#Hippokratischer Eid 2.0?
LUCAS JOSTEN UND CHRISTOPH MEYER-DELPHO
Das deutsche Gesundheitssystem zählt in der Wahrnehmung vieler Experten und Patienten zu den leistungsfähigsten, qualitativ hochwertigsten und sozial gerechtesten Versorgungssystemen weltweit. Gleichzeitig besteht über nahezu alle (standes‑)politischen Lager hinweg seit Jahren Konsens darüber, dass die aktuellen und zukünftigen Versorgungsanforderungen weitreichende strukturelle Reformen notwendig machen, um dessen historisch gewachsene Stärken erfolgreich in den nächsten Evolutionsschritt überführen zu können. Positive, disruptive Veränderungen inder Gesundheitsversorgung sind untrennbar mit dem integrierten Einsatzinnovativer digitaler Technologien verbunden. Zugleich lässt sich an wohl keinem anderen Beispiel die gesellschaftliche Relevanz der Digitalisierung besser darstellen. Sei es, weil die zeitgemäße intersektorale Zusammenarbeit von Leistungserbringern digitale Vernetzung erfordert, weil Remote-Verfahren wie die Telemedizin essenziell für die Sicherstellung flächendeckender Versorgung ist oder weil künstliche Intelligenz und die automatisierte Datenanalyse bessere Ergebnisse in Diagnostik und Therapie ermöglichen als dies eineinzelner Arzt kognitiv je zu leisten im Stande wäre.
Trotz dieses unbestrittenen Potenzials sind die Zulassung und Etablierung innovativer digitaler Technologien seit Jahrzehnten nur in unklaren, unsicheren, aufwändigen und ergebnisoffenen Verfahren für alle beteiligten Akteure geregelt. Dies überrascht, da das deutsche Gesundheitssystem mit jährlich steigenden Ausgaben von inzwischen mehr als eine Milliarde Euro pro Tag per se nicht als unterfinanziert oder innovationsfeindlich bezeichnet werden kann (Statistisches Bundesamt 2018). Kosten und Investitionen laufen bislang jedoch am Megathema der Digitalisierung weitestgehend vorbei. Eine fatale Schere geht auf: Einerseits ist der Einsatz digitaler Technologien erforderlich, um die Wirksamkeit des Gesundheitssystems zukunftsfähig zu machen, andererseits wird die Digitalisierung im Zuge der Spannungsfelder innerhalb der Selbstverwaltung förmlich zerrieben. Im weltweiten Vergleich finden digitale Innovationen inzwischen kontinuierlich und flächendeckend den Weg in die Versorgung. Für „Digitalisierungswillige“ in Deutschland existiert zumeist nicht einmal ein Trampelpfad, geschweige denn ein definierter Zulassungsweg ins System. Das deutsche Gesundheitssystem ist und bleibt in puncto Vernetzung und Durchdringung digitaler Technologien weiterhinein Schwellenland und landet im internationalen Vergleich auf dem vorletzten Platz (Thranberend u. Kostera 2018).
Eine Debatte, die in diesem Zusammenhang häufig vernachlässigt wird ist die der ethischen- und gesellschaftlichen Konsequenzen für den Patienten, bedingt durch die eingeschränkte Teilhabe an digitalen Innovationen. Beginnend bei Fragen der digitalen Gesundheitskompetenz als Voraussetzung des mündigen und selbstbestimmten Patienten bis hin zur Datensouveränität, die sich bei exponentiellen, vernetzten Daten mehr denn jestellt. Hinzu kommt die ethisch-moralische Verpflichtung, Patienten zeitnah am medizinisch-technologischen Fortschritt partizipieren zu lassen, um die ihnen zustehende (ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche) Versorgung zu ermöglichen (SGB V § 12 Wirtschaftlichkeitsgebot). Eines ist gewiss: Überall dort, wo es zu Diffusionshemmnissen der Digitalisierung ins deutsche Gesundheitssystem kommt,bleibt auch der Patient auf der Strecke, der vom Nutzen der Innovation profitieren sollte. Dies ist umso bedauerlicher, da es keinen Mangel an Erkenntnissen gibt, die eine breite und zeitintensive Diskussion um den generellen Nutzen der Digitalisierung für Patienten, Leistungserbringer und Kostenträger begründen würden. Vielmehr hat das System trotz nachgewiesener Evidenz der Digitalisierung ein massives Umsetzungsproblem (vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung 2018). Das deutsche Gesundheitssystem steht fortan in der ethisch-moralischen Verpflichtung die Digitalisierung im Sinne der Patienten nicht weiter auszubremsen, weil sie, so wie es der hippokratische Eidseit über 2.000 Jahren fordert, „zum Nutzen des Kranken“ ist.
Ethische Eckpfeiler einer nachhaltigen Digitalisierung
In der Medizinethik wird häufig vom sogenannten „Georgetown-Mantra“gesprochen, das – aufbauend auf dem hippokratischen Eid – vier Pfeiler ethischen Handelns beschreibt (Beauchamp u. Childress 2008). Nachfolgend wird dieses im Kontext der Digitalisierung eingeordnet und interpretiert.
- Pfeiler I, Selbstbestimmungsrecht des Patienten, d.h. das Recht, die Verantwortung und auch die Freiheit jedes Menschen, zu entscheiden, wie er mitseiner Gesundheit, aber auch Krankheit umgeht: Der Zugang zu den eigenen Gesundheitsdaten (z.B. der Krankengeschichte) ist essenziell für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eines Patienten. Bislang sind diese Daten jedoch vielfach nur fragmentiert, analogoder überhaupt nicht zugänglich. Eine vollständige und zentrale Patientenakte wäre heute technisch keine unüberwindbare Hürde mehr. Datensouveränität, bedingt durch die Entscheidungsgewalt über diese Patientenakte, ist die Grundvoraussetzung für Patientenautonomie und führt, aus ethischer Sicht, zur Stärkung des Patienten. Ein Paradigmenwechsel, der die bisherige Rolle des Arztes in seinem Selbstverständnis verändert, gleichzeitig aber dem neuenärztlichen Gelöbnis entspricht (Weltärztebund 2017). Die Digitalisierung ist in diesem Sinne ein Mittel zum Zweck, das den Patienten vom Objekt zum Subjektseiner eigenen Gesundheit werden lässt. Inklusive eines besseren Gesundheitsbewusstseins und erhöhter Compliance.
- Pfeiler II, Schadensvermeidung des Arztes, d.h. die Pflicht, dem Patienten keinen unnötigen Schaden zuzufügen: Schadensvermeidung und Verhältnismäßigkeit gelten nicht nur bei Therapien, sondern auch bei den Themen Datenschutz und Datensicherheit digitaler Innovationen. Wenn dem Arzt dank Vernetzung eine durchgehend digitale Verlaufsdokumentation zur Verfügung steht, hilft das ihm und dem Patienten gleichermaßen bei Anamnese und Diagnostik. Gleichzeitig erhöht sich durch die Vernetzung das Risiko eines großflächigen missbräuchlichen Zugriffs, was alle an der Technologie und digitalenDokumentation beteiligten Akteure gleichermaßen in die Pflicht nimmt. Digitalisierung birgt immer auch das Risiko eines Kollateralschadens den es, anders als bei Papier und Fax, aufgrund der Reichweite, richtig abzuwägen und unbedingt zu vermeiden gilt. Außerdem gilt es die Frage der Datensparsamkeit (Verhältnismäßigkeit) im Einzelfall zu beantworten, denn nicht alle Patienteninformationen müssen im Sinne des Patientenwohls von jedem Leistungserbringer gleichermaßen eingesehen werden können.
- Pfeiler III, Wohl des Patienten, d.h. die Verantwortung des Arztes, Therapien ausschließlich im Sinne des Patienten durchzuführen: Um das Wohl des Patienten zu erhalten, müssen Ärzte möglichst früh und präzise Erkrankungen erkennen und therapieren. Gerade bei chronisch Erkrankten findet jedoch der lückenlose Behandlungsverlauf aufgrund von Sektorenbrüchen und der Existenz analoger Kanäle zu oft unzureichend statt. Erprobte Technologien wie die Telemedizin sind keine technische Spielerei, sondern beweisen, dass sie einen positiven Effekt auf das Patientenwohl haben. Eine von der Charité – UniversitätsmedizinBerlin durchgeführte Langzeitstudie (Fontane-Studie BMBF 2018) mit 1.500 an chronischer Herzinsuffizienz leidenden Patienten konnte zum Beispiel nachweisen, dass die telemedizinische Mitbetreuung eine signifikante Lebensverlängerung erreichen und zugleich Krankenhausaufenthalte reduzieren konnte. Diese und viele weitere Studien und Projekte bestätigen, dass aus ethischer Sicht die Pflicht besteht, telemedizinische Anwendungen den Patienten flächendeckend zugänglich zu machen. Es nicht zu tun, hieße im Umkehrschluss durch Unterlassung das Wohl des Patienten massiv zu vernachlässigen. De facto bleibt der Patient heutzutage jedoch noch viel zu oft als Leidtragender zurück. Nicht nur abstrakt in seiner Selbstbestimmung eingeschränkt, sondern (um beidem Beispiel der Herzinsuffizienz zu bleiben) mit dem Risiko einer verringerten Lebenszeit.
- Pfeiler IV, Soziale Gerechtigkeit, d.h. der Grundsatz, Patienten mit identischen therapeutischen Bedürfnissen dieselben Untersuchungen und Behandlungsmethoden zugänglich zu machen: Soziale Gerechtigkeit kann durch die Digitalisierung deutlich verbessert werden. Auch hier konnte in der Fontane-Studie bewiesen werden, dass sich die lebensverlängernden Vorteile der telemedizinischen Mitbetreuung gleichermaßen für Patienten in Städten als auch ländlichenRegionen ergeben und damit Defizite in der Versorgung in strukturschwachen Gebieten verringern. Die Digitalisierung macht medizinische Expertise ohne nennenswerte Erhöhung der Grenzkosten für jeden Patienten, unabhängig vom Wohnort, verfügbar. Anders ausgedrückt unterstützt der technologische Fortschritt der Telemedizin soziale Gerechtigkeit und demokratisiert moderne Gesundheitsversorgung. Dass dies auch und gerade angesichts knapper Ressourcen wichtig ist, zeigen zahlreiche Länder, in denen die medizinische Versorgung in der Fläche sowohl quantitativ als auch qualitativ weit hinter den Standards in Deutschland hinterherhängt, in denen aber gleichzeitig die Digitalisierung einen weitaus höheren Stellenwert genießt.
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Digitale Ethik führt das deutsche Gesundheitswesen zu neuer Stärke
Nach den vergangenen rund 20 Jahren Digitalisierungs-Pessimismus lässt sich seit kurzem eine Art Goldgräberstimmungim deutschen Gesundheitssystem konstatieren. Dies liegt in der Gleichzeitigkeit begründet, durch die momentan auf den unterschiedlichsten Ebenen Umsetzungsdruck entsteht oder aufgebaut wird: Die Politik arbeitet mit Hochdruck in Form kleiner und großer legislativer Schritte an dem grundsätzlichen Rahmenwerk, und in Selbstverwaltung und dem Gesundheitsmarkt erhöht sich beinahe täglich und nachfrageorientiert der Bedarf an digitalen Werkzeugen zur Unterstützung von Versorgungsprozessen und Administration. Patienten bemühen nicht mehr nur Suchmaschinen vor und nach ihrem Arztbesuch, sondern beginnen digitale Tools gegenüber ihren Versorgern aktiv einzufordern. Die digitale Gesundheitswirtschaft entwickelt nicht mehr nur das technologisch Machbare als Selbstzweck, sondern stellt dank kollaborativer Produktentwicklung primär den Nutzen der Anwender in den Fokus.
Aus unterschiedlichen Motivationslagen, aber konsensorientiert, drängen inzwischen praktisch alle Akteure in eine gemeinsame Richtung, obgleich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Das ist gut so, denn nur durch diesen Hebel kann der beinahe exponentielle (und vielfach bereits evaluierte) Nutzen der Digitalisierung endlich auch bei den Menschen ankommen, die sich heute noch viel zu oft mit ineffizienten und ineffektiven Strukturen und Prozessen herumschlagen müssen. Die entscheidende Veränderung im Vergleich zur Vergangenheit sind dabei die Akteure, die beginnensich aufeinander zuzubewegen und die den unbedingten Willen haben, Digitalisierung gemeinsam zum Ziel zu bringen.
Grundvoraussetzung dafür, dass diese Entwicklung bleibt und sich verstärkt, ist ein verlässlicher ethischer Rahmen. Patientenversorgung ist keine Spielwiese für neue Trends, und innovativ oder modern ist per se kein Qualitätsmerkmal. Daher ist das Agieren innerhalb eines ethischen Rahmens Schutzmechanismus und Erfolgsfaktor zugleich. Wer digitale Ethiknicht mitdenkt und umsetzt, wird heute wie zukünftig keinen oder nur einen sehr kurzen Zugang zum deutschen Gesundheitssystem erhalten, und nur wer dauerhaft Zugang erhält, wird künftig flächendeckende Durchdringung in die Versorgungsrealität erfahren. Vielleicht ist dies dann sogar bald nicht nur ein Erfolgsfaktor für das deutsche Gesundheitssystem, sondern hat mittelfristig das Potenzial zum Exportschlager. Oder anders ausgedrückt: Über den hippokratischen Eid 2.0, der digitalen Ethik des deutschen Gesundheitssystems, kann der Schritt vom digitalen Schwellenland zum führenden Gesundheitssystem mit Vorbildfunktion gelingen.
Auszug aus Digitalisierung und Ethik in Medizin und Gesundheitswesen