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Patientenzentrierte Versorgung

JÖRDIS MARIA ZILL, STEFAN ZEH und ISABELLE SCHOLL


Einleitung

Der Begriff Patientenzentrierung (engl. patient-centeredness) oder der im deutschen Sprachgebrauch häufiger verwendete Begriff Patientenorientierung wird heutzutage in den meisten Beschreibungen eines qualitativ hochwertigen Gesundheitswesens verwendet. Aber was verbirgt sich eigentlich hinter diesem Schlagwort? Dieses Kapitel gibt einen Überblick zur Entstehung, den Inhalten und der Relevanz des Konzeptes, sowie zum aktuellen Stand der Umsetzung in der Versorgung und zur Bedeutung von Patientenzentrierung in der Integrativen Medizin. Anfang dieses Jahrtausends benannte das damalige Institute of Medicine(IOM) (heute: National Academy of Medicine [NAM]) Patientenzentrierung als eine von sechs Säulen zur Definition von Qualität im Gesundheitswesen und brachte damit das jahrzehntealte Konzept wieder zurück auf die Agenda (Berwick 2002; Committee on Quality of Health Care in America – Institute of Medicine 2001). Bereits in den 60er-Jahren beschrieb die Psychoanalytikerin Enid Balint (1969) Patientenzentrierung als das Verständnis des Patienten als einen einzigartigen Menschen. Der Mediziner George L. Engel (1977) ergänzte das biopsychosoziale Modell, nach welchem kulturelle, soziale und psychologische Faktoren, als auch der Kontext des Versorgungssystems, mit in Diagnosestellung und Behandlung einbezogen werden sollten.Der Quadruple-Aim-Ansatz (Bodenheimer u. Sinsky 2014) in Anlehnung an Berwick et al. (2008) fordert die Konzentration auf vier Ziele zur Verbesserung des Gesundheitswesens:

  1. bessere Patientenerfahrungen in der Gesundheitsversorgung,
  2. bestmöglicher Gesundheitsstatus für alle Bevölkerungsgruppen,
  3. höhere Wirtschaftlichkeit und
  4. bessere Arbeitsbedingungen und Wohlbefinden der Leistungserbringer.

Die Verbesserung der Patientenzentrierung nimmt im ersten Ziel dieses vielbeachteten Konzeptes eine zentrale Rolle ein. Auch in Deutschland hangelte sich das Konzept der Patientenzentrierung hoch auf die Agenda. Seit dem Jahr 2000 werden die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungenfür mehr Bürger- und Patientenzentrierung weiterentwickelt.So wurden in den letzten zwanzig Jahren verschiedene Förderschwerpunkte zur Patientenorientierung ins Leben gerufen.Auf legislativer Ebene wurden 2013 die Rechte der Patienten sowie der Behandelnden in Hinblick auf Patientensicherheit, Patienteninformation und -beteiligung im „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“(Patientenrechtegesetz) verankert (BMG 2013).

Definition

In der Gesundheitsversorgung und Forschung gibt es eine Vielzahl von Definitionen die Patientenzentrierung beschreiben. Sie stimmen vor allem darin überein, dass es sich um die Veränderung von einem traditionellen, paternalistischen und krankheitsorientierten Versorgungsansatz hin zu einem Ansatz in welchem die individuellen Präferenzen, Bedürfnissen und Werten des einzelnen Patienten jede Phase der medizinischen Konsultation, Behandlung undNachsorge lenken (Committee on Quality of Health Care in America – Institute of Medicine 2001). Eine etwas umfassendere Definitionen liefern zum Beispiel Gerteis et al. (1993), oder Mead und Bower (2000). Bei genauerer Betrachtung zeigt eine fehlende Übereinstimmung in den Definitionen von Patientenzentrierung, was die Vergleichbarkeit und Übertragbarkeit der Ergebnisse von wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Konstrukt erschweren. Die semantische Komplexität erhöht sich durch die parallele Nutzung Begriffs der „Personenzentrierung“, beispielsweise von der Weltgesundheitsorganisation. Die beschriebene Komplexität des Begriffs wurde Rahmen einer systematischen Übersichtarbeit von Scholl et al. (2014) adressiert. Es wurden die in derwissenschaftlichen Literatur beschriebenen Konstrukte und Definitionen der Patientenzentrierung identifiziert und in dem Integrativen Modell der Patientenzentrierungzusammengefasst (Scholl et al. 2014). 

Das Modell umfasst drei Bereiche mit jeweils mehreren Dimensionen: 1) Grundprinzipien (grundlegende Eigenschaften der Behandelnden, Behandler/in-Patient/in-Beziehung, Patient/in als Individuum, biopsychosoziale Perspektive), 2) Handlungen und Maßnahmen (Patienteninformation, Patientenbeteiligung an Versorgungsprozessen, Beteiligung von Familienangehörigen und Freunden, Empowermentvon Patientinnen und Patienten, physische Unterstützung, psychischeUnterstützung) und 3) förderliche Faktoren (Integration medizinischer und nicht-medizinischer Versorgung, Zusammenarbeit und Teamentwicklung, Zugang zur Versorgung, Koordination und Kontinuität der Versorgung, Behandler/in-Patient/in-Kommunikation). In einer weiteren Studie wurde das Modell um den Aspekt der Patientensicherheit erweitert (Zeh et al. 2019). In einer Validierungsstudie beurteilten unterschiedliche Experten und Expertinnenaus dem Gesundheitswesen sowie Patientenvertreter und -vertreterinnen alle Dimensionen als sehr relevant für die Versorgung. Dabei wurden die Dimensionen Patienteninformation, Patient als Individuum, Patientenbeteiligung an Versorgungsprozessen, Behandler-Patient-Kommunikation, sowie Empowerment des Patientenunter fünf wichtigsten Bereiche der Patientenzentrierung gewählt (Zillet al. 2015). Das Modell erfüllt somit auf theoretischer Ebene den Anspruch, vorherige Definitionen und Konstrukte der Patientenzentrierung zusammenzufassenund zu integrieren.

Patientenzentrierung in der Integrativen Medizin

Patientenzentrierung wird als fundamentaler Bestandteil für die Arbeit in der Integrativen Medizin angesehen (Maizes et al. 2009; George 2015). In ihrem Mittelpunkt steht die therapeutische Beziehung zwischen Behandler und Patient, der Fokus liegt auf der gesamten Person und ihren Lebensbedingungen und es werden sowohl konventionelle evidenzbasierte wie auch alternative und komplementäre Behandlungsansätze (Complementary and Alternative Medicine = CAM) angewandt. Gleichzeitig haben neuere Ansätze von Patientenzentrierung, die Integration medizinischer und nicht-medizinischer Versorgung (siehe Dimension nach Scholl et al. 2014) im Sinne der Integrativen Medizin ebenfalls als explizite Komponente für eine umfassende Praxis von Patientenzentrierung mit aufgenommen. Die Relevanz von Integrativer Medizinals Teil von Patientenzentrierung mit dem Ziel die Qualität der Gesundheitsversorgung zu verbessern zeigt sich auch in der Umsetzung von Integrativer Medizin zum Beispiel in den Patient-Centered Medical Home Models (Nelson et al. 2017a). Dies kann auch als Reaktion auf die steigende Nutzungvon CAM gesehen werden. Laut des National Health Interview Survey (NHIS) nutzen mehr als ein Drittel der US-Amerikaner CAM und dabei wird der größte Teil der Kosten für die Behandlungen von den Menschen selbst getragen. In Europa nutzt laut einer Studie von 2012 jeder zweite Bürger CAM (DAEB 2012).Ein Einbezug von CAM im Sinne der Integrativen Medizin kann somit auch als Berücksichtigung der individuellen Wünsche und Präferenzen der Patientinnenund Patienten zu einer ganzheitlichen Behandlung gesehen werdenund erfüllt somit die Prämisse des patientenzentrierten Ansatzes.

Ausblick

Die Relevanz des Themas Patientenzentrierung wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln deutlich. Gleichzeitig ist die Umsetzung in der Gesundheitsversorgung bisher unzureichend. Obwohl sich Barrieren und Möglichkeiten der Förderung auf unterschiedlichen Ebenen identifizieren lassen, bleibt letztendlich unklar, wie diese Aktivitäten zusammenspielen müssen, um zu der nötigen Disruption zu führen, die es schafft den Patienten wahrhaftig in den Mittelpunkt der Versorgung zu rücken.

Ein einheitliches Verständnis von Patientenzentrierung, wie es durch das integrative Modell der Patientenzentrierung gefördert werden soll (Scholl et al.2014), kann es Wissenschaftlern und anderen Akteuren im Gesundheitswesenerleichtern, die verschiedenen Aspekte von Patientenzentrierung gleichermaßenzu berücksichtigen und Wechselwirkungen zu erfassen.Eine kontinuierliche Messung der erlebten Patientenzentrierung aus Patientensichtstellt eine weitere Möglichkeit der Förderung dar. Da es bisher angeeigneten global einsetzbaren Messinstrumenten fehlt, beschäftigt sich eine laufende Studie mit der Entwicklung eines Instruments zur Erfassung der 16 Dimensionen von Patientenzentrierung aus Patientensicht (Christalle et al.2018). Hierdurch können Defizite der ambulanten und stationären Versorgunggenau aufgezeigt werden und entsprechende zielgerichtete Interventionenumgesetzt werden, um so die Qualität der Versorgung zu steigern.

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Werk Integrative Medizin und Gesundheit herausgegeben von Benno Brinkhaus und Tobias Esch.


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