Digital-ethische Transformation
Von der Relevanz einer digital-ethischen Transformation des Healthcare-Sektors
ANDRÉ T. NEMAT und SARAH J. BECKER
Die Medizin ist ein Bereich des Eingriffes in das private Leben: in die körperlicheund mentale Dysfunktion. Die digitale Transformation vieler diagnostischerund therapeutischer Prozesse ist nur mehr eine algorithmische Ausweitung der Kunst, den Körper und Geist wiederherzustellen. Dabei fällt auf: die Digitalisierung ist auch im medizinischen Bereich datengetrieben. Aber anders als z.B. im e-commerce, der sich auf Kaufhandlungen, Informationen und Güter bezieht, haben wir es in der Medizin mit einer besonderen Beziehung zu tun: es geht um die Verknüpfung von Software wie Apparaten mit unseren Körpern. Hier wird die Digitalisierung „hautnah“ erlebt, vor allem dann, wenn Sensoren zunehmend miniaturisiert und in unvorstellbarer Menge auch unbemerkt an uns herangetragen werden.
Im Internet of Everything sind nicht nur Dinge und Personen jeweils miteinande rvernetzt. Auch Körper befinden sich im permanenten Austausch mit technischen Geräten. Wearables und Insidables generieren Daten, die die Befindlichkeiten der Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit sammeln und in Echtzeit auswerten. Wir sind mit Sensoren gekoppelt, ob direkt auf der Haut, ob in den Körper implementiert, oder in der Kleidung (oder in allen drei Dimensionen), die über eine Software unsere Körperzustände wie deren Phasenübergängemessen und entweder automatisch korrigieren oder uns darüber informieren, dass wir handeln müssten. Zukünftig wird dieses Datensammeln nicht mehr vollständig freiwillig bleiben. Unser Verhalten wird ebenso gemessen. Im Krankheitsfall wird beispielsweise unsere Disziplin bei der Medikamenteneinnahme kontrolliert. Sporttreibende werden die feed-back-informational-systems noch stärker nutzen als bereits jetzt. Diese Rückmeldungssysteme haben für unsere Identität, unsere soziale performance und unser Selbstbewusstsein eine enorme Bedeutung gewonnen. Viele fühlen sich darin erst autonom; sie messen sich lieber selbst, unabhängig von fremden Geräten zur Diagnose und Überwachung. Sie wissen, in welchen Zuständen sie sich befinden, was sie sich abverlangen können, wo sie ruhen müssen, wo sie neue Energie tanken müssen, trinken, Proteine zu sich nehmen müssen etc. Sie wissen über ihren Körper in einem Maße Bescheid, wie es historisch erstmalig und singulär ist. Allmählich beginnen wir zu begreifen, dass die digitale Transformation aller Lebens- und Wirtschaftswelten unaufhaltsam voranschreitet. Insbesondere die ungefragte Verwendung von persönlichen Daten weist auf ein rechtlichin transparentes Feld. Und die Sorge um eine künstliche Intelligenz, die uns Menschen überflügeln könnte, beherrscht zumindest die Diskussionen.
Luciano Floridi, Professor für Philosophie und Ethik der Informationen an der Universität Oxford, prägt in seinem Buch „Die 4. Revolution“ für diese Vision den Begriff der „Infosphäre“ (Floridi 2014). Es lösen sich die Grenzen zwischen online und offline auf und der Mensch kreiert sich zunehmend eine neue Umwelt.
Wenn in diesen Systemen nun auch künstliche Intelligenz zum Wirken kommt, lernen diese Programme, auf der Basis der persönlichen Krankheits oder Sportgeschichten, unsere Lebenspfade nicht nur informationstechnisch zu begleiten, sondern die Körperzustände auf einem bestimmten Level zu halten.Über soziale Medien werden nicht mehr nur Laufrouten geteilt, sondern körperliche Zustände. Wir nehmen an Herausforderungen teil, die über eine „30 Tage Plank Challenge“ und „Eine Woche gemeinsam fasten“ hinausgehen.Wir übernehmen Verhaltensmuster, sind zugleich Vorbild und Teilnehmende. Es geht sprichwörtlich um unser Innerstes und die Erhaltung dessen. Prävention ist das Schlagwort, das über allem schwebt. Das komplette, analoge Abbild des Menschen und sein Leben wird übersetzt in die digitale Umwelt und erschafft somit die Möglichkeit der Kreation eines digitalen Zwillings.
Aus der laufenden Rundum-Betrachtung werden ständig Ratschläge für ein längeres Leben erteilt. Das sind keine Bevormundungen, sondern Informationen, die aus den digital verbesserten Krankheits- und Therapieeinschätzungen kommen. Die bloßen Aufforderungen zur Verhaltensänderung verrinnen im Informationsüberfluss und Push-Nachrichten. Eine natürliche Einstellung zum eigenen Körper wird nicht mehr angestrebt; sie wird technisch (an‑)gelernt.Krankenkassen werden diese digitalen Entwicklungen aufgreifen und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie den Mitgliedern zur Pflicht machen, sich an die neuen Standards zu halten, um die Wirksamkeit von Maßnahmen zu erhöhen. Die nötige Motivation für konformes Verhalten wird durch individualisierte Belohnungssysteme sichergestellt. Die Kostenträger überschlagen sich mit Bonusprogrammen und entwickeln Anreizsysteme. Noch wird nicht mit Sanktionen gearbeitet, aber es ist denkbar, dass diejenigen, die in diesem Gesundheitsspiel nicht teilnehmen wollen, möglicherweise zukünftig dafür selbst die Kosten tragen müssen. Sicher ist allerdings, dass sich weder Krankenkassen noch Leistungserbringer wie z.B. die behandelnden Ärzte die Datenströme entgehen lassen können, um die Krankheitsverläufe besser einzuschätzen und spezifischer zu behandeln. Das Verhalten (Therapietreue) kann jetzt beobachtet und bemessen werden.
Wenn die permanente Statuserhebung der eigenen Gesundheitszustände zur alltagskulturellen Selbstverständlichkeit wird, dann arbeiten in den Algorithmen automatisch Präventionsindikatoren. Gerade die datengetriebenen Systeme können aus den Selbstvermessungen wie aus dem Vergleich mit den großen Datenmengen aller Krankheitsfelder (national wie international) Muster identifizieren, die früherkennend Diagnosen und Therapien verordnen lassen, bevor die Krankheit ausbricht. Die Vermeidung gesundheitsschädlichen Verhaltens verwandelt sich von einem freiwilligen Engagement zur gesellschaftlichen Verpflichtung.
Der Blick auf die einzelnen kleinen Geräte oder Applikationen erfasst jedoch nicht die weite Dimension des digitalen Umbruchs. Die massenhafte Verbreitung von Sensoren in unserer Umwelt führen zu einer unaufhörlich wachsenden Menge an Daten bei stetig sinkenden Beschaffungskosten. Anreicherungsprozesse steigern den Wert granularer Daten in einer Schöpfungskette bis hin zu individualisierten Informationen über den körpereigenen Zustand. Ab diesemZeitpunkt ist es praktisch unmöglich sich den Verhaltensgeboten zu entziehen, die jedem Menschen den geeigneten Weg in eine statistische Normalverteilung weisen. Hier berühren wir den Nerv aktueller Diskussionen, vornehmlich der besorglichen. Das statistische Vermessen ermöglicht eine völlig neue Empirie für die Einschätzung und Beurteilung der je individuellen Diagnosen und Therapien. Die genauere Zuordenbarkeit von Krankheitsvarianten kann die pharmakologischen Therapiemöglichkeiten spezifizieren bis personalisieren. Es entstehen Behandlungsmodelle, die mit der bisherigen Form der einzelärztlichen Betrachtung nicht erreichbar waren.
Die Intensität der Selbst- und Fremdkontrolle entwickelt sich parallel zum gesellschaftlichen Wandel, der durch datengetriebene Geschäftsmodelle traditionelle Berufe entbehrlich macht und neue schafft. So ergeht es auch der Berufsgruppe der Ärzte. Anamnese-Bots, Medizin-Avatare und Roboter ersetzen die Weißkittel bereits in den meisten Indikationen und lassen die große Distanz zwischen Patienten und Arzt verschwinden. Basisuntersuchungen wie den Puls zu tasten und Langzeit-EKG übernehmen Alltagsgegenstände wie Armbanduhren und Autositze.
Operationen als bewusste Eingriffe zur Optimierung des Körpers nehmen zu. Neben Erweiterungen der attraktiven Attribute werden zukünftig ebenso medtech-und bio-tech-Operationen durchgeführt, die unsere Gelenke, unser Herz, unsere Muskeln etc. mit digital steuerbaren Apparaten unterstützen werden. An elektrische Impulsgeber beim Herzen haben wir uns bereits längst gewöhnt. Über Tattoos, Plugs und transdermale Implantate unter diversen Hautpartiensind wir bereits eingestiegen in neue Formen des kulturellen Umganges mit unseren Körpern: body modification (kurz: BodMod). Der Übergang in med- und bio-tech ist längst angelegt.
Immer seltener wird ein Spezialist zu Rate gezogen, da die Grundversorgung digital gesichert wird. Die Menschen verbinden sich mithilfe der technischen Geräte zu transhumanen Selbst-Diagnostikern. Der Arztbesuch wird damit zu einem seltenen Erlebnis und unerschwinglichem Luxus. Aber die ferndiagnostische Arzt-Patientenbeziehung ist nur die eine Seite. Auf der andere wird in der Medizin der zwischenmenschliche Kontakt immer analog bleiben, vorallem bei der Erörterung von Therapien; Vertrauen ist nicht digitalisierbar.
Wir unterschätzen, welche Neugier an der Erprobung körperstabilisierender und -verstärkender Mechanismen entstehen wird, wenn sie auf den Markt kommen. Und wir unterschätzen das Bedürfnis, nach innerer und äußerer Stabilität in Zeiten, in denen jeder Zustand fluid ist. Wenn der Körper das einzige Objekt, das einzige System bleibt, dass das Subjekt beeinflussen kann, wird diesem eine ungemein hohe Wichtigkeit zugesprochen.
Diese Entwicklungen, so prophetisch sie erscheinen mögen, sind die naheliegenden Konsequenzen einer sich weiterentwickelnden digitalen Transformation. Was sich hier im Healthcare-Sektor aufzeigen lässt, gilt auch in fast allen anderen Bereichen des menschlichen Lebens. Die exponentielle Steigerung der Rechenleistung, Daten und Algorithmen ermöglichen eine radikale Umwälzung, die nicht nur diejenigen betrifft, die entsprechende Produkte und Dienstleistungen nutzen, sondern auch die Schöpfer eben jener Produkte und Dienstleistungen. Unternehmen fast aller Sektoren sehen sich mit der Herausforderung konfrontiert, das Vertrauen von Kunden und Partnern zu gewinnen, um verborgene Datenschätze zu heben und digitale Innovationen voranzutreiben. Datenskandale und zweifelhafte Praktiken erschweren dies jedoch zunehmend. In diesen Zeiten wird der Ruf nach Übernahme unternehmerischer Verantwortung immer lauter. Damit verknüpft sind zahlreiche Fragen: Wie sollen Unternehmen handeln, um ihrer Verantwortung nachzukommen? Nach welchen Maßstäben können Entscheidungen getroffen werden? Was bedeutet es, digitale Innovation verantwortungsvoll zu gestalten? Antworten auf diese und weitere Fragen sind innerhalb der „digitalen Ethik“ zufinden. Sie bietet einen Handlungsrahmen, der Unternehmen Halt und Orientierung geben kann und der das leistet, was im Healthcare-Sektor schon immer zum Selbstverständnis gehörte: Den Menschen in den Mittelpunkt zustellen.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Digitale Ethik in Healthare" herausgegeben von Dr. André T. Nemat und Dr. Sarah J. Becker. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.