Krankenhäuser der Psychiatrie
Krankenhäuser für Psychiatrie und Psychotherapie im gesellschaftlichen Kontext
ARNO DEISTER
Die besonderen gesellschaftlichen Anforderungen
Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie stehen in einem besonderen gesellschaftlichen Kontext. Die Erwartungen der Gesellschaft und der Gesundheitspolitik an die psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken sind umfassend, vielfältig und dabei nicht selten widersprüchlich. Hohe Anforderungen an die Qualität der zu erbringenden Leistungen mischen sich mit einer oft grundsätzlichen Infragestellung der Notwendigkeit und Effektivität psychiatrischen und psychotherapeutischen Handelns. Personen, die in Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie Verantwortung tragen, sehen sich deutlich komplexeren gesellschaftlichen Herausforderungen gegenüber als dies für die entsprechenden Funktionen in der somatischen Medizin gilt.
Im Bereich des Krankenhausmanagements hat dies direkte Auswirkungen auf Diskussionen mit Kostenträgern über Fragen der Budgets und mit der Gesundheitspolitik über die Notwendigkeit und Effizienz des Einsatzes von Ressourcen. Die häufig fehlende Selbstverständlichkeit im Wissen über das Wesen psychischer Erkrankungen führt dazu, dass nicht nur einzelne Maßnahmen, sondern auch die grundsätzliche Sinnhaftigkeit der Behandlung psychischer Erkrankungen infrage gestellt werden. Die komplexe ordnungspolitische Funktion von Psychiatrie und Psychotherapie verstärkt diese Problematik noch zusätzlich. Neben den eher kritischen und skeptischen Einstellungen wird auf der anderen Seite vom Fach Psychiatrie und Psychotherapie häufig erwartet, dass zu grundsätzlichen gesellschaftlichen Fragen und Themen Stellung bezogen wird. Dies gilt auch dann, wenn diese Fragestellungen mit dem Kernbereich des Faches – nämlich der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen – wenig zu tun haben. Die Einflüsse des Faches auf gesellschaftliche und politische Entscheidungen sind nicht selten beträchtlich, was in der Konsequenz zu einer besonderen Verantwortung der Entscheidungsträger führt. Die Gefahr der Instrumentalisierung von Psychiatrie und Psychotherapie für Problembereiche, die durch die Gesellschaft nicht verstehbar oder lösbar erscheinen, ist dabei stets gegeben. In Einzelfällen ist auch ein Missbrauch der Kompetenzen von Psychiatrie und Psychotherapie nicht auszuschließen. Das Management psychiatrischer und psychotherapeutischer Krankenhäuser kann dann zeitweise eine Gratwanderung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Problembereichen darstellen.
Psychische Erkrankungen und Störungen haben grundsätzlich und oft langfristig Einfluss auf den gesellschaftlichen Kontext. Mit diesen Erwartungen geht regelhaft auch eine Einschränkung der Teilhabe an sozialen Prozessen einher. Psychische Erkrankungen und das gesellschaftliche Umfeld stehen in einer Wechselwirkung zueinander, die einerseits zu Stigmatisierung oder gar Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen beiträgt, auf der anderen Seite zu Ängsten und Belastungen der Bevölkerung (auch in finanzieller Hinsicht) führen kann. Menschen mit psychischen Erkrankungen fällt es krankheitsbedingt oft schwer, sich für ihre eigenen Bedürfnisse und Belange adäquat einzusetzen. Angehörige übernehmen evtl. einen Teil dieser Aufgaben. Es bleibt aber auch eine wesentliche Herausforderung der in diesen Bereichen Tätigen, diesen Aspekt psychischer Erkrankungen mit in ihr professionelles Handeln einzubeziehen. Im klinischen Kontext bilden sich die Wechselwirkungen mit dem gesellschaftlichen Bereich in dem Bestreben ab, durch psychosoziale Maßnahmen wie Milieugestaltung, Psychoedukation und Empowerment einen umfassenden Prozess der Genesung (im Sinne von Recovery) anzustoßen und zu unterstützen.
Wandel der Gesellschaft und die Krankenhäuser für Psychiatrie und Psychotherapie
In der Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich das Fachgebiet inhaltlich und konzeptuell noch im Anfangsstadium. Für die Versorgung von Menschenmit psychischen Erkrankungen in Krankenhäusern galt das in besonderer Weise. Im Vordergrund stand die Vorstellung, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen ein heilsames Milieu außerhalb des alltäglichen Lebens- und Arbeitsumfeldes benötigen. Weitgehend geografisch und damit auch sozial isolierte psychiatrische Großkrankenhäuser abseits der größeren Städte und für die engsten Bezugspersonen kaum erreichbar, waren die heute in einigen Regionen noch sichtbare Konsequenz (Brink 2010). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es die ersten Bestrebungen zu differenzierteren Versorgungsformen, die auch den Gedanken der Gemeindenähe umfassten. Die in der Zeit des Nationalsozialismus pervertierten Ideen einer genetisch definierten „Minderwertigkeit“ von Menschen mit psychischen Erkrankungen haben Reformbewegungen schon langfristig im Ansatz erstickt und in das Gegenteil verkehrt. Der Entzug der Menschenwürde und jeglichen Lebensrechtes von Menschen mit psychischen Erkrankungen hat in der Zeit bis 1945 zu hunderttausendfacher Ermordung von Menschen mit psychischen Erkrankungen geführt. Der gesellschaftliche Umgang mit psychiatrischen Krankenhäusern war dadurch für lange Zeit in massiver Weise belastet und geprägt.
Psychiatrische Großkrankenhäuser mit häufig deutlich mehr als 1.000 Betten und äußerst geringer Personalausstattung haben zu durchschnittlichen Verweildauern geführt, die um 250 Tage pro „Fall“ lagen. In der Phase der „verwahrenden Anstaltspsychiatrie“ bis etwa 1975 war der gesellschaftliche Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen von Ausgrenzung geprägt. Seit der danach einsetzenden gesellschaftlichen und politischen Diskussion über die Psychiatrie und der daraus resultierenden Psychiatrie-Enquète haben sich die gesellschaftlichen Vorstellungen von psychischen Erkrankungen und der Umgangmit den betroffenen Menschen langsam verändert. Die 1991 eingeführte Psychiatrie-Personalverordnung(Psych-PV) hat erstmalig verbindliche Personalstandards für Krankenhäuser vorgegeben und zu einer deutlichen Zunahme von psychiatrischpsychotherapeutischer Kompetenz in den Krankenhäusern geführt. Als wesentliche Folge der Psychiatrie-Enquete kam es zur Gründung zahlreicher psychiatrisch-psychotherapeutischer Abteilungenund Kliniken an Allgemeinkrankenhäusern sowie zu einer teilweise drastischen Verkleinerung und zur Regionalisierung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkliniken. Parallel dazu wurden Tageskliniken und Institutsambulanzen weitgehend flächendeckend eingeführt. Die zunehmende Gemeindenähe der Versorgung hat auch zu einer veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmung von Menschen mit psychischen Erkrankungen geführt. Die Entwicklungstendenzen im medizinischen Versorgungssystem insgesamt (insbesondere auch die Pauschalierung der Finanzierung durch die DiagnosisRelated Groups; DRG) haben zu einer zunehmenden Ökonomisierung von Versorgungsstrukturen, Behandlungsprozessen und Vergütung seit Beginn der 2000er-Jahre in Deutschland geführt.
Die aktuell geführte Diskussion über die weitere Entwicklung der Vergütung bildet auch die wesentlichen Trends der Versorgung ab. Die zukünftige Struktur eines Hilfe- und Versorgungssystems für Menschen mit psychischen Erkrankungen in Deutschland sollte sich an den gesellschaftlichen Erwartungen einer verstärkt an den individuellen Bedürfnissen der betroffenen Menschen orientierten, flexiblen, settingübergreifenden und vernetzten Versorgung ausrichten. Die „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“(UN-BRK), die in Deutschland geltendes Recht ist, beschreibt wesentliche Anforderungen an die Gesellschaft, die auch im Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen gelten (BMAS 2011). Dazu gehört u.a. das Recht von Menschen mit Behinderungen auf ungehinderten und ungeschmälerten Zugang zum Gesundheitssystem, das Anbieten von Gesundheitsleistungen, die speziell von Menschen mit Behinderungen benötigt werden und das Angebot von möglichst gemeindenaher Versorgung.
Auszug aus dem aktuellen Titel "Krankenhausmanagement in Psychiatrie und Psychotherapie"
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