Krankenkassen und Digitalisierung
Krankenkassen in einer digitalisierten Welt
JENS BAAS UND DENNIS CHYTREK
Das digitale Zeitalter hat begonnen
Die bis 2021 regierende große Koalition wurde viel und häufig dafür kritisiert, die Digitalisierung verschlafen zu haben. Im Gesundheitswesen heißt es etwa, dass erst die COVID-19-Pandemie die Nutzung digitaler Möglichkeiten in Schwung gebracht hat. Zwar stimmt es, dass das Gesundheitswesen heute schon viel weiter digitalisiertsein könnte, aber gerade in der 19. Legislaturperiode wurden entscheidende Gesetze auf den Weg gebracht und Weichen für die Zukunft gestellt.
Es ist gut und richtig, dass in der vergangenen Legislaturperiode fast jedes Gesetz aus dem Gesundheitsministerium einen Bezug zur Digitalisierung hatte und an vielen Enden gleichzeitig begonnen wurde, das Thema voranzutreiben. Und: Die Pandemie hat die Entwicklung dahingehend tatsächlich beschleunigt, dass die Menschen anfingen, digitale Lösungen einzufordern und bestehende Angebote plötzlich auf breites Interesse gestoßen sind. Die Notwendigkeit der Situation half auch dabei, lang gehegte Abwehrhaltungen von Bedenkenträgern im Gesundheitssystem endlich zu überwinden. Das zeigt sich exemplarisch darin, wie problemlos und schnell letztendlich die Krankschreibung per Videosprechstunde möglich wurde. Zwar war es auch vor der Pandemie schon keine gute Idee, sich mit einem leichten Infekt in ein volles Wartezimmer zu setzen, dennoch hielten sich die Vorbehalte hartnäckig. Die technischen Möglichkeiten zur Durchführung einer Videosprechstunde bestanden für TK-Versicherte bereits vor der Pandemie – im vierten Quartal 2019 wurden 23 durchgeführt, im zweiten Quartal 2020 waren es schon 19.701.
Meilensteine der Digitalisierung im Gesundheitssystem (Jahreszahl: Verkündungim Bundesgesetzblatt)
- 2018 Erweiterungen der Möglichkeiten von Videosprechstunden im ambulanten ärztlichen und zahnärztlichen Bereich durch das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz
- 2019 Verpflichtende Einführung der elektronischen Patientenakte und elektronischer Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung ab 2021 durch das TerminserviceundVersorgungsgesetz
- 2019 Kostenübernahme von digitalen Gesundheitsanwendungen auf Rezept, der finanziellen Förderung digitaler Innovationen durch Beteiligungen der Krankenkassen und der Nutzung von Versichertendaten für die Wissenschaft durch das Digitale-Versorgung-Gesetz
- 2020 Einrichtung eines elektronischen Organspende-Registers durch das Gesetz zur Stärkung der Entscheidungsbereitschaft bei der Organspende
- 2020 Verpflichtende Einführung des E-Rezepts ab 2022 durch das Patientendaten-Schutz-Gesetz
- 2020 Investitionsprogramm für die Digitalisierung von Krankenhäusern durch das Krankenhauszukunftsgesetz
Erwartungen an ein digitales Gesundheitssystem
Auch wenn in den letzten Jahren einige sinnvolle Gesetze zur Digitalisierung des Gesundheitssystems auf den Weg gebracht wurden, dürfen wir uns auf dem Erreichten nicht ausruhen. Ein Blick ins Ausland zeigt, dass auch dort die Entwicklung stets weitergeht und die Innovationskraft der Tech-Unternehmen ungebrochen ist.
Die Menschen in Deutschland wollen die Digitalisierung im Gesundheitswesen. 84 Prozent der Teilnehmer an einer repräsentativen Umfrage halten es für sehr wichtig oder wichtig, dass diese sicher und patientenfreundlich ausgebaut wird. Die ePA halten 83 Prozent grundsätzlich für eine sehr gute oder gute Idee und 62 Prozent sind offen für die Nutzung einer App, um Anliegen mit ihrer Krankenkasse zu regeln oder tun das bereits (Grießmeier 2021).
Die Digitalisierung ist bei den Menschen in Deutschland in vielen Bereichen des Alltags angekommen. Die Entwicklungen, vor allem im E-Commerce, haben durch Verfügbarkeit, Benutzerfreundlichkeit und Bequemlichkeit eine Erwartungshaltung an digitale Dienstleitungen geweckt, die sie auch an das Gesundheitssystem stellen (Seebach 2021).
„Wenn ich Lebensmittel in zehn Minuten an die Wohnungstür geliefert bekomme, warum dann nicht auch Medikamente?“ (Seebach 2021, S. 35)
Übertragen wir die Erwartungen anderer Branchen auf das Gesundheitswesen, sowerden wir den Versicherten eine bessere Kommunikation und eine stärkere Vernetzung anbieten müssen. In einem digitalen Behandlungspfad, muss dabei immer ein Mehrwert für die Patientinnen und Patienten entstehen. Dieser muss zudem einfach zu erreichen sein und darf keinesfalls erst den Download jeweils weiterer Apps oder Eingabemasken für jeden einzelnen Behandlungsschritt erfordern.
Plattformanbieter haben beste Voraussetzungen, um Bedürfnisse zu erfüllen
Einkaufzentren hatten vielerorts den Innenstädten als Einkaufsadresse den Rang abgelaufen, weil sie nicht nur alles, was der Mensch braucht, an einem Ort bündelten, sondern den Menschen auch ein schönes Einkaufserlebnis boten. Angebote und Öffnungszeiten waren aufeinander abgestimmt, Parkplätze meist kostenfrei. Das alles geschah nicht zum Selbstzweck, sondern diente der Kundenbindung, damit möglichst häufig und viel dort gekauft wird (Fleisch et al. 2021). In den vergangenen Jahren haben die großen Tech-Unternehmen es geschafft, dieses Prinzip zu digitalisieren und zu verfeinern, um nun ihrerseits den Einkaufzentren die Kunden abzunehmen. Digitale Plattformen bieten Firmen und potenziellen Kunden die Basis für eine Vielzahl attraktiver Produkte und Dienstleistungen, wobei der Plattformbetreiber den Kern der technologischen Infrastruktur zur Verfügung stellt (Sander 2020). Durch gegenseitige Interaktion von Partnern und digitalen Geschäftsmodellen werden Mehrwerte auf der Plattform generiert, die einzelne Akteure allein nicht erreichen können.
Wie immens erfolgreich digitale Plattformanbieter sind, zeigt die Tatsache, dass beispielsweise Apple, Alphabet und Amazon zu den fünf Unternehmen mit der weltweit größten Marktkapitalisierung gehören (PwC 2021).
Wenn man verhindern möchte, dass ein einzelner Player oder ein Oligopol von Anbietern mittelfristig den Gesundheitsmarkt in ähnlicher Art und Weise dominieren kann, wie das in anderen Märkten schon der Fall ist, gibt es nur eine Alternative: Es muss ein System entwickelt und etabliert werden, das den Nutzern, also vor allem den Patientinnen und Patienten, den gleichen Mehrwert wie die kommerziellen Ökosysteme bietet. Gleichzeitig muss es dabei die Errungenschaften unseres Gesundheitssystems verteidigen und Freiraum für die besonderen Rollen der einzelnen Akteure lassen (Sander 2020). Das Interesse der großen Plattformanbieter am Gesundheitsmarkt ist groß, sie investieren bereits Milliardensummen in den Gesundheitsmarkt (Schulz 2018; Choueiri 2019). Ihr Vorteil ist, dass sie bereits viele Schnittstellen zum Kunden haben, die teilweise schon einen Gesundheitsbezug haben und nur schwer von anderen Playern zu besetzen sein werden. Ein Beispiel sind hier Samsung und Apple mit ihren Smart Watches. Dabei bietet Apple neben der Erfassung von Bewegungs- und Fitnessdaten auch die Funktionen Pulsmessung, EKG und Sauerstoffsättigung im Blut an. In der App „Health“ können die Daten erfasst und ausgewertet werden. Neue Wettbewerber müssen schon einen sehr großen Mehrwert bieten, um eine ernsthafte Konkurrenz für diese Schnittstelle am Handgelenk darzustellen.
Die COVID-19-Pandemie wurde von den großen Tech-Unternehmen genutzt, um sich weiter zu positionieren, sich in gesellschaftliche Diskurse einzubringen und technisch Machbares auszuloten. Dabei haben sie auch gezeigt, wie abhängig wir als Gesellschaft mittlerweile davon sind, dass diese Unternehmen die Schnittstellen zum Kunden haben und diese freigeben. Die Corona-Warn-App der Bundesregierung funktioniert nur deshalb, weil Apple und Google entsprechende Schnittstellen zur Kontakterkennung freigegeben haben.
Dass solche Plattformen im Bereich der Gesundheit für Versicherte einen Mehrwert bieten können, ist nicht nur bei der Techniker Krankenkasse, sondern auch bei Versicherungs-Unternehmen wie Oscar Health, Ottonova, und Collective Health erkennbar. Die App ihrer Versicherung haben die Kunden ohnehin auf dem Smartphone und sie dient als Eintritt zu einem Ökosystem/Plattform mit Gesundheitsdienstleistern. Sie stehen ihren Kunden 24/7 zur Verfügung und garantieren die Qualität ihrer Anbieter. Auch administrative Tätigkeiten im Gesundheitssystem werden den Nutzern abgenommen, wodurch die Unternehmen eine weitere Schnittstelle zum Kunden besetzen. Je mehr Versicherte sie versorgen, desto mehr Daten generieren diese Plattformen und umso interessanter werden sie für potenzielle Partner (Fleisch 2021, S. 123).
Kommt ein globales Tech-Unternehmen mit attraktiven Angeboten auf den deutschen Gesundheitsmarkt, wird es auch hier versuchen, die Schnittstellen zum Kunden zu besetzen. Anbieter erfolgreicher Plattformen kennen – dank der vorhandenen Daten – die Bedürfnisse ihrer Kundinnen und Kunden genau. Das können sie nutzen,um diese innerhalb des eigenen Angebots zu lenken. So entsteht eine enorme Steuerungsmacht im Markt.
Die bestehenden Kundenschnittstellen sind auch der Grund, warum die Tech-Unternehmen derzeit gute Aussichten darauf haben, Gesundheitsplattformen in Deutschland erfolgreich anzubieten. Sie kennen heute schon die Bedürfnisse der Menschen,weil sie über große Datenmengen verfügen und haben die notwendigen finanziellen Mittel auch langfristige Strategien umzusetzen. Was diesen Unternehmen in Deutschland aber bislang fehlt, ist der Zugang zu ambulanten und stationären Gesundheitsdaten. Ohne die kommt eine Gesundheitsplattform kaum über einen erweiterten Wellness- und Fitness-Bezug hinaus.
An dieser Stelle stoßen auch die Tech-Unternehmen auf den Unwillen zu Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen, das aufgrund der Barrieren wie ein stark regulierter Markt zu betrachten ist.
Selbst wenn man mit der Smart Watch ein EKG hochladen kann, fehlen für einen wirklichen Mehrwert die ärztlichen Befunde, also die Verknüpfung mit weiteren relevanten Daten. Denn die Digitalisierung ist nicht nur das Erfassen, Sammeln und Auswerten von Daten, sondern vor allem auch diese Daten zu verknüpfen, verfügbar zu machen und letztendlich zu interpretieren. Sich auf die Regulierung zu verlassen ist aber keine gute Strategie für die in diesem Markt etablierten Akteure, wie bereits andere Branchen aus regulierten Märkten zu spüren bekommen haben.
Stattdessen – und letztendlich hat es der Staat mit der Corona-Warn-App vorgemacht,wird die weitere Ausgestaltung der Digitalisierung auch über Kooperationen gestaltet werden. Die Akteure im Gesundheitswesen dürfen die Tech-Unternehmen weder verteufeln noch ihnen vollständig das Feld überlassen. Dabei stellt sich die Frage, wer in Deutschland eine solche Plattform stellen kann und sollte, wenn wir dieses Feld eben nicht den Tech-Unternehmen überlassen wollen. Zunächst kommen hier die folgenden weiteren Player in Betracht:
- Krankenkassen
- Klinik-Konzerne
- Apothekenverbände bzw. Pharmagroßhandel
- Spezialisierte Unternehmen als Anbieter von elektronischen Patientenakten
- Anbieter von Healthcare-Technologien
Von all diesen Akteuren sind nur Krankenkassen nicht gewinnorientiert, vor allem aber sind Krankenkassen Körperschaften öffentlichen Rechts. Der Staat kann übersie als Instrument deutlich mehr Einfluss auf die soziale Ausgestaltung eines Gesundheitssystems in Zeiten der Plattformökonomien nehmen als über jeden andern Player. Aus Sicht eines Gesundheitssystems sind sie daher ideal dafür geeignet, eine Plattform zur Verfügung zu stellen, auf der dann auch andere Beteiligte, auch mit privatwirtschaftlichen Interessen, unter den von der Gesellschaft aufgestellten Regeln ihre Leistungen und Services anbieten können.
Krankenkassen sind keine Digital-Unternehmen
Mit der Verpflichtung, dass Krankenkassen ihren Versicherten eine ePA anbieten müssen, hat der Gesetzgeber einen zentralen digitalen Datenspeicher unter vollständiger Kontrolle des Versicherten geschaffen. Damit wurde den Krankenkassen eine zentrale Aufgabe in der Digitalisierung zugewiesen. Auch wenn die ePA zum Start nicht mehr als ein sicherer Datensafe ist, bringt sie die besten Voraussetzungen mit, zu einer zentralen Schnittstelle zwischen Versicherten, Krankenkassen und Leistungserbringern ausgebaut zu werden. Somit kann sie zur Basis eines Gesundheitsökosystems werden, das keine wirtschaftlichen Interessen verfolgt und unter strengen Datenschutzvorgaben steht. Dort könnten Patientinnen und Patienten alle Gesundheitsbelange selbst verwalten. Befunde, Arztbriefe, Labordaten und Röntgenbilder sind nicht nur immer zur Hand, sie können bei Bedarf auch bequem mit anderen Leistungserbringern geteilt werden.
Füllen die Krankenkassen hier eine aktive Rolle aus und wirken, zusammen mit den Leistungserbringern, an der weiteren Gestaltung der ePA mit, kann es gelingen, über Schnittstellen zu den Tech-Unternehmen am digitalen Fortschritt zu partizipieren und gleichzeitig die Hoheit und Kontrolle über die Entwicklung zu behalten. Gelingt das nicht, laufen die Krankenkassen Gefahr, mittelfristig von einem Player wie Ping An verdrängt zu werden. Sie verkümmern so zu reinen Zahlungsabwicklern und verwalten letztendlich die Beitragsgelder im Geschäftsinteresse eines internationalen Konzerns, anstatt diese im Sinne der Versicherten einzusetzen.
Realistisch gesehen, werden globale Tech-Unternehmen immer Lösungen entwickeln, die Krankenkassen allein niemals so entwickeln könnten. Das ist auch nicht das Ziel, die Kompetenzen einer Krankenkasse liegen darin, die Gelder der Versicherten in deren Interesse bestmöglich zu verwenden und die Versorgung im Sinne ihrer Versicherten aktiv zu gestalten. Wenn sie ihren Versorgungsauftrag ernst nehmen und sich der Entwicklung nicht versperren, bringen sie durch die patientenbestimmte ePA optimale Bedingungen mit, als Partner auf Augenhöhe die Angebote der Tech-Unternehmen, von Start-ups und Leistungserbringern zu integrieren und die Schnittstelle zu den Versicherten zu betreiben.
Die geplante Einführung des E-Rezepts zeigt jedoch, dass das kein Selbstläufer ist: Hier wird deutlich, wie groß die Tendenz der beteiligten Akteure zum Klein-Klein ist und wie gering die Bereitschaft, das große Ganze betrachten. Aus dieser übergreifenden Perspektive gibt es schlichtweg keinen Grund, das E-Rezepts nicht als klar definierten Teil der ePA zu entwickeln. Umgesetzt werden soll nach derzeitigem Dis-kussionstand dennoch quasi das Gegenteil: Das E-Rezept wird als eigene Anwendung von der gematik programmiert werden. Wer künftig digitale Rezepte nutzen will, benötigt nur für diesen Schritt eine separate App und vorübergehend ein zusätzliches Authentifizierungsverfahren.
Das Prinzip „für jede Funktion eine zusätzliche App“ macht die Digitalisierung für die Menschen nicht einfach, sondern kompliziert.
Daten neu denken heißt besser versorgen
Ein weiterer neuralgischer Punkt für die erfolgreiche Nutzung der Digitalisierung sind Daten, genauer gesagt der Umgang damit. Halten wir am noch immer dominierenden Prinzip der Datensparsamkeit fest, verbauen wir uns wichtige Chancen, die uns die Digitalisierung bietet. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Daten im Gesundheitswesen Leben retten können. Je mehr Daten wir haben, desto besser kann die Versorgung gestaltet werden. Ein Beispiel: Die Krankenkasse könnte auf gefährliche Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln hinweisen, die einem Patienten von verschiedenen Ärzten verordnet wurden.
Ohne Daten wird den Erwartungen der Versicherten von der Digitalisierung nicht entsprochen werden können. Wüssten die Krankenkassen, welche ihrer Versicherten gegen das Coronavirus geimpft sind, könnten sie anhand der Abrechnungsdaten wertvolle Rückschlüsse über mögliche Impfdurchbrüche und deren Verläufe ziehen. Einen dokumentarischen Aufwand für die Impfenden gibt es ohnehin, weil darin aber nicht an die Weitergabe an die Kasse gedacht wurde, bleibt diese wichtige Möglichkeit relevante Daten im Sinne des Gesundheitsschutzes zu nutzen, aus.
Historisch gewachsene Prozesse bremsen die Digitalisierung zusätzlich aus: Wenn derzeit Daten erhoben werden, erreichen sie die Krankenkassen manchmal erst Monate später. Im ungünstigsten Fall erfährt eine Krankenkasse von der Schwangerschaft einer Versicherten erst sechs Wochen vor der Geburt, wenn das Mutterschaftsgeld beantragt wird. Ein Grund liegt an dem zweistufigen Honorarsystem der vertragsärztlichen Versorgung, bei dem quartalsweise abgerechnet und durch die KVen geprüft wird. In vergangenen analogen Zeiten hatte dieses Vorgehen sicher seine Berechtigung, aber heute gibt es keinen Grund mehr, dass Diagnosen oder Rezepte nicht taggleich bei den Krankenkassen ankommen.
Daten helfen Krankenkassen auch dabei, vernünftige und zielgenaue Individualprävention zu ermöglichen. Nach dem Modell, wie wir heute Prävention betreiben ist sie sehr teuer und ineffektiv: Sie läuft nach dem Prinzip, dass qualitätsgeprüfte Angebote prinzipiell allen Versicherten offenstehen. Technisch sind wir längst weit genug, statt mit der „Gießkanne“, die Versicherten mit deutlich individuelleren Präventionsangeboten viel zielgenauer anzusprechen und so Erkrankungen zu verhindern.
Wichtig bei dieser Debatte ist aber, dass das Prinzip der Freiwilligkeit erhalten bleibt. Das Sammeln und Auswerten großer Datenmengen im Sinne einer besseren Gesundheitsversorgung in der Solidargemeinschaft wird nur akzeptiert werden, wenn gleichzeitig die Datenweitergabe an die Industrie ohne Zustimmung nicht möglich ist und auch die Versorgungsdaten nur verarbeitet werden können, wenn der Versicherte dem auch zustimmt.
Fazit: Prozess zu Ende denken
Die gute Nachricht ist: Wir müssen beim Thema Daten nicht bei null anfangen. Schon heute stehen viele verschiedene Töpfe mit gesundheitsrelevanten Daten zu Verfügung.
Mit fortschreitender Digitalisierung werden die Datenmengen zunehmend größer und wichtiger für die Versorgung. Gesundheitsdaten liegen heute zum Beispiel in Krankenhausinformationssystemen und Patientendatenmanagementsystemen, in der Praxisverwaltungssoftware, in Apotheken, bei Krankenkassen, Pflegedienstleistern sowie bei Anbietern von Gesundheitsdienstleistungen. Aber diese Systeme sind nicht miteinander interoperabel, sie kommunizieren nicht miteinander. Die Folge: Noch immer werden Entlassbriefe aus dem Krankenhaus in die Arztpraxis gefaxt und dort bestenfalls eingescannt. Noch immer ist es selbst innerhalb eines Krankenhauses teilweise ein Problem, Daten von einer Station zur anderen zu übertragen.
Obwohl Digitalisierung hier für mehr Tempo und weniger Aufwand sorgen könnte, ist dennoch ein oft von Skeptikern angeführtes Argument, die Digitalisierung raube den Anwendern Zeit. Das geschieht aber eben nicht durch das Prinzip Digitalisierung, sondern durch schlechte Umsetzung: Wer sich im Klinikalltag durch umständliche und langwierige Bedienvorgänge medizinischer Software quält oder ständig Daten mehrfach eingeben muss, erlebt Digitalisierung eher als Mehrbelastung denn als Erleichterung.
Eine einfache Bedienung und ein schnell ersichtlicher Nutzen im Alltag sind daher kritische Erfolgsfaktoren für die Digitalisierung (Haas 2017). Auf die digitalen Zuständein den Krankenhäusern und teilweise antiquierte Praxisverwaltungssoftware kann nur wenig Einfluss von außen genommen werden. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz stellt der Gesetzgeber immerhin entsprechende Fördermittel bereit und hebt den Digitalisierungsgrad deutscher Krankenhäuser.
Mit der ePA steht nun außerdem eine Plattform zur Verfügung, an die sich alle Krankenkassen und die oben genannten Leistungserbringer sowie Anbieter von DiGAs über die Telematikinfrastruktur an ein interoperables System andocken müssen. Hier haben wir, definiert und überwacht vom Gesetzgeber, eine von den Krankenkassen zur Verfügung gestellte Infrastruktur, auf der Daten für Versicherte, unter deren Hoheit, ausgetauscht werden können.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) ist zudem beauftragt, unter Einbezug aller relevanten Akteure, ein technisches Format zum Austausch medizinischer Daten zu entwickeln. Diese Medizinischen Informationsobjekte (MIO) sind nach semantischen und syntaktischen Standards gespeicherte Daten und zwischen den verschiedenen Leistungserbringern ausgetauscht sowie von deren Systemen gelesen und verarbeitet werden. Etabliert sich dieser Standard durch die breite Verwendung auch beiden Tech-Unternehmen, können Versicherte die Daten in der ePA mit Dritten teilen.Mit diesem System aus ePA und klar definierten Schnittstellen und Datenstrukturenbietet die Chance für den Versicherten in nur einer App Interoperabilität und Versorgungaus einem Guss anzubieten und trotzdem alle Beteiligten in den Prozess einzubinden.
Diese grundsätzliche technische Offenheit beziehungsweise der Abbau unnötiger Barrieren zwischen den einzelnen Leistungserbringern würde auch dazu führen, dass den Krankenkassen die Kundenschnittstelle nicht an Akteure mit ausgeprägtem unternehmerischem Eigeninteresse verloren geht, die Menschen in Deutschland aber gleichzeitig nicht auf Health-Innovationen von Tech-Unternehmen verzichten müssen. Damit wäre ein entscheidender Schritt gemacht: Die Daten und darauf aufbauenden Prozesse sind nicht nur in der Hand der Versicherten, sondern sie würden über die Sektorengrenzen hinweg funktionieren. Eine kluge Nutzung der ePA-Potenziale wäre der Abschied vom digitalen Klein-Klein und würde einen vernünftigen Datenschutz gewähren.
Wir stehen in Deutschland mit der Digitalisierung unseres Gesundheitssystems an einem Scheidepunkt: Wird die Entwicklung in den kommenden Jahren von großen Konzernen mit neuen Technologien bestimmt – mit allen Folgen für unseren Datenschutz und unsere Datenhoheit – oder finden wir einen Weg, mit dem Fortschritt mitzuhalten und gleichzeitig die Kontrolle über unser Gesundheitssystem zu behalten?
Für einen guten Ausgang müssen wir die jetzige Entwicklung beibehalten, darauf aufsetzen und weiter an Tempo zulegen. Dann haben wir gute Voraussetzungen, die Digitalisierung des Gesundheitswesens im Sinne der Patientinnen und Patienten zu gestalten und uns den technologischen Fortschritt dafür zu Nutzen zu machen.
Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "Gesundheit im Zeitalter der Plattformökonomie" herausgegeben von Jens Baas. Alle Informationen zum Titel finden sie hier.