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Ein fast perfekter Psychiater

Einige Grundregeln professioneller Performance

FRANZISKA LAMOTT

Im Folgenden werde ich einige Grundregeln professioneller Performance skizzieren, die große Wirkung auf akademischen Bühnen und in wissenschaftlich bestellten Feldern erzeugen. Anhand eines medienwirksamen Falles lässt sich zeigen, wie bedeutsam „Impression Management“ und deren soziale Resonanz ist. Erfolgreiche Selbstdarstellung, die Ergebnis des Zusammenspiels von Akteur und Zuschauer ist, verdeutlicht, dass neben fachlicher Kompetenz kommunikative Fähigkeiten wesentlich sind. Ein solchermaßen verführerisch wirkendes Potenzial weist immer auch auf unbewusste Wünsche und Sehnsüchte der Rezipienten zurück.

Der Fall

Vor einigen Jahren ging ein Fall durch die Presse, der Erstaunen und Empörung, aber auch Vergnügen über die gewitzte Volte des Akteurs hervorrief. Der Ort des Geschehens war die Abteilung eines psychiatrischen Fachkrankenhauses in Sachsen, das einen leitenden Oberarzt angestellt hatte, der alles andere als ein Mediziner war. Einem Postbeamten war es gelungen, sich als Oberarzt anstellen zu lassen. Wie konnte ihm das gelingen? Wie war es möglich, dass er Gutachten für Gerichte verfasste, sich an der Fortbildung medizinischer Kollegen beteiligte und für die Ärztekammer Prüfungen für den Zusatztitel „Psychotherapeutische Medizin und Psychotherapie“ abnahm? Was kann uns das über die Darstellung von Professionalität sagen, über Werte und Normen eines klinischen Feldes, über das Selbstbild einer Profession und über heimliche Sehnsüchte, wenn wir jenen „extrafunktionalen“ Fähigkeiten eines Blenders so begeistert aufsitzen?

Die Kunst der Darstellung

In einem Interview mit Gert Postel, dem es gelungen ist, einen (fast) perfekten Psychiater darzustellen, spricht er über Performance und die Kunst der Überzeugung. 

„Sie müssen in der Lage sei, den Oberarzt darzustellen“ – das dürfte wohl einer der wichtigsten Sätze dieses Interviews sein. Im Zusammenhang mit der Frage nach Professionalität knüpft er an eine sozialwissenschaftliche Perspektive an,die im Gegensatz zum strukturfunktionalistischen Verständnis nicht die fachliche Kompetenz, sondern die Performance, den Vollzug einer Handlung als zentral erachtet. 

Damit nehmen wir das Wie einer sprachlichen Äußerung in den Blick und schenken Prozessen der sinnlichen Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit. Weniger der Inhalt einer Äußerung steht im Zentrum als vielmehr der performative Aspekt einer Sprechhandlung, also deren Vollzug.

Austin hat sich in How to do things with Words (Austin 1979) damit beschäftigt. Der Rückgriff auf ihn interessiert besonders im Hinblick auf die Ziele und Wirkungen eines Sprechaktes. Mittels einer Äußerung wird eine sprachliche Handlung vollzogen (Austin: „illokutionärer Akt“; 1979, S. 116), gegebenenfalls ein kommunikatives Ziel sowie eine Wirkung beim Anderen (Austin: „perlokutionärer Akt“; 1979, S. 119) erreicht. Solche Äußerungen sind nicht wahr oder falsch, sie können entweder gelingen oder misslingen, unangemessen oder passend sein.

Der performative Akt richtet sich an ein Gegenüber, an einen Rezipienten, der mehr oder weniger freiwillig zur Inszenierung von Professionalität  beiträgt. 

Der dem Umfeld des Theaters entstammende Inszenierungsbegriff wurde sowohl von Ervin Goffman (1959/1976), Richard Sennett (1986) als auch von Pierre Bourdieu (1982) aufgenommen. Bourdieus kultursoziologische Lebensstilanalyse über Die feinen Unterschiede liefert darüber hinaus einen Zugang zur Klassenzugehörigkeit über den Habitus (Auftreten, Lebensstil, Sprache und Kleidung) und über den Geschmack. Am „‚Geschmack‘, jenem scheinbar subjektiven Werturteil, erkennt man, im doppelten Sinn des Wortes, die Klasse einer Person“. Geschmack ist also ein wichtiger Bestandteil der Selbstpräsentation, vor allem im akademischen Bereich. 

Das weiß Postel. Sein Repertoire an gestischem, mimischem und körpersprachlichem Ausdruck ist mimetisch dem Akademikertypus entlehnt. Während er spricht, unterstreichter gekonnt im Umgang mit Tabak und Pfeife seine vermeintlich analytischen Fähigkeiten (Freud lässt grüßen), interpunktiert seine Rede kunstgerecht mit Handbewegungen. Er weiß, dass bei der Inszenierung von Professionalität keineswegs Kompetenz, Wissen und Können allein wirksam sind. Diese funktionalen Eigenschaften müssen erst sichtbar und glaubhaft dargestellt und vor dem jeweiligen Publikum überzeugend inszeniert werden. Das weiß er, so jongliert er mit Begriffen des Faches, übt sich, wie er sagt, in „Wortakrobatik“, zitiert Kongresse und gibt sich als Insider akademischer Kulturen aus, indem er scheinbar bedeutsame Namen erwähnt, während er Nachdenklichkeit simuliert und als Denker posiert (Rodin lässtgrüßen). 

Es geht also um die Frage, wie es jemandem gelingt, Andere dazu zu bewegen, ihm Professionalität fraglos zu unterstellen, mit anderen Worten, wie er es schafft, glaubhaft den Eindruck von Professionalität zu erwecken. Um das Gegenüber zu erreichen und für sich zu gewinnen, greift Postel auf Methoden der Überzeugungskunst zurück, die er unter dem Begriff der „Alterozentrierung“ fasst, ein Konzept, das er an die sokratische „geistige Hebammenkunst“ bindet, deren Gold in der Inszenierungsgesellschaft allerdings längst als Talmi in Verkaufs- und Managementschulungen angekommen ist. 

[...]

Erfolgreiches Ankommen

Dass die Selbstinszenierung zum Erfolg führt, setzt voraus, dass der Akteur das Organisationssystem und das Selbstverständnis der Institution, zu der er Zutritt sucht, gut kennt. Das „erfolgreiche Ankommen“ eines Hochstaplers im Alltag eines akademischen Berufsfeldes scheint auf Schwachstellen der Organisation und Institution hinzuweisen. Denn das betrügerische Spiel treibt die impliziten Regeln der Organisation und die zugrundeliegende Matrix der Institution hervor und gibt Hinweise auf unausgesprochene Wunschphantasien, aber auch auf Verletzbarkeiten, Ängste und Immunisierungsbedürfnisse einer innerhalb der medizinischen Welt an den Rand gedrängten Profession. Das wohlwollende Aufnehmen des Vielversprechenden, die Anfälligkeit für die performativen Aktionen eines (fast) perfekten Psychiaters könnte erstens ein Hinweis auf implizite Bedürfnisse der Organisationsmitglieder nach dynamischen Vorbildern sein, die ihnen über narzisstische Höhenflüge zu eigener Aufwertung verhelfen. Dabei bedient das Versprechen größerer Anerkennung und Lebendigkeit schließlich das gleiche Bedürfnis des Hochstaplers wie das seiner unbewusst Mitwirkenden. Das lässt die Inszenierung so authentisch wirken. Es ist zweifelsohne eine halsbrecherische Figur, zum Beweis eigener Wissenschaftlichkeit über die Pseudologia Phantastica, die „Lügensucht im Dienste der Ich-Erhöhung“ (Postel) zu referieren. Also, über die ureigene Problematik in aller Öffentlichkeit wahrheitsgemäß zu sprechen und dabei gleichzeitig so geschickt zu betrügen, dass die eigene Lust bei dieser Täuschung auf die Zuhörer überspringt und deren Faszination im Applaus an den Darsteller wieder zurückkehrt. Wahrlich eine „Folie à deux“ zwischen Betrüger und Betrogenen.

Zweitens könnte das Ankommen des Blenders auch auf Mängel des Systems hinweisen. So ist die Organisationsstruktur des medizinischen Feldes meist durch steile Hierarchien gekennzeichnet (Postel umschreibt den Führungsstil im Interview mit „stramm gestanden“). Man denke an traditionelle Rituale wie die Oberarztvisite, die große Konferenz mit ihren Sitz- und Redeordnungen, in der Diskussionen meist über den Cheflaufen und weniger zwischen Kollegen, die sich profilierend und konkurrierend an der „Futterkrippe des Lobes“ drängen, während ein Großteil der Versammelten stumm bleibt und als Publikum fungiert. Darüber hat Rainald Goetz (1986) in seinem Buch Irre so minuziös berichtet.

Rituale sozialisieren, sichern die Machtstrukturen und dienen der Affirmation bestehender Ordnung, in deren Alltag eine kritische Selbstthematisierung kaum Platz greifen kann. Die zunehmende Schematisierung der Arbeit unter der Flagge der Qualitätssicherung, in der die patientenbezogene Interaktion zugunsten der Dokumentation normierter Arbeitsschritte immer mehr eingeengt wird, führt zur Entfremdung, Vereinzelung und zur Sehnsucht nach mehr kollektiver Lebendigkeit. Die Leistungsanforderungen sind groß, die Anerkennung der Mitarbeiter jedoch klein. Darüberhinaus sind die Aufstiegschancen – besonders im akademischen Bereich – meist durch außen gelenkte Leistungsanforderungen (Publikationen, Impakt-Faktoren, Teilhabe am internationalen Geschäft, Drittmitteleinwerbung) bestimmt.

Drittens sind Kenntnisse über das sich diesen Strukturen verdankende ambivalente Selbstbild der Institution Voraussetzung für das erfolgreiche Ankommen eines Blenders im klinischen Kontext: Wie sehen sich die Mitarbeiter selbst? Wie schätzen sie ihr Ansehen im Kanon der medizinischen Wissenschaft ein? Welche Bedeutung geben sie dem Mangel an Ärzten in ihrem Feld? Wie bewerten sie ihre räumlich-geografische Lage(Stadt/Land, universitäre Anbindung, West/Ost)? Welche gesamtgesellschaftliche Funktion schreiben sie ihrer Institution zu (Stichwort: Verwaltung des Elends, Sammelbecken der Out-Laws)? Welche gesellschaftlichen Maßstäbe für Erfolg machen sie dementsprechend für sich geltend (keine Skandale, keine Ausbrüche)? Welche Behandlungskonzepte herrschen vor?

Die Selbstinszenierung des Hochstaplers bezieht die Ambivalenzen des Selbstverständnisses der Institution und ihrer Mitglieder in seine Performance ein und transfiguriert sie. Er muss die negativ getönten Aspekte des impliziten Selbstbildes der Anderen aufnehmen und in seinen Entwürfen in positive Alternativen transformieren.

Insofern verkörpert ein Darsteller, der mit den Normen und Werten des Systems vertraut ist, mit ihnen spielen kann, den perfekten Bewerber. Einerseits passt er sich mimetisch an, andererseits kann er Neues glaubhaft, scheinbar glaubwürdig, versprechen.

Schlussbemerkung

Vieles davon hat der falsche Doktor beherrscht und hat uns damit auch gezeigt, was wir von einem „richtigen“ Doktor erwarten. Es war kein Kunstfehler, der seiner Laufbahn ein Ende bereitete, sondern ein dummer Zufall: Jemand aus seinem früheren Postler-Leben hatte ihn erkannt. Erst die Entlarvung – so Burkhard Müller (2016) – ermöglicht der Öffentlichkeit, die erfolgreiche professionelle Performanz des Hochstaplers zu bestaunen.

„Nur im Scheitern kann er Ruhm erlangen. Scheitern aber muss er an ganz zufälligen Umständen, die nicht etwa die Qualität seiner Mimikry betreffen, sondern wo jeder sich sagt: Zu dumm aber auch!“ (Müller 2016, S. 28)

So wurde er am Ende enttarnt und verschwand vier Jahre hinter Gittern, um danach ohne Titel mit seinen „Geständnissen eines Hochstaplers“ wiederaufzutauchen. In seinem Buch Doktorspiele (2001), das schon nach kurzer Zeit eine Auflage von 100.000 Exemplaren erreicht hatte, lesen sich die Passagen, in denen er sich mit seinen berühmten Gutachtern im Rahmen seines Prozesses auseinandersetzt, höchst amüsant:

„Als die beiden das erste Mal bei mir im Leipziger Knast zur Exploration erschienen, wollte ich die Situation ein wenig auflockern, indem ich darauf hinwies, dass ich in demselben Besprechungsraum noch vor einem Jahr selbst Probanden für eines meiner psychiatrischen Gutachten exploriert habe. [….] Die beiden verzogen keine Miene. Eisiges Schweigen schlug mir entgegen. Dann, nach einem langen Intervall, beide im Chor: Sie haben nicht exploriert.Was Sie gefertigt haben, sind keine psychiatrischen Gutachten.“ (Postel 2001, S. 122)

Warum, so Postel, er habe sich doch schließlich exakt an das im Handbuch abgedruckte Schema seiner Gutachter gehalten. Natürlich habe er schon damals den Eindruck gehabt, dass dieses Schema ziemlich schlicht gewesen sei. Ein Seitenhieb auf die Profis, die ihm eine „narzisstische Störung“ (Postel 2001, S. 122) attestiert haben.

Wenn Sie sich zum Schluss noch anregen lassen wollen, empfehle ich Ihnen Walter Serners dadaistischen Text Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche,die es werden wollen.


Gekürzte Version - der originale Beitrag stammt aus dem Werk Destruktive Sexualität, herausgegeben von Dr. Nahlah Saimeh.



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