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Die Ahrtal-Katastrophe am 14. Juli 2021

CASE REPORT: Die Ahrtal-Katastrophe am 14. Juli 2021

Martin Schiffarth


Erfahrungsbasiertes Wissen vor der Katastrophe

Das Ahr-Hochwasser 2016, die Ahr-Katastrophen 1910 und 1804

Großflächiger Starkregen im Ahr-Einzugsgebiet bei bereits bestehender hoher Bodenfeuchte führte zu schnellem Pegelanstieg beim Hochwasser 2016 (Abfluss 236 m3/s). Vorerfahrungen der Einsatzkräfte zu vergleichbaren Dimensionen fehlten zu diesem Zeitpunkt, was mich als Leitender Notarzt seinerzeit dazu veranlasste auch in historischen Quellen nach vergleichbaren oder extremeren Ereignissen zu suchen (Schiffarth et al. 2019). Im Jahr 2016 lag der Schwerpunkt der Menschenrettung im Bereich von Campingplätzen (geringe Resilienz der Unterkünfte) im mittleren Ahrverlauf, bei bestehender überwiegend terrestrischer Erreichbarkeit mit Einsatzfahrzeugen (s. Abb. 2) sowie mit einer mehrstündigen Vorlaufzeit für die Abschnittsleitung Gesundheit, was ein ausreichendes Zeitfenster für den Einflug von Winden-Hubschraubern unter Sichtflug-Bedingungen am Folgetag des Ereignisses ermöglichte. Es wurden insgesamt 36 Winden-Operationen (n = 42 Menschenrettungen) durchgeführt. Niemand kam zu Tode.

Abb. 1 Magnituden gegenwärtiger und historischer Ahr-Hochwasser und Ahr-Katastrophen im Vergleich (Martin Schiffarth)

Abb. 2 Rettung von zwei Personen aus umspülter LKW-Kabine mittels Frontlader beim Ahr-Hochwasser 2016; Ortslage Müsch (Foto: Martin Schiffarth)

Der Impact eines Sturzflut-Ereignisses steht in Zusammenhang mit der Magnitude. Evidenz für die besondere Gefährdung von Unterkünften mit geringem Widerstand (geringe Resilienz) gegenüber Flutgefahren findet sich auch im Jahr 1910.

Nach wochenlangem Regen sowie einem Wolkenbruch im Ahr-Einzugsgebiet stieg der Ahrpegel „in kurzer Zeit“ und „wie eine Springflut“ (Scherer 1911) an. Im Jahr 1910 (Abfluss500 m3/s) starben 52 Menschen, welche sich in Kantinen in Ahrufernähe befanden (Exposition). Die Opfer fanden sich fast ausschließlich unter am Vortag angereisten Bahnarbeitern aus dem Ausland (Vulnerabilität).

In retrospektiver Betrachtung überstieg die Magnitude des extremen Hochwassers 2021 (Abfluss ca. 1.120 m3/s) (Roggenkamp u. Herget 2022) das erlebte Ereignis von 2016 um den Faktor 5 (s. Abb. 1.), das Ereignis von 1910 um den Faktor 2 und findet am ehesten Entsprechung in der Ahr-Katastrophe des Jahres 1804 (Abfluss 1.210 m3/s) (Roggenkamp u. Herget 2014), in der die Abflussdimension rekonstruiert wurde und der Impact in einem historischen Katastrophenbericht (Frick 1955) niedergeschrieben ist.

Wir können Fehler machen, wenn wir aktuelles Erleben mit Erlebtem verbgleichen. Wir nehmen an, das Problem ist gleich, jedoch wird dieses übertroffen (Hearns 2019). Die Magnitude und der Impact des erlebten Hochwassers 2016 wurde um ein vielfaches übertroffen.

Die Ahrtal-Katastrophe am 14. Juli 2021 – Fallbericht mit Handlungsempfehlungen

Fünf Jahre lagen zwischen der erlebten „Jahrhundertflut 2016“ und den Erfahrungen der Ahr-Katastrophe im Jahr 2021. Am 14. und 15. Juli 2021 wurde das Ahrtal im Landkreis Ahrweiler (Rheinland-Pfalz, Deutschland) von einer Sturzflut katastrophalen Ausmaßes betroffen.134 Menschen wurden getötet, zwei Personen gelten weiterhin als vermisst und mehr als 750 Menschen wurden verletzt. Zu den Spitzenzeiten der akuten Katastrophenbewältigung waren mehr als 5.000 Einsatzkräfte im Katastrophengebiet tätig (s. Abb. 3).

Abb. 3 Improvisierter Transport einer evakuierten Person (Foto: Florian Weidenbach)

Abschnittsleitung Gesundheit im Kreis Ahrweiler

Die Leitende Notarztgruppe des Landkreises Ahrweiler setzt sich im Rahmen einer Zufallsbereitschaft aus insgesamt sechs Leitenden Notärzt:innen (LNA) zusammen. Durch die Katastrophe waren drei der sechs LNA durch direkte (Überflutung Wohnhaus) oder indirekte Betroffenheit (Verlust Praxis, Überflutung Klinik) zunächst nicht einsatzfähig. Ein LNA befand sich im Auslandsurlaub. Zwei Leitende Notärzte übernahmen in zunächst zwei Einsatzabschnitten (obere bis mittlere Ahr/mittlere bis untere Ahr) in jeweils zwei autark agierenden Abschnittsleitungen Gesundheit die medizinische Leitung am Abend des 14. Juli 2021.

Reaktion erste Phase: „Tod verhindern“

Mein Einsatz als LNA erfolgte am 14. Juli 2021 um 19:15 Uhr auf Anforderung der Feuerwehr Adenau – ohne mehrstündige Vorlaufzeit, in weiten Teilen ohne terrestrische Erreichbarkeit zur Lagebilderstellung. Auf Anfahrt zur Feuerwehreinsatzzentrale (FEZ) waren einzelne Straßen überflutet, einige Fahrzeuge standen bereits funktionsunfähig am Straßenrand.

Wie sich rückblickend herausstellte waren Messpegel zu diesem Zeitpunkt bereits überschritten oder zerstört. Die Feuerwehreinsatzkräfte der Verbandsgemeinde waren zum Zeitpunkt der ersten Lagebesprechung gegen 19:50 Uhr seit einigen Stunden im Einsatz und mit der Rettung zahlreicher Personen auf Campingplätzen im Bereich der oberen Ahr befasst. Über ein Ahr-Hochwasser bestand kein Zweifel mehr, unklar blieb die zu erwartende Magnitude.

Die Notwendigkeit der Einbindung der Luftrettung mit Rettungswinde wurde antizipiert: um 20:19 Uhr war ein erster Bereitstellungsraum in Adenau eingerichtet. Eine Führungsunterstützung und Einsatzleitwagen (ELW) stand nicht zur Verfügung, sodass zunächst auf einen Gruppenführer einer nahegelegenen SEG, als Unterstützung für den OrgL und LNA zurückgegriffen wurde.

Informations- und Ressourcenmangel sind Leitsymptom einer Katastrophe.

Abb. 4 Einordnung als LNA in den Ereignisablauf (Fotos: Martin Schiffarth)

Situation in der Nacht des 14. Juli und Morgen des 15. Juli 2021

Versuch einer terrestrischen Erkundung/Einordnung in den Ereignisablauf

Erste Hinweise auf einen fallenden Abfluss erlaubten eine Einordnung in den Ereignisablauf und konnten um 01:35 Uhr in der Ortslage Schuld anhand einer Hochwassermarke und bereits darunter liegendem Wasserstand an einer Hauswand in Ortsmitte wahrgenommen werden (s. Abb. 4).

Der Versuch einer terrestrischen Lageerkundung gegen 02:00 Uhr in weiter Ahr-abwärts gelegene Ortslagen wurde durch weitere Teilprozesse der Gefährdung deutlich erschwert: Mehrere Erdrutsche auf einer Bundesstraße mit teils starkem, querverlaufendem Hangabfluss konnten überquert werden, in der Ortslage Dümpelfeld befand sich ein LKW mit durch einen entwurzelten Baum zertrümmerter Kabine und ein sich darüber ergießender Hangabfluss ohne Person im Fahrzeug.

Cognitive overload bedeutet, dass die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnis überschritten ist. Cognitive refraiming umschreibt eine Methode zur „Kalibrierung“ unserer Einschätzung einer Situation. Ziel der Methode ist es, zu einer möglichst rationalen Bewertung der Situation zu kommen.


In extremen Situationen können wir in einen Zustand des cognitive overload kommen, bestenfalls wird die Situation bewusst reflektiert, um im Ergebnis eine möglichst rationale Bewertung der Situation vorzunehmen, sodass ein cognitive refraiming möglich ist (Hearns 2019). Im Ergebnis führten diese Impressionen zum Abbruch der Lageerkundung aufgrund der nunmehr erkannten fehlenden Verhältnissicherheit. Die richtigen Mittel zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind Merkmale des Führungsvorganges und zur Gefahrenabwehr notwendig. Die Notwendigkeit der Sichtung und Menschenrettung mittels Winde wurde als höchste Priorität eingestuft, wenngleich die Anforderung nachts ohne Erfolg blieb, was in den Morgenstunden zunächst durch eine Vielzahl von Hubschraubern autark durchgeführt wurde bevor ein erstes eigenes Lagebild, nach Aufnahme durcheinen SAR-Hubschrauber der Bundeswehr, erstellt werden konnte (s. Abb. 5).


Abschätzung der Magnitude und des Impacts

Gegen 10:08 Uhr erfolgte ein erster Erkundungsflug über Teile des Einsatzabschnittes obere bis mittlere Ahr. Im Ergebnis wurde zunächst eine prozentuale Einschätzung der Zerstörung verschiedener Ortsgemeinden vorgenommen sowie die Zerstörung der Infrastruktur, in Teilen der kritischen Infrastruktur, Brücken und der Verkehrswege registriert. Hilfreich war der persönliche Soll-Ist-Vergleich durch die regionalen Kenntnisse und meine zurückliegende Tätigkeit in der regionalen Energie- und Wasserversorgung. Erste Fernsehbilder der Zerstörung am Morgen des 15. Juli und ein erstes eigenes Lagebild aus der Luft ließen vermuten, dass die Dimension eher einen Vergleich in historischen Ahrfluten findet. Aus persönlicher Kenntnis historischer Katastrophenberichte entstand nun ein erstes Bild der zu erwartenden Herausforderungen und ein erstes Bild der zurückliegenden Magnitude und des Impacts.

Abb. 5 Erfassung eines orientierenden Lagebildes, zerstörte Häuser als Beispiel für den Impact einer Sturzflut (Foto: Martin Schiffarth)

Analytical processing
Unbekannte, ungewohnte oder komplexe Herausforderungen beeinflussen unsere Fähigkeit zur analytischen Aufgabenlösung (Hearns 2019). Hilfreich zur Entscheidungsfindung ist das Zusammentragen der Informationen anhand des Akronyms FOR-DEC (Facts, Options, Risk &Benefits – Decision, Execution, Check).

Auf den Punkt gebracht

Zu den zentralen Aufgaben und Herausforderungen der ersten Minuten und Stunden nach Einsatzbeginn gehörte der Versuch der persönlichen Einordnung in den Ereignisablauf – was erst in den frühen Morgenstunden des 15. Juli ansatzweise gelang. Eine Abschätzung der zu erwartenden Magnitude war nicht möglich. Eine situation awareness war nur bedingt zu entwickeln, die Notwendigkeit von Luftrettungsmitteln mit Rettungswinde erkannt und angefordert. Die notfallmedizinischen Herausforderungen der ersten Stunden lassen sich unter Rettungs- und Notfallmedizin sowie Search & Rescue subsumieren. In die Phase von überwiegend bewusster, analytischer Entscheidungsfindung konnte erst nach Erfassung eines ersten Lagebildes auf Sicht eingetreten werden, die historische Magnitude danach rasch antizipiert werden. Die zu erwartenden Aufgaben nach einem rapid-onset disaster bestimmten das Aufgabenfeld der nächsten Tage und Wochen: „Leid mindern“ wurde als Aufgabe der nachfolgenden Tage erkannt.

Reaktion zweite Phase: „Leid mindern“

Situation 15. bis 26. Juli 2022

Zu den zentralen Aufgaben und Herausforderungen der ersten Tage nach der Katastrophe gehörte die initiale und dann kontinuierliche Lagebilderfassung verbunden mit einer ersten Schadens- und Bedarfsprognose (damage & needs assessment), die Identifikation von besonders vulnerablen Gruppen und die Etablierung einer durchhaltefähigen Führungsstruktur und Hilfsgüter-Logistik. Weitere Herausforderungen waren die Einsatzkräfteabsicherung, Sicherstellung des Regelrettungsdienstes und das Antizipieren drohender weiterer Gefahren. Die medizinischen Herausforderungen ließen sich unter Katastrophen‑, Notfall und Allgemeinmedizin als herausforderndes „breites Spektrum“ subsumieren.

Schadens- und Bedarfsprognose

Infektionsprävention: Durch die Zerstörung von Versorgungsleitungen für Energie, Trink- und Abwasser, sowie zahlreicher Klärwerke, in der luftgebundenen Lageerkundung erkennbar freigespülter Friedhöfe und in der Ahr treibender Särge neben Tierkadavern, sowie einer nicht zu bestimmenden Anzahl von möglichen Toten im Fluss, musste aus infektiologischer Sicht zunächst von einem „Worst Case Szenario“ ausgegangen werden. Kliniken im Umfeld wurden aufgefordert die Bevorratung an Antibiotika und Infusionen zu erhöhen, Einsatzkräfte hinsichtlich persönlicher Verhaltensregeln informiert. Mobile Toiletten und die Trinkwasserversorgungwurden zunächst über den benachbarten Nürburgring organisiert – die erprobte Veranstaltungslogistik erwies sich als sehr hilfreich. Aufgrund der Pandemie wurden kurzfristig aus benachbarten Landkreisen Impfbusse für die eigenen Einsatzkräfte angefordert. 

Medikamentenversorgung: Mit dem Verlust des eigenen Hauses, der Zerstörung von Arztpraxen und Apotheken entstand ein weiterer Engpass: Die Beschaffung und Zuordnung von Medikamenten. Diese wurde zu Beginn über ortsansässige, funktionsfähige Apotheken sichergestellt, am 15. Juli ein Apotheken-Rufdienst eingerichtet, Ortslagen nach Zusammenstellung der Medikamente per Hubschrauber beliefert, die ortsnahe Klinik um Herausgabe und Vorhalteerhöhung bemüht, später ein Apotheker in die örtlichen Stabstrukturen integriert.

Medikamente waren Mangelware/Erhöhung der Vorhaltung in Kliniken

Als sehr schwierig stellte sich die Vorhalteerhöhung eines breiten medikamentösen Spektrums einer Klinikambulanz dar: In der Regel werden nur einzelne Gebinde nachbestellt – die Vorhalteerhöhung im Sinne einer Verdreifachung oder eines vielfachen der vorgehaltenen Menge ist üblicherweise nicht vorgesehen. Werden nicht frühzeitig erforderliche Medikamente bereitgestellt, stellt sich innerhalb weniger Tage und Stunden sekundär ein breites Portfolio an medizinischen Problemen ein, von Hypertonus über Hyperglykämie bis hin zum Delir. 

Identifikation vulnerabler Gruppen: Schwangere, pflegebedürftige Personen und Kleinkinder kleiner zwei Jahren wurden als besonders vulnerable Gruppe identifiziert. Durch die funktionsfähige Struktur des Einwohnermeldeamtes und die unmittelbare Integration von Mitarbeitern der lokalen Verbandsgemeindeverwaltung in den Verwaltungsstab konnten 54 Kinderkleiner zwei Jahre identifiziert und mit alterstypischem Bedarf an Nahrung und Hygieneartikeln versorgt werden (s. Abb. 6). In den ersten Tagen nach der Katastrophe war im erreichbaren Umfeld keine pädiatrische Fachpraxis verfügbar, sodass kurzerhand Räumlichkeiten der lokalen Klinik in eine pädiatrische Praxis umfunktioniert wurden.

Abb. 6 Nutzung eines Bergesacks zum Transport von Nahrung für Kleinkinder (Foto: Martin Schiffarth)

Beim Identifizieren von Schwangeren in verschiedenen Ortslagen konnte eine ansässige, funktionsfähige gynäkologische Praxis unterstützen. So wurden ca. 100 Schwangere im letzten Trimenon ausgemacht. Eine Sectio-Instrumentarium durch die Praxis für Notfälle vorbereitet. 

Äußerst schwierig gestaltete sich die Identifikation von pflegebedürftigen Personen. Ambulante Pflegedienste waren selbst von den Folgen der Flut betroffen. Ein großer Teil dieser Personengruppe wurde in nahegelegen Hotels am Nürburgring untergebracht sowohl pflegerisch als auch ärztlich betreut, dem steigenden Bedarf an PSNV-Kräften Rechnung getragen. 

Führung und Logistik etablieren: Ein zwölftägiger Einsatz als LNA war nur möglich, da sich nach wenigen Tagen abzeichnete, dass ein Großteil der Aufgaben tagsüber zu erledigen war und nachts sowohl bei Helfern als auch Betroffenen Erschöpfung und wahrnehmbare Ruhe eintrat. Zur Sicherstellung der Durchhaltefähigkeit unserer ALG wurde zunächst nach einem für notwendig erachteten Anforderungsprofil weitere Ärzt:innen gesucht, welche nach eintägiger Begleitung des im Dienst befindlichen LNA und Lageerkundung mittels Hubschrauber am Tag des Dienstbeginns für zwei bis drei Tage durchgängig die Funktion wahrnehmen konnten.

Anforderungsprofil nachrückender kommissarischer Leitender Notärzt:innen und führungsunterstützende Ärzt:innen

  • mehrjährige Luftrettungstätigkeit/versiert im Umgang mit Hubschraubern
  •  gute regionale Ortskenntnis (boden- und luftgebunden)
  •  Qualifikation als LNA
  •  persönliche Bekanntheit

Weitere Herausforderungen

  • Einsatzkräfteabsicherung (Unfälle wie Abstürze, Verschüttung, Stromschläge, Knochenbrüche, Verkehrsunfälle, Infektionsschutz, PSNV)  
  • Sicherstellung des Regelrettungsdienstes (erfolgte überwiegend durch Luftrettung)  
  • antizipieren drohender weiterer Gefahren (zahlreiche Sprengmittelfunde im Ahrbett, potenzielle Infektionslage, Notwendigkeit der Landeplatzerkundung bei Meldung über erneuten Starkregen)

Die Rolle der Luftrettung mit Rettungswinde

Rapid-onset disaster nach Sturzfluten und damit verbundene Teilgefährdungsprozesse sind durch eine kurze Vorwarnzeit, eine hohe Prozessgeschwindigkeit und kurze Prozessdauer gekennzeichnet. Die Zeitfenster (Minuten bis Stunden) zur Personenrettung aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich sind damit limitiert und zusätzlich durch Unwetterlagen erschwert. 

Der Einsatz der Luftrettung begann in den Abendstunden des 14. Juli. Zu diesem Zeitpunkt konnten keine Menschenrettungen durchgeführt werden auch mangels der Verfügbarkeit einer Rettungswinde und der wetterbedingten Einschränkungen. Dennoch waren das erste Lagebild, die Einordnung in den Ereignisablauf, die damit verbundene Handlungsoption, die dezidierte Nachforderung und der Aufbau der Logistikketten für Rettungshubschrauber mit Winde essenziell – vergleichbar den Aufgaben eines ersteintreffenden Rettungsmittels beim MANV. 

Aus der Perspektive der Luftrettung standen in der ersten Phase (Stunden) die Personenrettung aus dem Gefahrenbereich im Fokus (von Hausdächern, aus Bäumen, aus Zwangslagen),Sichtung und Primärversorgung definierten die zweiten Phase (Tage) und in der dritten Phase (Wochen) erfolgte die Sicherstellung des Regelrettungsdienstes aus der Luft.

Wesentliche Crew-Faktoren zur Einsatzbewältigung 

  • eingespielte persönlich bekannte Teams/Vermeidung von adhoc-Team-Konstellationen 
  • möglichst hoher case load mit komplexen Situationen im Routinebetrieb 
  • cross professional competence 
  • hohe Kompetenz in non-technical skills (CRM skills)

Zusammenarbeit mit der Abschnittsleitung Gesundheit

Aus der Perspektive der ALG hat die kontinuierliche Lagebilderfassung und Rückmeldung in Zusammenarbeit mit der Luftrettung für eine anhaltende situation awareness der ALG gesorgt. Konkrete Fragestellungen zum medizinischen Versorgungsbedarf oder der Bedarfsprognose für vulnerable Bevölkerungsgruppen konnte durch die medizinischen Crews dezidiert ermittelt und übermittelt werden, darüber hinaus konnten Aufträge zu Primär- und Versorgungseinsätzen u.a. mit der Rettungswinde absolviert werden. Das luftrettungstypische Anforderungsprofil der nachrückenden bodengebundenen LNA war der Zusammenarbeit in Bezug auf das Einsatzkonzept und das gemeinsames Bild der Lage dienlich.

Auf den Punkt gebracht

Für Crews von Luftrettungsmitteln ist der Interaktionsraum Mensch – Maschine – Umwelt ergänzt um die Medizin zunächst einmal ein vertrautes Arbeitsumfeld. Im Kontext großflächiger Katastrophen erfährt dieser Interaktionsraum jedoch für alle Einsatzkräfte weitere Limitationen: die Interaktion mit der Umwelt wird zur direkten Interaktion mit Naturgefahren, Medizin wird um das breite Spektrum der Katastrophenmedizin erweitert, die physischen und psychischen Extremsituationen stellen die Einsatzkraft vor komplexe und unbekannte Entscheidungssituationen, sodass der persönlichen Verhaltenssicherheit vor, in und nacheiner Katastrophe zentrale Bedeutung zukommt. Besonders dann, wenn Verhaltenssicherheit nur bedingt gegeben sein kann.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Notfallmedizin extremherausgegeben von Matthias Ruppert und Jochen Hinkelbein. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.


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