Einführung Planetary Health

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

zu Beginn hatte dieses Buchprojekt den Arbeitstitel Klimawandel und Gesundheit. Während der Entstehung wurde schnell klar, dass auch das Artensterben, unsere raumgreifende Lebensweise sowie die Verschmutzung von Land, Wasser und Luft die Krankheitslast erhöhen. Das Bild, das es zu zeichnen galt, wurde dadurch komplexer, größer und die Inhalte verflochtener, die Aussagen noch politischer.

Die Ursache für die Veränderung der Ökosysteme ist unsere Lebens- und Wirtschaftsweise. Sie führt dazu, dass planetare Grenzen überschritten werden und wir uns zunehmend unserer Lebensgrundlagen berauben. All das ist anthropogen, also menschengemacht und hat nicht nur Auswirkungen auf wenige Generationen, sondern wird viele Jahrtausende weiterwirken. Die Auswirkungen sind so tiefgreifend, dass sie wesentlich Einfluss nehmen auf die Geschicke des Planeten Erde. Daher leben wir in einem neuen Zeitalter: dem Anthropozän.

In erdgeschichtlichen Dimensionen stellt diese Überschreitung planetarer Grenzen einen medizinischen Notfall dar, der sofortiges Handeln erfordert. Noch niemals hat in so kurzer Zeit eine so schnelle Veränderung wichtiger planetarer Vitalparameter wie des atmosphärischen CO2 stattgefunden. Wenn wir unsere Haltung und unser Verhalten, einschließlich unsere Wirtschaftsweise, nicht ändern, übergeben wir den folgenden Generationen eine zunehmend unbewohnbare Erde und vieles von dem, was der medizinische Fortschritt bisher erreicht hat, steht wieder infrage.

Um ein grundlegendes Verständnis der Ökosysteme und der schon eingetretenen Veränderungen zu ermöglichen, beginnen wir das Buch mit dem Konzept Planetary Health. Es beschreibt wie Ökosysteme miteinander interagieren und wie die Gesundheit der Menschen von der Gesundheit der Ökosysteme abhängt. Weil Planetary Health noch eine junge Disziplin ist, war es für uns eine umso spannendere Herausforderung, die Bewertungen der gesundheitlichen Auswirkungen beeinträchtigter Ökosysteme für die Fachgebiete der jeweiligen Autor:innen schlüssig zusammenzuführen. Für einige Fachgebiete sind die Auswirkungen gut untersucht, groß und unmittelbar, für andere sind die Auswirkungen schlüssig darzulegen, aber oft mittelbar und daher weniger klar belegt. Für alle Fachgebiete gilt: die Auswirkungen sind vorhanden.

Das Verständnis für die Arbeit im Gesundheitssektor verändert sich dadurch gerade grundlegend. Im Juli 2021 wurden wir überrascht durch die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, wir erleben eine große Pandemie, wir registrieren Hitzewellen mit tausenden Toten und noch mehr Hitzekranken, Krankheitserreger, die in unseren Breiten noch nicht gesehen wurden, eine rasant steigende Zahl von Allergien und Atemwegserkrankungen durch verlängerten Pollenflug und Luftverschmutzung, krankhafte Fettleibigkeit, Mangel- und Fehlernährung.

Aus all dem ergibt sich, dass die Individualmedizin zwar unbestritten großartige Erfolge hatte, aber durch eine sich immer weiter ausdifferenzierende Spezialisierung kaum mehr in der Lage ist, einen Schritt zurück zu gehen, um den Blick auf das große Ganze zu richten. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem uns eine noch so perfektionierte individuelle Medizin allein nicht den Weg aus der Gesundheitskrise weisen wird. Wir werben daher mit diesem Buch für eine Öffnung der klassischen Medizin hin zu einer eher holistischen und präventiven Herangehensweise, im Sinne von Planetary Health.

Planetary Health ist dabei immer auch die Aufforderung, interdisziplinär und über Sektoren hinweg nach Erklärung und Lösungen zu suchen. Damit Handeln stattfindet, zeigen wir nicht nur, an welchen Stellen die einzelnen Fachgebiete bereits mit einem sich verändernden Krankheitsspektrum konfrontiert sind. Wir schlagen auch eine Erweiterung des Ethikbegriffs vor und zeigen, wie man mutig handeln kann. Es geht in den kommenden Jahren um die einmalige Gelegenheit, die Weichen neu zu stellen, um die schlimmsten Auswirkungen der planetaren Krisen abzumildern und wichtige Zeit zu gewinnen für die notwendigen Anpassungen.

Ihre Claudia Traidl-Hoffmann, Christian Schulz, Martin Herrmann und Babette Simon

August 2021