieben wurde: Dabei geht es um Verstehen, Handhabbarkeit und Sinngebung. Entsprechend wird in dem Essener MICOM-Modell Basiswissen zur Gesundheit vermittelt. Auf dem Boden der Achtsamkeit werden gesundheitsfördernde Verhaltensweisen und Techniken trainiert und schließlich führen Selbstreflexion bzw. Diskussion über die jeweiligen Ziele zum Prozess der Transformation (s.Abb. 2). Nur, wenn das Tun Sinn macht, sind Patienten motiviert für eine Weiterentwicklung im Sinne einer Änderung von Verhalten und Einstellungen. Das Ziel ist eine achtsame Haltung gegenüber sich selbst und der Welt mit gesundheitsförderlichen Veränderungen in den Lebensstilbereichen.

Der erste Schritt liegt in der Wiederentdeckung der Selbstwahrnehmung durch Achtsamkeit. Ein zentrales Thema dabei ist der tägliche Stress, der sich bei den meisten Patienten chronifiziert hat und nicht mehrwahrgenommen wird. Chronischer Stress führt dazu, dass seine Alarmsignale irgendwann vom Organismus abgeschaltet werden, weil sie zu wenig beachtet werden – bis sich dann irgendwann Erschöpfung breitmacht (s. Abb. 3). Der Reizentzug durch Ruhe hingegen führt in den ersten Tagen des Klinikaufenthaltes häufig zu Unruhe, weil die Symptome nicht mehr überdeckt werden. In Gruppensitzungen wird das Thema Stress besprochen, die Patienten machen erste Erfahrungen mit Entspannungsübungen. Ein simples Experiment mit kleinen Biodots, die auf die Haut geklebt werden, zeigt, wie verkrampft die kleinen Blutgefäße sind und macht die Anspannung visuell.

Abb. 2 Der Prozess der Transformation durch MICOM © Anna Paul

Abb. 3 Chronischer Stress

Das naturheilkundliche Behandlungsregime führt in den folgenden Tagen zu vielfachen Berührungen und Körpererfahrungen – durch feuchtkalte Wickel, Morgenbewegung, abendliche Lavendelauflagen, Heilmassagen oder auch Akupunktur oder Neuraltherapie. Hinzukommen Gruppengespräche und Mind-Body-medizinische Übungen, die allesamt die Selbstwahrnehmung stärken. Neben achtsamkeitsbasierten Therapien nach dem MBSR-Programm von Jon Kabat-Zinn kommen dabei weitere entspannungsbasierte und gesundheitsfördernde Ansätze zum Einsatz, so die Relaxation Response nach Herbert Benson und das Lifestyle-Programm von Dean Ornish (Dobos u. Paul 2019).Das naturheilkundlich ausgebildete Pflege-Team unterstützt mit Anleitungen zur Selbstfürsorge. 

Die Reflexion findet in Gruppengesprächen statt. Gemeinsam mit den Patienten finden Ordnungstherapeuten (ein Team aus Psychologen, Gesundheits- und Sozialpädagogen, Ökotrophologen und Sporttherapeuten, alle fachübergreifend geschult) heraus, in welchen Lebensstilbereichen gesundheitsfördernde Veränderungen ersehnt, gewünscht und vielleicht auch für möglich gehaltenwerden. Änderungen in Verhalten und Einstellungen werden nur dann nachhaltig, wenn sie vom Patienten selbst als sinnvoll und umsetzbar erachtet werden. 

Nicht die Überzeugung des Arztes ist der Motor der Veränderung, sondern Einsatz und Wunsch des Patienten. 

Das Ziel ist Gesundheitskompetenz. Nach dem 14-tägigen Aufenthalt werden diese Prozesse in der Mind-Body-medizinischen Tagesklinik vertieft, die zweieinhalb Monate lang jeweils an einem Tag pro Woche stattfindet. Das Gruppensetting unterstützt auch deshalb, weil Betroffene von Erfahrungen aus ihrem Alltagberichten, die jenseits der Fachkompetenz eines Experten liegen. Den Patienten wird dabei deutlich, dass sie Tag für Tag Entscheidungen treffen, die für ihre Gesundheit bedeutsam sind. 

Was hat nun diese innere Bewegung mit der äußeren Natur zu tun? Inwieweit lassen sich mind-body-medizinische Interventionen wie das Erlernen und Einüben von Achtsamkeit nicht nur für das individuelle Wohl, sondern auch für die planetare Gesundheit wirksam machen? Laut der Lancet Countdown Commission, einer internationalen Wissenschaftler-Gruppe, die den Zustand des Planeten im Hinblick auf seine Folgen für das Leben jährlich einem Monitoring unterzieht, ist die Klimakrise die größte gesundheitliche Bedrohung auf dieser Erde (Wattset al. 2015). Sie wird aber gleichzeitig auch als größte Chance für die Gesundheit bezeichnet (Costello et al. 2009). Das leuchtet sofort ein – allein eine Zunahme des nicht-motorisierten Individualverkehrs, fußgänger- und radfahrerfreundliche Wege und grüne Zonen in den Innenstädten als kühle Oasen würden Lebensqualität und Gesundheit auf vielfache Weise stärken.

3. Ernährung in Klimaschutz und Therapie

Ein Lebensstilbereich sticht besonders heraus: die Ernährung. Sie steht im Zentrum der inneren und der äußeren Natur. So vermindert der Verzicht auf Fleisch unter anderem die Zahl der Herzinfarkte, der Darmkrebsfälle oder auch der rheumatischen Leiden. Doch gleichzeitig ist es laut einer umfangreichen Studie der größte Beitrag, den ein Individuum zur Linderung der Klimakrise beitragen kann. Das Thema Ernährung zeigt jedoch auch, wie schwer es ist, Menschen zu einer Änderung ihrer Gewohnheiten zu bewegen – Diabetologen und Kardiologen können ein Lied davonsingen. Das liegt unter anderem daran, dass Vorschriften, so gut sie gemeint sein mögen, am wenigsten geeignet sind, zu Veränderungen zu führen. Essen wird sozial und kulturell gelenkt, es ist wie Lust und Aggression im innersten und ältesten Teil unseres Gehirns verankert. Wird dieser Instinktbereich aktiviert, droht er andere Sektoren abzuschalten, denn der Flucht-oder-Kampf-Impulstoleriert keine störenden Gedanken. 

Emotionsregulation ist ein wichtiger Bestandteil einer erfolgreichen Lebensstilveränderung. Negative Gefühle können instinktives und schädliches Verhalten(für sich selbst wie die Umwelt) auslösen, zum Beispiel Binge Eating oder die Zuwendung zu übermäßig Fettem und Süßem. Achtsamkeitsbasierte Verfahren wie Meditation oder Yogastärken nicht nur die Selbstwahrnehmung solcher Impulse, sondern sie reduzieren Stress und verbessern die Stimmung. Über die Zunahme der grauen Substanz nimmt die fluide Intelligenz zu, die Problemlösungen erleichtert. Achtsamkeitsbasiertes Verhalten ist gleichzeitig klimafreundlich, denn es wirkt dem Drang nach sofortiger Ersatzbefriedigung entgegen – egal, ob es sich um Junk Food, sinnentleerten Konsum oder Reise-Hopping handelt. Insbesondere achtsames Essenschärft die sinnliche Wahrnehmung, ohne zu bewerten. Das verändert die Auswahl von Lebensmitteln und den Vorgang des Essens. Die Gedanken und Gefühle werden dabei bewusst, die Wahrnehmung öffnet ein Tor zur inneren Weisheit von Hunger und Sattsein. 

Eine Folge der Emotionsregulierung ist eine gestärkte Selbstwirksamkeitserwartung. Diese wirkt nicht nur im Sinne eines Placebo-Faktors beschleunigend auf Heilvorgänge. Sie stärkt auch das Rückgrat – zum Beispiel bei einer Nahrungsumstellung und dem Entschluss, keine von der Werbung verklärten Fertigprodukten mehr zu kaufen, sondern andere Entscheidungen – bio, frisch, regional – zu treffen. Das ist einer der schwierigsten Faktoren bei der Ernährungsumstellung, die gewohnte Struktur der Lebensmittelbeschaffung (Supermarkt, Fertigprodukte)aufzugeben. Viele Menschen wollen sich gesund ernähren, aber sie wissen nicht, wie sie mit den gewohnten Attributen wie „günstig“, „viel“ oder „jederzeit verfügbar“ umgehen und wo durch sie diese ersetzen sollen. Das Gefühl bzw. die Erfahrung hingegen, selbst etwas Positives für sich selbst bewirken zu können, unterstützt Verhaltensänderungen. 

Die Harvard Medical School gibt dazu folgende Empfehlungen (Harvard Health Publishing 2016):

1. Halten Sie sich an eine Einkaufsliste, um Impulskäufe zu vermeiden. Berücksichtigen Sie den Gesundheitswert und „Natur-Erhalt-Wert“ (etwa biologisch erzeugt) jedes Artikels.

2. Strukturieren Sie ihren Tagesablauf, planen umsichtig genügend Zeit für das Zubereiten und für das Essen ein, und essen Sie regelmäßig, vermeiden Sie „Snacks“.

3. Kommen Sie mit Appetit an den Tisch – aber nicht mit Heißhunger.

4. Vermeiden Sie Stress und Zeitdruck oder Ärger kurz vor oder während des Essens.

5. Beginnen Sie mit einer kleinen Portion, nehmen Sie einen kleinen Tellerdazu.

6. Nehmen Sie sich vor dem Essen Zeit, um stillschweigend Ihre Dankbarkeit für diesen Genuss auszudrücken.

7. Aktivieren Sie all Ihre Sinne. Achten Sie beim Kochen, Servieren und Essen auf Farbe, Textur, Aroma und sogar die Geräusche, die verschiedene Speisenbeider Zubereitung erzeugen. Spüren Sie den Bestandteilen beim Essennach, vor allem den Gewürzen.

8. Nehmen Sie kleine Bissen. Legen Sie Ihr Besteck dazwischen ab.

9. Kauen Sie gut, bis Sie die Essenz des Essens schmecken können. Sie werden überrascht sein, welche Aromen freigesetzt werden, wenn Sie 30- bis40-mal pro Portion kauen.

10. Essen Sie langsam und sprechen Sie zumindest die ersten fünf Minuten nicht.

11. Geben Sie ihrem Körper und Geist nach dem Essen Zeit, entweder einen kurzen achtsamen Spaziergang in der Natur oder eine Ruhepause (z.B. mit feuchtwarmer Leberauflage).

Vielen Patienten wird bewusst, dass Themen eine Rolle für sie spielen, die über ihre eigene Person hinausgehen. Zwischenmenschliche und transpersonale Dimensionen betreffen neben dem sozialen Umfeld auch ökologische und spirituelle Aspekte von Gesundheit. Umweltmedizinische und ökologische Themen können ähnlich bedeutsam sein wie philosophisch-spirituelle Fragen nach Werten, Wünschen und dem Lebenssinn. Besonders deutlich ist das in der Covid-19-Pandemie geworden, die bei vielen Menschen neben den Risiken von Infektion oder Verschieben von nicht-elektiven Behandlungen die unterschiedlichsten psychosomatischen Leiden hervorgebracht oder aber verschlimmert hat – weil die Pandemie mit Isolation, existenzieller Unsicherheit und vielen Ängsten verbunden war. Mind-body-medizinische Interventionen stärken die Reflexion durch introspektive Methoden und helfender Anpassung an den Wandel. Sie sind, wie einer der Patienten formulierte, ein Fallschirm, auch wenn der Sprung aus großer Höhe getan werden muss. Sie sorgen für „eine dickere Haut“.

4. Ernährung im Krankenhaus: mangelhaft

Die an den KEM gemachten Erfahrungen zeigen, dass das MICOM-Modell sich nicht nur zur Behandlung bestehender Krankheiten bzw. zur Linderung ihrer Symptome eignet, sondern auch zur Sekundärprävention – durch das Erlernen von Methoden der Selbstfürsorge und der erfolgreichen Änderung des persönlichen Lebensstils. Diese Verwandlung nachhaltig zu gestalten, kann die Basis zu jeder Art von Prävention und Resilienzsteigerung werden. In Deutschland wird Prävention häufig noch als gerätemedizinische Kontrolluntersuchung verstanden. Diese können aber Erkundung und Stärkung individueller Ressourcen für Gesundheit sowie die Schaffung von Resilienz, psychisch wie körperlich, nicht ersetzen. Das neue Paradigma der Planetary Health stellt außerdem Forderungen an das Gesundheitssystem, welche die rein individuelle Gesundheitsfürsorge und Abwehr von Krankheit übertreffen – es geht um die Sicherung der Lebensgrundlagen auf diesem Planeten. Dabei spielt der Lebensstil eine, vielleicht sogar die entscheidende Rolle. 

Sämtliche Lebensstilbereiche – Ernährung, Bewegung, Entspannung und Atmung verbinden das Innere des Menschen mit seinem äußeren Umfeld. Die Ernährung spielt jedoch eine ganz besondere Rolle als Katalysator. Essen ist Entspannung, Stressbewältigung, Kräftigung, Genuss, aber auch die Quellevieler Krankheiten –bei jeder Mahlzeit prüft das Immunsystem des Körpers erneut, ob diese Fremdstoffe für den Organismus geeignet sind, und einige davon, zum Beispiel die Laktosetoleranz, werden ihm richtig antrainiert. 

In seiner Bedeutung für die Gesundheit wird das Essen grundlegend unterschätzt– daran ändern auch Trends wie vegane Kost oder vegetarische Ernährung nicht wirklich etwas. Unsere Ernährung hat sehr viel mit Selbstwahrnehmung zutun – das erfährt jeder, der einige Tage lang heilfastet. Fasten tut nicht nur dem Organismus gut und hilft zum Beispiel bei entzündlichen oder Schmerzerkrankungen. Fasten führt schon nach wenigen Tagen zu intensivierten Geschmacksempfindungen und einem anderen Körpergefühl – und es wirkt sich positiv auf die Psyche aus. 

Abb. 4 Die Planetary Health Diet © Kea Blum | Nutri Agent

Im deutschen Gesundheitssystem hat die Ernährung keine besondere Funktion, sie wird höchstens bei einzelnen Krankheiten wie Diabetes oder entzündlichen Darmerkrankungen therapeutisch eingesetzt. Zwar weiß die Medizin um die negative Rolle ungesunder tierischer Fette für das Herz-Kreislauf-System und bestimmte Krebsarten. Aber zum Beispiel im Krankenhaus gilt die Ernährung nur als Kalorienquelle – sie hat keine Gesundheitsqualität, sondern wird kalkuliert wie diverse Gebäudekosten und steht also unter großem Kostendruck. 

Die aktuelle Speiseversorgung in deutschen Krankenhäusern wird über das DRG-System nicht ausreichend finanziert: Im Durchschnitt standen 2019 nur 5,15 Euro pro Patient und Tag für den Wareneinsatz zur Verfügung.

Zusätzlich muss die Kostenstelle für Ernährung unter der Kostenartgruppe 8 mit weiteren 12 sogenannten„ Nichtmedizinische Leistungen“ wie Controlling, IT-Support, Aus-, Fort-,Weiterbildung, Verwaltung, Wäsche, Reinigungsdienste u.a. konkurrieren. Genau das muss sich ändern. 

Ziel muss es sein, durch die Umsetzung einer Planetary Health Diet, die sowohl für die individuelle Gesundheit als auch für die Nachhaltigkeit eine optimale Voraussetzung schafft, die Entkopplung von Verpflegung und Therapie aufzuheben und dafür zu sorgen, dass der Satz von Hippokrates „Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein “wieder für eine moderne Krankenhausernährung, die gleich-zeitig klimafreundlich ist, gilt. Die Universitätsklinik Essen verfolgt das Ziel, im Rahmen eines Green Hospital Projekts möglichst klimaneutral zu werden. Unter Leitung von Prof. Dr. Jochen Werner wurde bereits ein umfangreiches Nachhaltigkeitskonzeptentwickelt, hierbei wird die Transformation der Ernährung eine besondere Rolle einnehmen (Hünninghaus et al. 2022).

Im Gesundheitssektor fehlt außerdem häufig das Wissen, wie man Lebensstilveränderungen initiiert und begleitet. Die emotionale Seite von Essen – das Gefühl von Heimat, der soziale Faktor, die psychischen Aspekte – werden kaum beachtet. Dabei kann man Ernährung sogar gezielt gegen leichte und mittlere Depressionen einsetzen. 

Die Pandemie hat gezeigt, dass chronische Leiden (als Krankmacher und Wegbereiter schwererer Verläufe) nicht mehr länger nur medikamentös behandelt werden können. Es geht um wirksame Prävention und Stärkung der Resilienz. Individuelle Gesundheitskonzepte (z.B. per App) müssen mit Public-Health-Aspekten verbunden werden. Neuartige Wege sind auch für Kostenreduktion und Finanzierbarkeit nötig. Planetare Aspekte werden in Zukunft ebenfalls immer wichtiger werden.

Mitgefühl für sich und andere, Verantwortung gegenüber dem Planeten lassen sich erlernen. Wenn sich unsere Haltung gegenüber der Natur verändert, schafft das neue Handlungsspielräume –gegen die Hilflosigkeit. Selbstwirksamkeit macht stärker. Hier liegt die Chance eines anderen Umgangs mit Gesundheit, eines Ansatzes, der tief im Menschen selbst ansetzt. Dazu zählen das Wieder-entdecken des Ich, die Selbstwahrnehmung, das Wachsen eines neuen Bewusst-seins über die Zusammenhänge der inneren und der äußeren Natur des Menschen und schließlich Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge. Alle Lebensstilbereiche sind davon betroffen, keiner steht für sich allein, und auch Einstellungen, Gedankenmuster, spirituelle Dimensionen sowie Gefühle und das soziale Umfeld spielen eine wichtige Rolle. Achtsamkeit ist die Basis, auf der all diese Dimensionen ruhen.

Praxistipps für die Next Generation Leadership

  • Gesundheit muss im globalen Rahmen der Planetary Health gesehen werden.
  • Achtsamkeit stärkt die Patienten und seine Lebensräume.
  • Ernährung ist ein zentraler Vektor der Transformation.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Mindful Doctor" herausgegeben von Dr. Alvar Mollik. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier


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