1. In Ihrem Buch „Die Zukunft der Medizin“ beschreiben über 50 namhafte Experten die zukünftigen Entwicklungen der Medizin. Welche technologischen Revolutionen und Innovationen erwarten uns in den nächsten Jahrzehnten in Krankenhäusern und Arztpraxen?
Erwin Böttinger: Die Medizin der Zukunft wird mehr als je zuvor personalisiert, daten- und evidenzbasiert sein. Wir befinden uns am Anfang einer neuen Ära, in der die Wechselwirkung zwischen bisher unerreichten Fortschritten beim Verständnis von Krankheitsursachen sowie daraus abgeleiteten Therapieansätzen und neuen Möglichkeiten der Datenverarbeitung und Künstlichen Intelligenz (KI) den Fortschritt vorantreibt.
Für Ärzte, Patienten und das Gesundheitssystem ist das eine Riesen-Chance. Für viele bisher kaum heilbare Erkrankungen wird es neue Therapien geben. Ärzte werden zukünftig in Echtzeit durch KI-Systeme unterstützt, um das sich rasch entwickelnde Wissen in ihrem Fach ohne Verzögerung einsetzen zu können. Aber keine Sorge: Ärzte werden zukünftig nicht durch KI ersetzt, sondern ergänzt.
Auch die Patienten profitieren. Sie können – sofern sie es wollen - das Management ihrer Erkrankungen mit dem Smartphone buchstäblich selbst in die Hand nehmen. Das Gesundheitssystem selbst und all seine Akteure werden sich anpassen müssen, denn traditionelle Rollen wie die des Arztes oder der Krankenversicherung werden infrage gestellt. Sektorengrenzen müssen aufgebrochen werden, damit digital unterstützte Koordination der Patientenversorgung gelingen kann. Neue Vergütungsmodelle wie „Value-based Care“ müssen erprobt und eingeführt werden. Schließlich bedeutet ein neues Niveau datenbasierter Medizin auch Transparenz über Qualität in der Versorgung. Eines ist klar: die Veränderungsgeschwindigkeit in der Medizin wird in Zukunft so hoch sein wie nie zuvor.
2. Im Vergleich mit anderen Ländern ist das deutsche Gesundheitswesen in vielen Punkten rückständig. Wie können wir dafür sorgen, dass Deutschland nicht den Anschluss verpasst? Was ist zu tun, damit die medizinischen und digitalen Innovationen schneller zum Patienten kommen? Und was ist am dringlichsten?
Jasper zu Putlitz: Deutschland hat weiterhin eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Aber bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems sind wir arg ins Hintertreffen geraten. Das zeigt auch eine 2018 von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Studie, bei der Deutschland in einer Gruppe von 17 Ländern den vorletzten Platz belegt hat. Wir sollten nicht vergessen: vor 15-20 Jahren war Deutschland einer der Vorreiter bei der Nutzung von IT-Systemen im Gesundheitswesen. Danach ist – nicht zuletzt wegen des lähmenden und letztlich nicht zielführenden Prozesses zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte – nicht viel passiert. Nahezu zwei verlorene Dekaden, während andere Länder Deutschland überholt haben.
Um jetzt aufzuholen, müssen die IT-Investitionen im Gesundheitswesen deutlich erhöht werden, damit modernste Infrastrukturen für die Digitalisierung des Gesundheitssystems geschaffen werden. Ferner bedarf es der Kooperation zwischen allen Akteuren im Gesundheitswesen bei der Entwicklung von digitalen Lösungen. Schließlich müssen die Hürden, die einer raschen Einführung von digitalen Innovationen auf Ebene der Gesetzgebung und der gemeinsamen Selbstverwaltung entgegenstehen, rasch beseitigt werden. Andere Länder sind schneller – ohne dass es Patienten bisher geschadet hat.
3. Globale Tech-Unternehmen wie Amazon, Apple, Google oder Microsoft drängen in den Gesundheitsmarkt – müssen wir uns fürchten oder werden die sogar unsere Probleme lösen?
Erwin Böttinger: Zu Furcht sehen wir keinen Anlass. Richtig ist, dass Tech-Konzerne derzeit viel in die Entwicklung von Lösungen für Gesundheitsprobleme investieren. Motiviert sind ihre Aktivitäten auch durch die mangelnde Veränderungsgeschwindigkeit bei traditionellen Akteuren des Gesundheitssystems. Die Stärken der Tech-Konzerne liegen in der Datenanalyse und dem Betrieb von Daten-Infrastrukturen – passend für die Ära der datengetriebenen Medizin. Alle großen Tech-Konzerne haben erstklassige Teams von Medizinern, Forschern und Data Scientists aufgebaut. Und die haben weitgehende Ambitionen – als Beispiele seien die Gründung der Apple-Tochter AC Wellness, die Google-Ausgründung Verily oder das Joint Venture zwischen Amazon, Berkshire Hathaway und J.P. Morgan namens Haven genannt.
Für Patienten, Ärzte und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung sehen wir die beschriebenen Aktivitäten als große Chance, denn die professionelle Analyse von Daten und der Einsatz künstlicher Intelligenz kann den medizinischen Fortschritt stark beschleunigen. Ein großes Risiko jedoch besteht für die Akteure des Gesundheitssystems, die den Veränderungsbedarf nicht erkennen und Medizin weiter so wie bisher betreiben wollen. Sie sollten über Kooperationen mit Tech-Playern nachdenken, bei denen sich die Stärken der jeweiligen Partner ergänzen.
4. Die elektronische Patientenakte soll nun wirklich kommen. Wird das der Durchbruch? Was wird sich ändern?
Jasper zu Putlitz: Für die dringend notwendige digitale Transformation unseres Gesundheitssystems bringt die elektronische Patientenakte allein – in welcher Form auch immer sie kommt – noch keinen Durchbruch. Aber sie ist ein wichtiger Mosaikstein auf dem Weg zu einem zukunftsfähigen Gesundheitssystem. Denn dieses beruht zu einem wesentlichen Teil auf der Zusammenführung von Patientendaten, auf die Ärzte und andere Leistungserbringer mit Einwilligung des Patienten und auch die Patienten selbst sicher zugreifen können. Dann hat man jederzeit Zugang auf die Vorgeschichte des Patienten und kann beispielsweise Doppeluntersuchungen vermeiden. Wichtig ist, dass am Ende nicht mehrere inkompatible Systeme existieren. Damit wäre Patienten nicht geholfen. Vielmehr kommt es zukünftig darauf an, dass auf Basis moderner, interoperabler IT-Infrastrukturen nutzenstiftende medizinische Anwendungsfälle definiert und umgesetzt werden, deren Erfolg direkt messbar ist. Auf diese Weise werden die Effizienz und die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert.
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