Pflegekräfte in der Intensivmedizin
Psychosoziale Berufsgruppen und ihre Aufgabe in der Intensivmedizin - Pflegekräfte
Die Intensivpflege stellt in der Intensivmedizin die Berufsgruppe mit dem engsten und unmittelbarsten Patientenkontakt dar. Rein physisch sind es die Intensivpflegenden, die 24 Stunden und an sieben Tagen einer Woche patienten- und bettseitig anwesend sind. In psychosozialer Hinsicht ist diese unmittelbare Präsenz und daraus abgeleitete Verfügbarkeit für Patienten und deren Angehörige ausschlaggebend für den Aufbau einer temporären und intensiven Betreuungsbeziehung. Hierbei ist es für die Patientenversorgung und Angehörigenbetreuung pflegeorganisatorisch zunächst unerheblich, dass sich die individuellen Pflegepersonen dabei regelmäßig im Schichtbetrieb am Patienten abwechseln, die enge und unmittelbare Beziehung der Intensivpflege zum individuellen Patienten bleibt dabei stets erhalten.
1. Intensivpflege
Im Mittelpunkt intensivpflegerischer Tätigkeiten stehen die klinische sowie apparative Überwachung und Therapie von akut- und kritisch Erkrankten in speziellen Einheiten der Intensivstationen in Krankenhäusern. Die aktuelle Auffassung definiert:
„Die intensivpflegerische Patientenversorgung umfasst die Akutbehandlung von Patienten mit schweren oder lebensbedrohlichen Erkrankungen, die Prophylaxe von Behandlungsfolgen, die pflegerische Unterstützung der Rekonvaleszenz von Erkrankungen, weiterhin die palliative Versorgung und die Sterbebegleitung. Damit wirkt die Intensivpflege in präventiver, kurativer, rehabilitativer und palliativer Weise auf den Patientenversorgungsprozess ein. […] Hierbei werden psychosoziale, kulturelle und spirituelle Belange des Patienten und der Angehörigen weitestgehend in das Versorgungskonzept integriert oder berücksichtigt.“ (Müller-Wolff u. Larsen 2016, S. 258)
Im Sinne einer professionellen und umfassenden Patientenpflege richten sich die Pflegeinterventionen am individuellen Pflegebedarf aus, der aus dem spezifischen Selbstpflegedefiziten, erkrankungsbezogenen Erfordernissen und dem zu berücksichtigenden Setting der Pflegesituation resultiert. Die Selbstpflegedefizite von Intensivpatienten sind häufig umfangreich und stehen in direktem Zusammenhang mit der Erkrankungsschwere und eingeleiteten Therapie. So kann ein beatmungspflichtiger Patient mit respiratorischer Insuffizienz kaum selbständig für beispielsweise ausreichende Mobilisation, Ernährung, Schmerzlinderung oder auch Privatsphäre, Trost und Kommunikation sorgen. Diese und weitere Selbstpflegedefizite werden durch die Pflegenden prozesshaft erhoben, eingeschätzt, in Pflegemaßnahmen umgesetzt und evaluiert. Die prozesshafte Pflege ist gemäß Pflegeberufegesetz (PflBG) der examinierten Pflegefachperson vorbehalten. Ein standardisiertes und abgestimmtes Pflegekonzept und standardisierte Maßnahmen stellen dabei die qualitative Versorgung auch bei Personalwechsel im Dreischichtbetrieb einer Intensivstation sicher (Müller-Wolff et al 2019).
2. Ganzheitlichkeit und Profession Intensivpflege
Erfahrene Intensivpflegende neigen dazu, ihre Sicht der Krankenpflege pragmatisch zu gestalten und sich darauf zu konzentrieren, ob in ihrer Praxis und bei ihren Klienten etwas „funktioniert“. Sie suchen nach Handlungen und ihren Konsequenzen und glauben, dass jede Wirkung eine erkennbare und hoffentlich behandelbare Ursache hat (Eldridge 2021). Stevenson und Woods definierten dabei schon 1986 die notwendige pflegewissenschaftliche Komponente als den Wissensbereich, der sich mit der Adaption von Individuen an Gesundheitsprobleme, der gesundheitsbeeinflussenden Umgebung oder Lebensumfelder von Menschen und den therapeutischen Interventionen befasst, die die Gesundheit fördern und die Folgen von Krankheiten beeinflussen. Demzufolge orientiert sich die Intensivpflege gerade auch an den Auswirkungen von Krankheit und Behandlungsmaßnahmen auf das Individuum und greift unterstützend in die Bewältigungsoptionen ein. Hier unterscheiden sich Medizin und Pflege als Profession grundlegend. Studium und Praxis der Medizin konzentrieren sich auf die Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Die Pflege konzentriert sich auf die menschliche Reaktion auf Krankheiten und deren Behandlung. Dennoch überschneiden sich Pflege und Medizin an vielen Stellen und sehr ausgeprägt in Intensivmedizin und Intensivpflege. Damit arbeiten Pflege und Medizin, neben weiteren wichtigen Berufsgruppen in der Intensivmedizin, interprofessionell in Forschung, Entwicklung und Anwendung dieses wichtigen Fachgebiets (Müller-Wolff 2017).
3. Pflege, Patientenbedürfnisse und Gesellschaft
Zwar war Florence Nightingale, die 1859 „Notes on Nursing“ publizierte, keine Pflegetheoretikerin im eigentlichen Sinne, allerdings orientieren sich noch heute die meisten Pflegemodelle am damals aufgestellten Grundkonzept. Sie stellte die Patienten in den Mittelpunkt ihres Modells und lehrte, dass das Ziel der Krankenpflege darin besteht, die Bedürfnisse des Patienten zu erfüllen und die Umgebung des Patienten so zu manipulieren, dass er oder sie einen gesunden Zustand erreichen kann. Die Arbeit der Krankenpflege war nach Ansicht von Nightingale nicht etwas, das von Ärzten an die Krankenschwestern delegiert wurde, sondern die Krankenpflege war eine von der Medizin gänzlich getrennte Lotsenrolle mit der Aufgabe, das Umfeld der Patienten gesundheitsförderlich zu gestalten, den Patienten in der Interaktion mit diesem Umfeld zu beobachten und den Patienten darin gesundheitsförderlich zu begleiten. Für Nightingale nahm die Pflege die Patienten ganzheitlich wahr und berücksichtigte die Auswirkungen der Umweltbedingungen auf die physischen, intellektuellen, psychischen und spirituellen Aspekte von Person und Erkrankung. Krankenschwestern wurden als diejenigen definiert, die für die Gesundheit einer anderen Person verantwortlich waren. Viele spätere Pflegetheorien die sich in heutigen Konzepten wiederfinden greifen diese Grundlagen der Patientenbegleitung und Verantwortungsübernahme auf, darunter Dorothea Orem (1959), Dorothy Johnson (1961), Martha Rogers (1970) und Monika Krohwinkel (1993). Bis hin zu international angewendeten Definitionen vom International Council of Nurses (ICN) und der Word Health Organisation (WHO). Die WHO, der ICN, die nationalen Pflegeverbände und die Pflegekammern greifen diese Pflegekonzepte auf und setzen sie in den Kontext gesellschaftlicher Erwartungen, um der Profession Pflege den notwendigen Rahmen der Berufsausübung zur Erfüllung der Patientenbedürfnisse zu geben.
4. Wie wirkt Intensivpflege
Intensivpflegende sind in Ausbildung und Weiterbildungen dafür qualifiziert, sich mit Menschen unterschiedlicher Lebensphasen in deren persönlichen und situativen Umfeld im Kontext von Krankheit und Gesundheit zu beschäftigen (WHO 2020). Themen wie beispielsweise Gesundheit, Wohlbefinden, Gender- und Sexualitätsaspekte, Jugend oder Alter, Bedürfnisse und Motivation, Resilienz und Coping, Spiritualität und persönliche Moral und Ethik werden als relevante Aspekte des Daseins berücksichtigt (International Council of Nurses 2020). Insbesondere Intensivpatienten profitieren hier von der Kommunikation der Intensivpflegenden mit engen Angehörigen, um notwendige Informationen zu beispielsweise bewusstseinseingeschränkten Betroffenen zu erhalten. Wenn beispielsweise spezifische Wertvorstellungen, spirituelle Bedürfnisse oder Auswirkungen des Lebensalters vorbekannt sind und fremdanamnestisch mit Angehörigen erhoben werden, können Pflegeinterventionen ggf. daran angepasst durchgeführt werden.
Intensivpatienten befinden sich in der Intensivstation häufig in einem vulnerablen und exponierten Zustand zwischen wechselnder Erkrankungsschwere, für sie unverständlichen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen und dabei sehr eingeschränkten Selbstbestimmungsoptionen. Die Tätigkeit von Intensivpflegende besteht darin, eine Pflegebeziehung mit dem Schwerst-Erkrankten aufzubauen die es diesem ermöglicht, diese prekäre Situation zu überleben. Diese Pflegebeziehung fußt entsprechend oftmals auf dem stillschweigenden Konsens, Gesundheit wiederherzustellen und Schäden abzuwenden. Damit übernehmen Pflegende, neben aller Verantwortung für medizinische und physische Überwachung und Maßnahmen, meist auch die Rolle des Patienten-Advokaten in der direkten Betreuung. Sie geben damit den Patientenbedürfnissen eine Stimme und übernehmen Verantwortung für den mutmaßlichen Patientenwillen, solange dieser nicht explizit erhoben werden kann.
Ob bei der Körperpflege eines komatösen Patienten oder der Notfallbehandlung eines Unfallopfers – die unmittelbare Wahrung von Würde, Persönlichkeitsrechte oder Integrität wird im Umfeld stationärer Krankenhausversorgung den Pflegenden zugeordnet.
Vereinfacht gesagt: Bei der Pflege fühlen sich Patienten aufgehoben – die Pflege kümmert sich um Patienten.
5. Strategien der Intensivpflege
Die professionelle Intensivpflege wird zwar für grundlegende psychosoziale Betreuungsbedürfnisse von Patienten qualifiziert, kann die umfassende Versorgung aber nur in interprofessioneller Kollaboration und Zusammenarbeit sinnvoll sicherstellen. Das Erkennen von psychischen Auffälligkeiten, Inbalancen oder inadäquaten Verhalten führt in der prozesshaften Pflege entsprechend zu weiteren Schlussfolgerungen. Das Einbeziehen von beispielsweise klinischen Psychologen, klinischer Krisenintervention, Seelsorger oder anderweitig geschulter Professionals auf konsiliarischer Basis wird dann Standard, soweit diese in der Einrichtung verfügbar sind (Brauchle u. Wildbahner 2020; Deffner 2017).
Als Präventionsstrategien können in der Pflege verbreitete Techniken wie Schreiben eines Intensivtagebuchs, Integration persönlicher Gegenstände in die unmittelbare Patientenumgebung, oder Angehörigenintegration in die Pflege eingesetzt werden (Nydahl et al 2019). In vielen Intensiveinheiten ist die Pflege zudem für die Gestaltung und Begleitung der Angehörigenbesuche zuständig. Diese sind insbesondere herausfordernd bei pädiatrischen Patienten, oder in Palliativpflegesituationen oder der Sterbebegleitung auf Intensivstation (Comisso et al 2018). Bei diagnostiziert desorientierten, dementen, deliranten oder gar palliativen Patienten müssen spezifische Techniken der Kommunikation und Betreuung eingesetzt werden, um die psychosozialen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Die grundlegend professionelle Haltung gegenüber Patienten und Angehörigen und deren Bedarf an psychosozialer Betreuung wird durch Gestaltung von Teamarbeit der Intensiveinheiten und interprofessionelle Fortbildung positiv unterstützt.
Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Praxisbuch Psychologie in der Intensiv- und Notfallmedizin herausgegeben von Dr. Teresa Deffner, Prof. Dr. med. Uwe Janssens und Prof. Dr. Bernhard Strauß.
Mehr Informationen zum Autor: Tilmann Müller-Wolff