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Notaufnahme: Patientenselbstmanagement

Patientenselbstmanagement mit Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) rund um die Notaufnahme

Melanie Mäder, Dennis Häckl und Martin Blaschka

Digitale Technologien haben die Gesellschaft und das Arbeitsleben in den letzten Jahrzehnten maßgeblich beeinflusst und gehören für den Großteil der Menschen zum alltäglichen Leben. Auch im Gesundheitssektor hat die Digitalisierung in den vergangenen Jahren verstärkt Einzug erhalten – sei es durch innovative Technologien, neue Anwendungsfelder oder auf Gesetzesinitiative hin. Ein prominentes und medial viel beachtetes Beispiel dafür sind Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Durch diese „Apps auf Rezept“ – die mittlerweile Bestandteil des Fünften Sozialgesetzbuchs und damit der Regelversorgung in Deutschland sind – besteht erstmals ein Anspruch der Versicherten und Patient:innen in Deutschland auf eine Versorgung mit digitalen Medizinprodukten. Die Nutzenversprechen der digitalen Gesundheitshelfer sind dabei breit gefächert – von Therapiebegleitung bei Krebserkrankungen und Steigerung von Gesundheitskompetenz im Umgang mit bestimmten Erkrankungsbildern über Suchtentwöhnung bis hin zu verhaltenstherapeutischen Ansätzen zur Therapie von Angststörungen. Doch was bedeuten DiGA für die Notfallmedizin und konkret für den Alltag in den zentralen Notaufnahmen?

Auch hier stellen DiGA eine vielversprechende Chance dar – und das auf verschiedenen Ebenen: Um die Patient:innen in ihrem Selbstmanagement zu verbessern, sie zu befähigen, einfache Hilfeleistungen von akuten Notfällen zu unterscheiden oder ihren Gesundheits- respektive Krankheitszustand nach der Erstbehandlung besser zu managen. Gelingt dies, so könnten dadurch auch Prozesse und nicht zuletzt Aufwände in der zentralen Notaufnahme optimiert werden. Im besten Falle tragen DiGA sogar dazu bei, einzelne Notfälle gänzlich zu vermeiden.


1. Digitale Gesundheitsanwendungen – rechtliche Grundlagen, Antragsverfahren und Anforderungen

Kurz gesagt sind Digitale Gesundheitsanwendungen nach § 33a SGB V Medizinprodukte niedriger Risikoklassen mit einer gesundheitsbezogenen Zweckbestimmung und einer Hauptfunktion, die wesentlich auf einer digitalen Technologie basiert. Mit dem im Jahr 2019 in Kraft getretenem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) und der dort festgelegten Regelungen in §§ 33a und 139e Fünftes Buch Sozialgesetzgebung (SGB V) hat der Gesetzgeber den Anspruch aller gesetzlich Versicherten auf die Nutzung von DiGA festgelegt. DiGA können von nun an durch die Ärzteschaft ebenso wie durch Psychotherapeut:innen verordnet und durch die gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden, weshalb häufig auch von „Apps auf Rezept“ die Rede ist. Darüber hinaus soll durch die Einbindung weiterer Gesundheitsberufe die Telematikinfrastruktur ausgebaut werden. Das DVG sieht dabei Start-ups als Vorreiter dieser digitalen Innovation an und ermöglicht ihnen den Eintritt in den deutschen Gesundheitsmarkt. Die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV), die im Jahr 2020 in Kraft getreten ist, erweitert das DVG um regulatorische Zugangskriterien für den sogenannten „Fast-Track“-Antrag am Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

Um eine schnelle Nutzung innovativer und sicherer DiGA ermöglichen zu können, wurde das „Fast-Track“-Verfahren als ein neuer Weg in die Erstattungsfähigkeit über den GKV-Leistungskatalog etabliert: innerhalb von maximal drei Monaten wird die DiGA anhand von spezifischen Zulassungskriterien, die den Hersteller in Form eines Leitfadens bereitgestellt werden, neutral und wissenschaftlich fundiert bewertet. Zu diesen Zulassungskriterien zählt zunächst die erfolgreiche Zertifizierung als Medizinprodukt einer niedrigen Risikoklasse (I oder IIa) nach der Medical Device Regulation (MDR). Damit ist eine DiGA eine Software oder ein Produkt, dessen Hauptfunktion überwiegend digital ist. Die DiGA muss über eine medizinische Zweckbestimmung sowie über eine CE-Kennzeichnung verfügen. Darüber hinaus werden konkrete Anforderungen an Sicherheit und Funktionstauglichkeit, Datenschutz und Informationssicherheit sowie Qualität (v.a. Interoperabilität) gestellt.


2. Sind Digitale Gesundheitsanwendungen evidenzbasiert?

Eine der wichtigsten Maßgabe rund um den DiGA-Antragsprozess am BfArM ist der Nachweis eines positiven Versorgungseffekts (pVE), der innerhalb der konkreten Versorgungsrealität angesiedelt ist. Hersteller müssen diesen anhand einer wissenschaftlichen, vergleichenden Studie ihrer DiGA und für eine ICD-10 definierte Patientengruppe erbringen. Studien zeigen, dass die Anwendungen höhere Anforderungen an den Nachweis eines positiven Versorgungseffekts erfüllen als es vom BfArM gefordert wird (Mäder et al. 2023). Der pVE kann ein medizinischer Nutzen (mN) und/oder eine patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung (pSVV) sein, denn DiGA bieten vor allem prozessbezogen neue Optionen für eine verbesserte Versorgung. Im Rahmen der pSVV wird angenommen, dass DiGA die erforderlichen Rahmenbedingungen ermöglichen können, sodass Patient:innen in der Versorgung gestärkt und durch Information, Beteiligung und Mitentscheidung in ihren Selbstmanagementkompetenzen verbessert werden.

Positive Versorgungseffekte nach § 8 DiGAV Medizinischer Nutzen (mN)

  • Verbesserung des Gesundheitszustands
  • Verbesserung der Lebensqualität
  • Verkürzung der Krankheitsdauer
  • Verlängerung des Überlebens

Patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung (pSVV; Liste nicht abschließend)

  • Koordination der Behandlungsabläufe
  • Ausrichtung der Behandlung an Leitlinien und anerkannten Standards
  • Adhärenz
  • Erleichterung des Zugangs zur Versorgung
  • Patientensicherheit
  • Gesundheitskompetenz
  • Patientensouveränität
  • Bewältigung krankheitsbedingter Schwierigkeiten im Alltag
  • Reduzierung von therapiebedingten Aufwänden und Belastungen der Patient:innen und ihrer Angehörigen

Sind alle Kriterien erfüllt und liegt ein positiver Bescheid des BfArM vor, so erfolgt eine endgültige Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis. Wurde noch kein positiver Versorgungseffekt nachgewiesen, ist eine vorläufige Aufnahme möglich. In einem Zeitraum von 12 Monaten muss dann im Rahmen einer zuvor genehmigten, detailliert geplanten Erprobungsstudie der erwartete positive Versorgungseffekt nachgewiesen werden.

Die im DiGA-Verzeichnis (vorläufig oder dauerhaft) gelisteten DiGA können von nun an durch Ärzt:innen und Therapeut:innen verordnet werden. Die Verordnung erfolgt aktuell noch auf dem „Muster 16“, welches von den Arztpraxen ebenso für die Verordnung von Arznei- und Hilfsmitteln verwendet wird. Klinik-Ärzt:innen dürfen DiGA bisher lediglich im Rahmen des Entlassmanagements verordnen. Mit dieser Limitation auf das Ende eines Krankenhausaufenthaltes können bei zahlreichen Indikationen die Potenziale eines optimalen Einsatzes von DiGA noch nicht ausgeschöpft werden. 

Für die Abrechnung einer DiGA wurde der einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) um die Gebührenordnungsposition (GOP) 01470 erweitert. Diese wurde extrabudgetär vergütet und mit 18 Punkten bewertet (2 Euro). Ab dem 1. Januar 2023 geht diese GOP in den Versicherten- und Grundpauschalen auf und ist somit nicht mehr gesondert berechnungsfähig. Wegen der unterschiedlichen Vergütungssysteme im ambulanten und stationären Sektor erfolgt für Klinik-Ärzt:innen bisher noch keine separate Vergütung; dies bedarf zunächst einer Übersetzung der EBM-Ziffer in das DRG-System des Krankenhauses oder die Formulierung von Sonderpauschalen. Darüber hinaus können Patient:innen mit einer bereits vorliegenden Diagnose auch eigenständig nach einer für sie passenden DiGA suchen und einen Antrag bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse stellen. Folgende zusammenfassende Kriterien helfen, eine DiGA von anderen, frei am Markt erhältlichen Gesundheitsapps zu unterscheiden:

Beispiele: Was ist keine DiGA?

  • reine telemedizinische Plattformen zur digitalen Zusammenschaltung von Ärzt:in und Patient:in
  • digitale Anwendungen zur Primärprävention
  • Anwendungen, bei denen die Hauptfunktion von einem anderen Therapiebaustein erbracht wird, bspw. von einem Arzneimittel oder regelmäßigen ärztlichen/therapeutischen Beratungen


3. Digitale Gesundheitsanwendungen in der Praxis – Das DiGA-Verzeichnis und hypothetische Anwendungsfälle rund um die Notaufnahme

Alle DiGA, die das Prüfverfahren am BfArM erfolgreich absolviert haben, werden in das DiGA-Verzeichnis nach § 139e SGB V aufgenommen. Das Verzeichnis bildet die Gesamtheit aller Digitalen Gesundheitsanwendungen ab, die für gesetzlich Krankenversicherte erstattungsfähig sind und soll eine vertrauensvolle Nutzung von DiGA durch Patient:innen und Leistungserbringende gewährleisten. Eine hohe Transparenz wird gewährleistet über die Darstellung umfassender Angaben zu: (BfArM Leitfaden 2021)

  • Basisdaten und Informationen zum Medizinprodukt
  • Informationen für Versicherte und Patient:innen
  • Informationen für Leistungserbringende
  • medizinische Fachinformationen
  • technische Informationen

Die erste DiGA-Listung erfolgte im Oktober 2020. Zum Stand 18.04.2023 sind insgesamt 45 DiGA (davon 17 dauerhaft) im Verzeichnis gelistet, welche unterschiedliche Indikationen adressieren und sich in folgende Bereiche clustern lassen (s. Tab. 1): DiGA die speziell für das Setting einer Zentralen Notaufnahme konzipiert wurden, sind aktuell (noch) nicht im Verzeichnis nach § 139e SGB V gelistet. Es existieren jedoch bereits heute vielversprechende Ansätze in der digitalen Gesundheitsversorgung, die diesen Weg zukünftig einschlagen könnten. [...]

Fallbeispiel 1: Vermeidung der Notaufnahme durch DiGA als Diagnosehilfe

Herr Müller (55 Jahre) ist in seinem Garten beim Pflücken der Äpfel von der ersten Stufe der Leiter gestürzt und hat sich dabei mit seiner Hand abgefangen. Er kann allein aufstehen, hat aber Schmerzen in seiner Hand. Da er sehr besorgt um seine Gesundheit ist, sucht er mit seinem Smartphone im Internet nach möglichen Folgen seines Sturzes. Die Vielzahl an Informationen lässt ihn erschrocken feststellen, dass die Hand gebrochen sein könnte. Anstatt seinen Hausarzt um die Ecke aufzusuchen, sucht er sofort die Notaufnahme des örtlichen Kreiskrankenhauses auf.

Das Aufsuchen der Notaufnahme wegen einfacher Erkrankungen und nicht-lebensbedrohlicher Ereignisse stellt eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem in Deutschland dar. Infolgedessen sind die Notaufnahmen häufig überfüllt – ambulante Behandlungen werden durchgeführt, wo eigentlich echte Notfälle hätten behandelt werden müssen. Grund dafür ist vielfach ein nicht ausreichendes Patientenselbstmanagement in Anbetracht mangelnder, falscher oder unübersichtlicher Informationen über Symptome, Erkrankungen und Handlungsoptionen. Gleichzeitig muss aber ebenso sichergestellt werden, dass Patient:innen mit einem echten Notfall nicht zu spät zu einer Behandlung gelangen.

Eine Lösungsmöglichkeit für die genannten Herausforderungen könnten DiGA sein, die das Patientenselbstmanagement über Symptombeurteilungen, beispielsweise einen KI-gestützten Symptom-Checker als Chatbot, verbessern. Mithilfe einer künstlichen Intelligenz können nach der Eingabe bestimmter Symptome individuelle Informationen, Diagnose- und Therapievorschläge gegeben werden; was jedoch keinesfalls eine Diagnosestellung durch einen Arzt/eine Ärztin ersetzt. Auf dieser Basis können allerdings Dringlichkeitsempfehlungen die Patient:innen an die richtige Stelle im Gesundheitssystem weiterleiten – an den häuslichen Medizinschrank, zum/r Hausärzt:in, Fachärzt:in oder in die Notaufnahme. Eine DiGA muss per BfArM-Anforderungskatalog – im Gegensatz zu „Dr. Google“ – dabei auf ausschließlich validierte medizinische Fachinformationen zurückgreifen. Auf Wunsch kann auch die Verbindung zu einem Leistungserbringenden hergestellt werden. Derartige digitale Lösungen sind heute bereits im Einsatz.

Fallbeispiel 1: Lösungsansatz 

Anstatt nach möglichen Diagnosen im Internet zu suchen, hätte Herr Müller mithilfe einer DiGA seine Symptome besser beurteilen können. Da keine sicheren Frakturzeichen – zum Beispiel eine abnormale Beweglichkeit, eine Fehlstellung oder Stufenbildung, sichtbare freie Knochenteile oder eine Krepitation – vorlagen, hätte ein Symptom-Checker Herrn Müller an den Hausarzt verweisen können, der ihn dann gegebenenfalls zur Radiologie überwiesen hätte.

Fallbeispiel 2: Vermeidung der Notaufnahme durch DiGA als Therapiebegleiter

Frau Meier (45 Jahre) arbeitet als Versicherungskauffrau im Außendienst und leidet seit mehreren Jahren an Bluthochdruck, weshalb sie durch ihren Hausarzt medikamentös eingestellt wurde. Aufgrund der anhaltenden Krankheitslage im Unternehmen muss Frau Meier die Kundentermine ihrer Kollegin übernehmen, weshalb sie regelmäßig Überstunden macht. Am Abend ist sie froh, wenn sie zu Hause ist und noch zwei Stunden mit ihren beiden Kindern spielen kann, bevor sie erschöpft ins Bett fällt. In diesem Alltagsstress vergisst Frau Meier mehrere Tage lang ihre Blutdruckmedikamente einzunehmen. Der anhaltende Bluthochdruck – den sie als Kopfschmerz und Stresssymptom interpretiert – führt schließlich zu einer Durchblutungsstörung im Gehirn. Mit dem Verdacht auf einen Apoplex wird Frau Meier mit dem Rettungswagen in die Notaufnahme des nächstgelegenen Krankenhauses eingeliefert.

Für zahlreiche Erkrankungen gibt es in der Theorie die passende Tablette. In der Praxis stellt dies jedoch häufig eine große Herausforderung für die Patient:innen dar. Sie verwechseln „die blaue“ mit „der roten“ Tablette, nehmen ihre Medikamente drei Stunden zu früh oder zu spät ein oder vergessen die Einnahme im Alltagsstress gänzlich. Dies kann gravierende Folgen – zum Beispiel für Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes oder Parkinson – haben. Unerwünschte Nebenwirkungen führen Betroffene vor diesem Hintergrund häufig in die Notaufnahme. Eine Studie hat gezeigt, dass von 10.174 aufgenommenen Patient:innen 6,5% aufgrund unerwünschter Nebenwirkungen die Notaufnahme aufsuchten; bei Patient:innen mit einer dokumentierten Medikamenteneinnahme lag der Anteil bei 12% (Schurig et al. 2018).

DiGA mit integrierten Medikationsplänen und Erinnerungsfunktionen können das richtige und zeitgemäße Einnehmen von Medikamenten ermöglichen und die Selbstmanagementkompetenzen der Patient:innen stärken. Somit bieten sie das Potenzial, die Zahl der Notfälle aufgrund falscher oder unterlassener Medikamenteneinnahme sowie wegen unerwünschter Nebenwirkungen zu reduzieren. Das Führen von digitalen Medikationstagebüchern bietet zudem den Vorteil, dass Vitalwerte lückenlos dokumentiert und direkt an den Behandelnden übermittelt werden können. Menschen mit Bluthochdruck können so beispielsweise festhalten, wie hoch ihr Blutdruck zu welcher Tageszeit war und wie er sich durch die Einnahme eines bestimmten Medikaments veränderte.

Fallbeispiel 2: Lösungsansatz

Da Frau Meier ihr Telefon immer bei sich trägt, um für ihre Kunden und ihre Familie stets erreichbar zu sein, hätte eine DiGA, die auch über eine Erinnerungsfunktion verfügt in Kombination mit einem Wearable, welches den Blutdruck erfasst, rechtzeitig Alarm schlagen und den Apoplex somit verhindern können.

Fallbeispiel 3: Vermeidung der Notaufnahme durch DiGA als Stärker der Patientensouveränität

Frau Lehmann (35 Jahre) leidet an einer bekannten Herzrhythmusstörung, die sich bereits durch Vorhofflimmern geäußert hat – ihr Herz raste, sie bekam ein Engegefühl in der Brust und Panik stieg in ihr auf. Da sie sich im Internet über die Folgen ihrer Erkrankung genau informiert hat, weiß sie um ihr erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt. Dieses Wissen lässt sie in ständiger Angst leben und macht sie zur Dauerkundin der Notaufnahme.

Vorhofflimmern ist eine häufig auftretende Form der Herzrhythmusstörung. Ein systematisches Review zeigt, dass Vorhofflimmern mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt (RR = 1,54 [1,26–1,85]), einer erhöhten Gesamtmortalität (RR = 1,95 [1,50–2,54]) sowie einem höheren Risiko für Herzinsuffizienz (RR = 4,62 [3,13–6,83]) verbunden war (Ruddox et al. 2017). Damit sind derartige Patient:innen häufig Fälle für die Notaufnahme. Aufgrund zunehmender Möglichkeiten der Selbstinformation – beispielsweise im Internet – ist dieses Risiko auch den Betroffenen bekannt, was große Ängste auslösen kann.

Eine Unterstützungsmöglichkeit für derartige Patient:innen können zum einen DiGA in Kombination mit Wearables sein, welche die Detektion von Vorhofflimmern erlauben. Im Kontext einer klinischen Symptomatik können sie die Anamnese unterstützen und die weitere Diagnosestellung beeinflussen. Auf Basis der generierten Daten kann beispielsweise abgeschätzt werden, welche weiteren Maßnahmen (bspw. Art des EKGs) erforderlich sind. Zudem können auslösende Faktoren wie eine starke körperliche Belastung aufgezeichnet werden. Auch hier gilt jedoch: eine ärztliche Beratung kann nicht ersetzt werden. Zum anderen können DiGA über die Vermittlung von Strategien der Kognitiven Verhaltenstherapie sowie die Vermittlung individualisierter Informationen den Patient:innen helfen, ihren Ängsten zu begegnen. Dadurch können sie bestimmte Ereignisse besser einzuordnen und eine informierte Entscheidung treffen: für den Anruf eines Behandelnden oder das Aufsuchen der Notaufnahme.

Fallbeispiel 3: Lösungsansatz

Seit ihrem letzten Besuch in der Notaufnahme trägt Frau Lehmann ein Wearable, das mit einer DiGA verknüpft ist und ihren Herzrhythmus überwacht. Zudem bietet ihr die DiGA einen individuell auf ihre Problematik zugeschnitten Angst-Kurs. In mehreren Lektionen lernt sie den Umgang mit automatischen Gedanken, die hinter ihren Ängsten stecken, lernt ihre Angstreaktionen und körperlichen Symptome besser kennen und führt Übungen zur Achtsamkeit durch. Sie fühlt sich nun sicherer im Umgang mit ihrer Erkrankung, aufkeimender Panik kann sie gut begegnen und Besuche in der Notaufnahme waren seither nicht mehr notwendig.


4. Zusammenfassung: Potenziale einer DiGA für die zentrale Notaufnahme

Mithilfe von DiGA können Patient:innen auf neuartige, digitale Art und Weise therapiert respektive an ihrer Behandlung und ihrem Gesundheitszustand beteiligt werden. Auch im Kontext der zentralen Notaufnahmen bergen die digitalen Anwendungen viele Potenziale und können an zahlreichen Stellen innerhalb der Notfallversorgung ansetzen (s. Abb. 1).

DiGA können bereits an dem Ereignis ansetzen, welches den Besuch der Notaufnahme indiziert. Sie können Patient:innen unterstützen eine aktive Rolle für ihr Gesundheitshandeln einzunehmen und die Adhärenz – beispielsweise in Bezug auf die Umsetzung einer Therapie oder das Einnehmen eines Medikaments – verbessern. Dadurch bieten sie die Möglichkeit Patient:innen zu befähigen, selbst erhöhte Behandlungsrisiken oder unerwünschte Ereignisse zu erkennen und darauf zu reagieren. Die Verbesserung der Patient:innensicherheit sowie die Stärkung der Patientensouveränität durch DiGA kann den Anteil der Notfälle wegen unerwünschter Nebenwirkungen oder nicht eingehaltener Medikationspläne reduzieren. Darüber hinaus können DiGA einen Beitrag für einen erleichterten Zugang zur (richtigen) Versorgung im Notfall leisten. Der status quo der Notfallversorgung in Deutschland basiert auf den drei Säulen (1) ärztlicher Bereitschaftsdienst (2) Rettungsdienst und (3) Notaufnahmen der Krankenhäuser. DiGA können dabei unterstützen, mithilfe von Symptomchecks und Dringlichkeitsempfehlungen die Kompetenzen der Patient:innen zu verbessern, sodass im Notfall die Entscheidung für den richtigen Weg getroffen werden kann.

Weiterhin können DiGA an dem Punkt ansetzen, an dem die Patient:innen in die Notaufnahme kommen und eine Ersteinschätzung der medizinischen Dringlichkeit erfolgt. Über die systematische Dokumentation von Vitalwerten können sie die Koordination von Behandlungsabläufen zwischen der Notaufnahme und den Patient:innen unterstützen. Das Vorliegen von EKG-Daten, die kontinuierlich über eine DiGA in Kombination mit einem Wearable erhoben werden, ermöglicht beispielsweise eine schnellere und genauere Einschätzung des Krankheitsbildes und kann somit im Ernstfall Leben retten.

Auch im Bereich der weiteren Diagnostik können DiGA – vor allem bei chronischen Erkrankungen – einen vielversprechenden Beitrag leisten, indem sie die Überwachung langfristiger Krankheitsverläufe unterstützen. Somit können auch weitere Kontrolltermine besser geplant werden.

Nach der Entlassung können DiGA zu einem besseren Verständnis sowie zur richtigen Umsetzung von Therapieempfehlungen beitragen, indem sie beispielsweise die Vielzahl an zur Verfügung stehenden Gesundheitsinformationen anlassbezogen, zielgruppengerecht und individuell darstellen und somit die Gesundheitskompetenz nachhaltig stärken. Auch für Ärzt:innen können sie zu einem echten Zeitersparnis führen, denn über die partielle Information nach der Entlassung hinaus können sie den Patient:innen als vertiefendes Informationsmaterial an die Hand gegeben werden. Auch die Ärzt:innen-Patient:innen-Kommunikation nach der Entlassung wird über Chat-Funktionen und telemedizinische Elemente leichter möglich sein.

Aktuell sind die Einsatzzwecke im Setting der zentralen Notaufnahme durchaus noch hypothetischer Natur; maßgeblich aufgrund der Beschränkung der Verordnungsfähigkeit auf ambulante Leistungserbringende. Die Verordnung von DiGA im stationären Sektor ist nur über Umwege möglich – bspw. als Entlassrezept oder eine vor- respektive nachgeschaltete Verordnung einer ambulanten Haus- oder Facharzt:ärztin. Doch das muss nicht so bleiben. Verschiedene Gesetzesinitiativen haben den Geltungsbereich der DiGA bereits erweitert; bspw. das Teilhabestärkungsgesetz um eine Erstattungsfähigkeit im Rahmen des SGB IX medizinische Rehabilitation (§ 47a SGB IX). 2022 werden außerdem DiPA – Digitale Pflegeanwendung – mit vergleichbaren Anforderungen und Spezifikationen Einzug in den gesetzlichen Leistungskatalog der Pflegekassen halten. Eine Erweiterung auch für den stationären Sektor scheint unter diesen Vorzeichen nur eine Frage der Zeit zu sein.


Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Das ZNA-Buch - Aufbau, Organisation und Management der Zentralen Notaufnahme" herausgegeben von Christian K. Lackner, Harald Dormann, Sara Sheikhzadeh und André Gries. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.


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