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Vom Pesthaus zum Universitätskrankenhaus

Vom Pesthaus zum Universitätskrankenhaus – Die Berliner Charité im historischen Überblick

THOMAS SCHNALKE

Das Jahr 1709 setzt einen Paukenschlag. Die Pest ist wieder unterwegs. Ausgebrochen in Nordosteuropa, bedroht sie Berlin. Der preußische König Friedrich I. reagiert sofort. Ein Gutachten wird eingeholt, die Kontrolle an den Stadteinlässen verschärft und ein Gebäude errichtet. Das Pesthaus, draußen vor dem „Spandower Thor“ gelegen und als Isolierstation gedacht, ist 1710 bezugsfertig. Doch Glück gehabt, der Seuchenzug gerät ins Stocken und kommt schließlich vor Prenzlau zum Erliegen. Das zweistöckige Haus auf der grünen Wiese allerdings, im Geviert gebaut, ist da und wird genutzt: als Spinn- und Arbeitshaus für mittellose Vagabunden und – zumindest auf dem Papier – als Lazarett für preußische Soldaten zunächst. Ab 1727 kommen weitere Funktionen hinzu, die untere Etage wird mit armen alten, aber noch gesunden Menschen, den sogenannten Hospitaliten, belegt. Oben öffnet eine Art Krankenhaus. Darin werden neben behandlungsbedürftigen Militärs auch arme Kranke zur medizinischen Versorgung und ledige Schwangere zur Entbindung aufgenommen.

Die Charité erhält ihren Namen

Ein Altenheim und Armenasyl mit angeschlossenem Garnisons- und Bürger-Lazarett – das ist die Einrichtung zuerst, als sie am 14. Januar 1727 vom „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I.ihren Namen erhält: „Es soll das haus die charité heißen“, notiert der Monarch eigenhändig auf eine Eingabe des Armendirektoriums (Lennig 2010, 8). Der Name ist Programm. Das lateinische caritas betont eine religiös grundierte, aber durchaus weltlich gemeinte Fürsorge und Barmherzigkeit. Eingebettet ist die staatliche Vorgabe in ein militärisches Kalkül, denn an den vielen Kranken lassen sich Krankheitsverläufe gut beobachten und Behandlungsschritte erlernen. So sehen die Potentaten in der Charité im 18. Jahrhundert vor allem ein militärärztliches rechtlichen Weichen gestellt, eine grundsätzlich überarbeitete Medizinalordnung regelt in preußischen Landen Ausbildung, Prüfung, Approbation und Zuständigkeiten auf dem medizinischen Markt. Die Lehre liegt seit 1724 in den Händen einer sechsköpfigen Professorenschaft,dem Berliner Collegium medico-chirurgicum.Die Mitglieder des Kollegiums unterrichten – eher nebenbei – während der Visiten in der Charité,vor allem jedoch auf dem 1713 eröffneten Anatomischen Theater im ehemaligen Marstall, auf dem Areal der heutigen Staatsbibliothek Unter den Linden gelegen. Lehrveranstaltungen finden darüber hinaus in den chemischen Laboren der Hofapotheke und in den Heilkräuterkammern des Botanischen Gartensstatt. Bei den Hörern handelt es sich neben den angehenden Militärärzten um die künftigen in Berlin und den preußischen Landen tätig werdenden Wundärzte, Apotheker und Hebammen. In privaten Kursen geben die Professoren des Kollegiums ihr medizinisches Wissen aber gern auch gegen ein gewisses Hörergeld an angehende auswärtige Medizinstudenten oder bereits fertige Absolventen der Medizin weiter, die Berlin ob seiner hervorragenden Weiterbildungsmöglichkeiten im Rahmen der damals üblichen akademischen Studienreise ansteuern. Ihre Forschungsergebnisse verhandeln sie insbesondere in den verschiedenen Klassen der 1700 gegründeten Akademie der Wissenschaften. Bei sich zu Hause bauen sie schließlich nicht selten wissenschaftlich wertvolle Sammlungen, bisweilen ganze medizinische „Museen“auf. Zu den prominentesten Vertretern dieser Berliner „Privatärzte“ gehören Maximilian Spener, Johann Nathanael Lieberkühn, Johann Friedrich Meckel der Ältere, Johann Gottlieb Walter und sein Sohn Friedrich August Walter. Noch gibt es in Berlin keine Universität. Die medizinische Ausbildung in der preußischen Residenzstadt gewinnt jedoch rasch einen exzellenten überregionalen Ruf.

Schon 1727 wird die Charité aufgestockt. In der dritten Etage sind die „Infektiösen“ untergebracht, Patienten mit Geschlechtskrankheiten zumeist. Ihre Miasmen, aber auch diequecksilbergeschwängerten Dämpfe der schweiß- und speicheltreibenden Therapie können gefahrlos nach oben abziehen. Noch hat jeder Kranke ein Bett für sich, das Essen ist gut und ausreichend. Pro Woche zweimal kommen die leitenden Ärzte, der ‚Internist‘ Theodor Eller und der leitende Militärchirurg Gabriel Senff, zur Visite in die Charité hinaus. Den Dienst vor Ort versehen sogenannte Pensionär-Chirurgen, junge Feldschere, die sich für eine dreijährige militärmedizinische Weiterbildung verpflichtet haben. Doch die Verhältnisse verschlechtern sich. Berlin wächst und wächst, und der Krankenstand nimmt zu. Zu viele Menschen werden in die Charité eingewiesen, sodass die Mittel zusehends knapper werden. Die hygienischen Verhältnisse lassen zu wünschen übrig. Zudem gibt es keinen regulären Krankenwärterstand. Zuständigkeiten bleiben ungeklärt und damit scheitern letztlich alle dienstlichen Instruktionen an der Wirklichkeit.

Erster Neubau und vollständige Wandlung zum Krankenhaus

Schließlich wird die Charité zum ersten Mal neu gebaut. Das ursprüngliche Pesthaus verschwindet, und auf dem Gelände des Südflügels der heutigen Inneren Medizin entsteht von 1785 bis 1800 ein spätbarocker Dreiflügelbau mit 680 Betten. Durch den Auszug der Hospitaliten 1798 wird diese später sogenannte „Alte Charité“ vollständig zum Krankenhaus. Nun ist sie auch eine Klinik im modernen Sinne. Geisteskranke etwa werden als Patienten verstanden, die mit wissenschaftlichem Anspruch untersucht, befundet und behandelt werden. Allerdings hat die neugebaute Charité einen Schönheitsfehler: Die sanitären Verhältnisse werden den Anforderungen nicht gerecht. Abtritte gibt es kaum. So verstummen die Klagen nie.

Um 1800 wird in Berlin das medizinische Ausbildungswesen auf neue Füße gestellt. Zunächst erhält die Militärmedizin eine eigene Schule. Die Pépinière geht 1795 an den Start. Ihre Eleven durchlaufen einen straff organisierten vierjährigen Unterricht. Unter strengem militärischem Drill werden ihnen in dieser Einrichtung vor allem allgemein bildende Inhalte vermittelt. Die medizinischen Fächer hören sie bei den Professoren des Collegium medico-chirurgicum. Die Nachfolgeorganisation des Kollegiums – die 1811 gegründete Medizinisch-chirurgische Akademie für das Militär – und die Pépinière werden 1895 zur Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesenvereinigt. Ab 1910 residiert diese Ausbildungseinrichtung nördlich der Charité an der Invalidenstraße in einem repräsentativen Bau, dem gegenwärtigen Sitz des Bundeswirtschaftsministeriums. Lang ist die Reihe herausragender medizinischer Persönlichkeiten, die, aus wenig begüterten Verhältnissen stammend, über den militärmedizinischen Ausbildungsweg in Berlin ihr ärztliches Rüstzeug erwerben: Rudolf Virchow, Hermann von Helmholtz, Emil von Behring und viele mehr.

Ab 1810 hat Berlin eine eigene Universität und mit Christoph Wilhelm Hufeland eine nersten medizinischen Dekan mit überregionaler Ausstrahlung. Als höchst einflussreich erweist sich die mit seinem Namen verknüpfte Begründung einer modernen Diätetik unterdem Schlagwort „Makrobiotik“. Zudem geißelt Hufeland die Praxis des exzessiven Aderlasses und plädiert für eine Neubesinnung auf dieSelbstheilungskräfte im menschlichen Organismus. Er setzt dabei insbesondere auf dasKonzept der Lebenskraft und wird zu einem führenden Vertreter des Vitalismus. Gleichzeitig entwirft er eine Medizin für Arme und publiziert in diesem Zusammenhang 1810 eine weitverbreitete „Armenapotheke“ (Armen-Pharmakopöe).

An der jungen Medizinischen Fakultät schreiben sich schon im ersten Semester 117 Studenten ein. Die Charité ist allerdings noch für lange Zeit ein Ding für sich. Zu groß und für die Lehre verwirrend erscheint den reformerischen Universitätsgründern um Wilhelm von Humboldt das Krankenhaus. Die Fakultät mietet zunächst kleinere Räumlichkeiten in der Friedrichstraße an. 1818 werden die Einrichtungen schließlich im Universitätsklinikum an der Ziegelstraße zusammengefasst. Berühmtheit erlangt alsbald die sogenannte „Berliner Chirurgenschule“, beginnend mit Carl Ferdinand von Graefe und vor allem Johann Friedrich Dieffenbach, der nicht nur als plastischer Chirurg von sich reden macht, sondern auch ein erstes Lehrbuch der Krankenpflege verfasst und 1832 an der Charité die Einrichtung einer Krankenwärterschule initiiert. 1847, kurz vor seinem Tode, unterzieht Dieffenbach das neuartige Narkose-Verfahren mithilfe von Schwefeläther einer kritischen Würdigung. Seine Publikation „Der Aether gegen den Schmerz“ bahnt der Verbreitung der Anästhesie im deutschen Sprachraum in entscheidender Weise den Weg.

Die zunehmende Akademisierung der Charité

Peu à peu beginnt nun die Akademisierung der Charité. Das naturwissenschaftliche Denken in der Medizin findet hier einen Anker und setzt sich durch. 1828 ist es als erste die Medizinische Klinik, die aus der Ziegelstraße „hinüber überwechselt“. Mit der Berufung von Johann Lucas Schönlein hält dort 1840 eine moderne physikalische Diagnostik Einzug. Detaillierte Befunddokumentation, Auskultation, Perkussion und Messung der Körpertemperatur mit Hilfe des Fieberthermometers markieren die Leitlinien eines neuen, nüchternen „klinischen Blicks“. Im Jahre 1831 liefert die Berliner Cholera den Anlass, an der Charité eine eigene Prosektur einzurichten. Rudolf Virchow, Schüler des Berliner Anatomen, Physiologen und Mikroskopikers Johannes Müller, durchläuft hier seine Assistentenzeit. 1848 erklärt Virchow unter dem Eindruck der gescheiterten Revolution und den Lebensbedingungen der Armen und Ärmsten in der Gesellschaft die Medizin als „eine sociale Wissenschaft“. Politik hingegen sei „weiter nichts, als Medicin im Grossen“ (Virchow 1848, 125). Seine offenen Worte, aber auch sein im gleichen Jahr verfasster kritischer Berich tüber die Ursachen einer Typhus-Epidemie in Schlesien machen ihn in Berlin zur „Persona non grata“. Virchow nimmt eine Pathologie-Professur im bayerischen Würzburg an und kehrt 1856 in gleicher Funktion an die Berliner Friedrich Wilhelms-Universität zurück. Sein eigens für ihn erbautes Institut erhält er auf dem Gelände der Charité eingerichtet. In einer Serie von Auftaktvorlesungen – 1858 unter dem Titel „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ als Buch veröffentlicht – entwickelt er sein Konzept einer Zellularpathologie und begründet damit ein radikal neues Körperverständnis. Fortan gelten nicht mehr die Säfte, sondern die Zellen als kleinste komplette Lebenseinheiten des menschlichen Körpers. Laut Virchow entscheiden letztlich die Wirkkräfte der Zellen und Zellverbände über Gesundheit und Krankheit.

Von Virchows lokalistischem Denkansatz profitieren in der Medizin ganz unterschiedliche Fächer: Die Chirurgen lernen mit dem Messer gesundes Gewebe besser von krankem zu scheiden. Der Charité-Psychiater Wilhelm Griesinger kämpft in den 1860er-Jahren für die Auffassung, dass Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten seien. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt Virchow einen Sektionsbetrieb durch, der zeitweilig 100 Prozent aller an der Charité Verstorbener eines Jahrgangs unters Messer nimmt. Vom Schnitt zum Text: Virchows Sektionsprotokolle liefern die Grundlage für zahllose neue Erkenntnisse über das Wesen der verschiedensten Krankheiten. Hier findet der gefeierte Pathologe immer wieder die Maxime seiner Zellenlehre bestätigt.

Robert Koch, diametral entgegengesetzt denkender Bakteriologe, wird 1891 Virchows Nachbar. In seinem gleich vor den Charité-Toren errichteten Institut für Infektionskrankheiten – der ob des architektonischen Grundrisses sogenannten Triangel – setzt er insbesondere seine Tuberkuloseforschungen fort. 1882 war Koch, seiner Zeit noch als Mitarbeiter des Kaiserlichen Gesundheitsamts, mit der Entdeckung des „Tuberkelbazillus“ über Nacht weltberühmt geworden. Sein Tuberkulin, eine Suspension vermeintlich abgetöteter Bakterienstämme sollte 1890, inzwischen leitet Koch da suniversitäre Hygieneinstitut, die Volksseuche besiegen. Das Wundermittel erweist sich allerdings als Misserfolg. Therapeutisch erfolgreicherals Koch sind einige seiner Mitarbeiter. Emil Behring begründet zeitgleich 1890 zusamme nmit seinem japanischen Mitarbeiter Shibasaburo Kitasato durch den Nachweis von Antitoxinen im Blut die moderne Serumtherapie. Diphtherie und Tetanus verlieren in der Folgezeit ihren Schrecken. Paul Ehrlich verhilft Behring zu standardisierten und wirksamen Serumchargen. Im Jahre 1897 hebt er mit seiner Seitenkettentheorie und dem darin formulierten Schlüssel-Schloss-Prinzip der Immunrezeptoren die Immunologie aus der Taufe. Dreizehn Jahre später – er leitet inzwischen in Frankfurt am Main sowohl das Institut für Experimentelle Therapie als auch das auf chemische Forschungen spezialisierte Georg-Speyer-Haus – stellt er der Welt mit Salvarsan das erste im Labor entwickelte antibiotisch wirkende Chemotherapeutikum vor.

Das medizinische Berlin um 1900

Lesen, wie es war: Die Erstauflage von 1906 Die Berliner Therapie an den Berliner Universitäten jetzt wiederbelebt. 

Die Medizin hat um 1900 in Berlin ihr absolutes Zentrum und die Charité steckt mitten drin. In den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts gehen drei Nobelpreise an prominente Persönlichkeiten für ihre in Berlin vorgenommenen Forschungen: 1901 wird als erster Emil Behring ausgezeichnet, 1905 Robert Koch und 1908 schließlich Paul Ehrlich. Zeitgleich entwickeln und profilieren sich die Kliniken vor dem Hintergrund einer ungebrochenen Spezialisierungswelle entscheidend weiter. Dynamik ist angesagt. Und: Konkurrenz belebt das Geschäft. Die chirurgischen Kliniken an der Ziegelstraße sind unter Bernhard von Langenbeck und Ernst von Bergmann weltberühmt. Hier werden die Möglichkeiten, die die Einführung der Narkose, Desinfektion, Anti- und Asepsis dem operativen Fach eröffnen, im großen Stile umgesetzt. In ganz Berlin eröffnen ambitionierte Praktiker private Ambulanzen. Albrecht von Graefe – 1851 hat er als erster den Helmholtz’schen Augenspiegel in der Praxis eingesetzt – macht es 1852 mit seiner Augenklinik, einen Katzensprung von der Charité entfernt an der Unterbaumbrücke gelegen, vor. Hier bildet er eine ganze Generation führender Augenärzte aus. Hier begründet er sein Fach. Maximilian Nitze entwickelt in seiner Berliner urologischen Privatpraxis die ersten effektiven Endoskope. Ein Zystoskop bestückt er mit Zangen, Schlingen und Steinbrechern und weist damit 1897 der mikroinvasiven Chirurgie den Weg.

An der Charité hingegen häufen sich um 1890 die Klagen. Ein großer Erweiterungsbaufür Geisteskranke, „Krätze- und Geschlechtskranke“und kranke Strafgefangene auf demnördlichen Charitégelände, bereits 1835 fertiggestellt und fortan „Neue Charité“ genannt,hatte zwar 500 weitere Betten gebracht. Eineigenes Pockenhaus, das älteste heute in seinerBausubstanz noch erhaltene Charité-Gebäude,war überdies 1836/1837 hinzugekommen. Doch die räumlichen, hygienischen und personellen Verhältnisse zum Ende des Jahrhunderts erscheinen desaströs. Schließlich entscheidet sich die preußische Regierung für einen zweiten kompletten Um- und Neubau in der Geschichte der Charité. Zwischen 1896 und 1917 werden „Alte“ und „Neue Charité“ sukzessive abgerissen und durch jenes Backsteinensemble, bestehend aus mehreren großen Klinikbauten, ersetzt, das noch heute den historischen Campus Mitte dominiert. Die Häuser erhalten kleinere Krankenzimmer, funktionierende Sanitäranlagen, moderne Funktionslabors, hygienischen Standards entsprechende Operationssäle und zahlreiche große und gut ausgestattete Hörsäle. Virchows Institut für Pathologie wird in drei Gebäudeteilen ebenfalls neugebaut. Den Anfang macht sein „Pathologisches Museum“. Virchow stellt darin seine über 23.000 Feucht- und Trockenpräparate umfassende Sammlung der Lehre zur Verfügung und zugleich öffentlich aus. Damit ist die Charité für das 20. Jahrhundert exzellent gerüstet. Forschung, Lehre, Krankenversorgung und öffentlicher Auftritt können auf gleichermaßen hohem Niveau geboten werden. Die Charité ist ein Magnet für Studenten, Ärzte und Forscher und genießt höchstes internationales Ansehen, dem selbst die schwierigen Jahre des Ersten Weltkriegs und der beginnenden Weimarer Republik keinen Abbruch tun. Schließlich folgt sogar der arrivierte Ferdinand Sauerbruch1927 einem Ruf aus München an die Berliner Charité.

Die Charité im Nationalsozialismus

Das Jahr 1933 markiert einen radikalen Bruch. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten lässt sich die deutsche Medizin insgesamt, aber auch an der Charité bereitwillig in den Dienst der neuen Ideologie nehmen. Es folgt ein fataler Exodus zahlreicher jüdischer und politisch unliebsamer Mitarbeiter. Die hohe Wissenschaftskraft und das internationale Renommee der Charité nehmen Schaden. Zudem wirken auch an der Charité verantwortliche Mediziner, die etwa durch ihre gutachterliche Tätigkeit „mitlaufen“, sich durch ihre Einbindung in kriminelle Menschenversuche schuldig machen und vereinzelt gar, wie etwa der Psychiater Maximinian de Crinis, in offiziellen und verdeckten Euthanasiemaßnahmen auf menschenverachtende Weise in entscheidender Funktion tätig werden.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert den absoluten Tiefpunkt in der Geschichte der Charité. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind an Leib und Leben zu Schaden gekommen, viele tot, vertrieben oder in Gefangenschaft. Der reguläre Krankenhausbetrieb ist in Teilen gänzlich zum Erliegen gekommen. In aller Regel läuft ein Notprogramm. 90 Prozent der Bausubstanz sind beschädigt, 20 Prozent total zerstört. Allerdings beginnen die Aufräumarbeiten unter der sowjetischen Militäradministration sofort. Bis Ende 1945 sind an der Charité bereits wieder 1.500 Krankenbetten belegt. Anfang 1946 hebt der Lehrbetrieb erneut an. Auch die medizinische Forschung geht, wenn auch zunächst mit bescheidenen Mitteln, abermals an den Start.

Das Ostberliner Universitätsklinikum

Fünf Jahre später, 1951, ist die Charité zwei Jahre nach Gründung der DDR endgültig wieder da. Im Zusammenschluss mit allen klinischen Einrichtungen der Humboldt-Universität erhält sie auch auf Verwaltungsebene den Status eines vollgültigen Universitätsklinikums der Ostberliner Hochschule. Mit der Eingliederung aller medizinisch-theoretischen Institute 1957 kommt schließlich der über 100 Jahre währende Akademisierungsprozess zum Abschluss. Die Charité firmiert nun offiziell als „Medizinische Fakultät (Charité) der Humboldt-Universität zu Berlin“.

Unter den neuen politischen Gegebenheiten und mit Blick auf die grenznahe Lage in Ostberlin bauen die Machthaber die Charité nach außen hin zur medizinischen Vorzeigeinstitution der DDR aus. Intern bemühen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter teils schwierigsten materiellen und logistischen Bedingungen und vor dem Hintergrund eines nahezu permanenten personellen Aderlasses – auch mit dem Mauerbau 1961 kommt das Fluchtgeschehen nicht zu Ende – um eine qualitativ hochwertige Krankenversorgung, medizinische Ausbildung und Forschung. Zwar berichten Zeitzeugen heute von gewissen Freiheiten an der Charité hinsichtlich der beruflichen Entwicklung, Reisetätigkeit und Meinungsäußerung, allerdings achtet eine ausgebaute politisch dirigierte Kaderstruktur und vor allem das System der Staatssicherheit stets auch höchst rigide auf die Einhaltung entsprechender Konformitäten und Grenzen.

Zu Beginn der 1950er-Jahre kommen die wesentlichen Rekonstruktionsmaßnahmen an den beschädigten Charité-Gebäuden zum Abschluss. Ab 1954 wird wieder gebaut. Fünf Jahre später, 1959, ist die Geschwulstklinik fertig, 1960, im Jahr des 250-jährigen Charité-Jubiläums wird die neu errichtete Hautklinik eingeweiht. In den 1960er-Jahren gewinnt die Charité auf verschiedensten Forschungsfeldern – sowohl in Grundlagen‑, wie auch in anwendungsorientierten Bereichen – erneut internationalen Anschluss, was sich nicht zuletzt auch in der Einrichtung von neuen Instituten und Referenzzentren niederschlägt.

Den auch im Stadtbild sichtbarsten Charité-Akzent setzt die DDR mit dem Bau des sogenannten Bettenhochhauses. Im Jahre 1982 durch Erich Honecker eröffnet, vereint das „Chirurgisch-orientierte Zentrum“ alle operativen Fächer. Hier erhalten nicht nur die Patienten eine qualitativ hochwertige Behandlung und Nachsorge, sondern es geht in diesem Gebäude auch die Medizin gänzlich neue Wege. So wird beispielsweise mit Aufnahme des Betriebs das „Konzept des Schnellschnitts“, die räumlich in den Operationsbetrieb integrierte Befundung verdächtigen Gewebes durch einen anwesenden Pathologen, umgesetzt.

Politische Wende und deutsche Wiedervereinigung

Die politische Wende und die deutsche Wiedervereinigung bringen für die Charité erneut grundlegende strukturelle Veränderungen. Auf der Grundlage des (Gesamt‑)Berliner Hochschulgesetzes werden sechs Struktur- und Berufungskommissionen eingesetzt. Alle Professorenstellen werden re-evaluiert und neu ausgeschrieben. Zwischenzeitlich steht der Fortbestandder Charité insgesamt infrage. In teilweise dramatischen Sitzungen schaffen es die Verantwortlichen in Fakultät, Klinik und Verwaltung im Zusammenwirken mit leidenschaftlichen Fürsprechern in der Politik, den Fortbestand der traditionellen Einrichtung zu sichern.

Unter den sich verschärfenden ökonomischen Rahmenbedingungen setzt in den 1990er-Jahren ein Fusionsprozess mit einhergehenden Reorganisations‑, Verdichtungs- und Personalabbaumaßnahmen ein. In den Jahren 1997/1998 wird die Vereinigung mit dem Rudolf Virchow-Klinikum der Freien Universität unter der administrativen Zuständigkeit der Humboldt-Universität zu Berlin umgesetzt. 2001 wachsen die Bereiche Forschung und Lehre der Robert-Rössle-und Franz-Volhard-Klinik in Berlin-Buch der Charité zu. Im Jahr 2003 sind schließlich durch die Fusion mit dem Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Universität alle medizinischen Hochschuleinrichtungen Berlins unter dem Dach der Charité vereint. Heute ist die Charité mit ihren vier Standorten – Campus Charité Mitte (CCM), Campus Virchow Klinikum (CVK), Campus Benjamin Franklin (CBF) und Campus Berlin Buch (CBB) – und ihrer Gliederung in 17 medizinische Zentren das einzige Universitätsklinikum Berlins und dient unter der Bezeichnung „Charité – Universitätsmedizin Berlin“ zugleich als interuniversitäre Medizinische Fakultät den beiden großen hauptstädtischen Universitäten – der Humboldt- und der Freien Universität zu Berlin.

Im Namen „Charité“ (lat. caritas, Barmherzigkeit) drückt sich eine obrigkeitlich festgeschriebene Fürsorge aus. Die damit angesagte gesellschaftliche Verpflichtung wurde in der über 300-jährigen Geschichte der Charité sukzessive medizinisch gefüllt und auf eine letztlich dem kranken Menschen dienliche Diagnostik und Therapie erweitert. Früh schon war daran die Verpflichtung angekoppelt, eine gute medizinische Ausbildung, also eine zeit- und fachgerechte Lehre, zu gewährleisten. Spätestens ab 1810, mit Gründung der Berliner Universität, hielt an der Charité sukzessive auch eine ambitioniert akademische Forschung Einzug,die zwischen 1840 und 1920 zur Blütezeit der Einrichtung führte.

Alle Merkmale zusammen finden sich im heutigen Leitspruch Helfen – Heilen – Forschen – Lehren gebündelt wieder. Unter diesem Motto folgt die Charité den historisch gewachsenen Grundsätzen und fühlt sich auch in Zukunft vor dem Hintergrund einer exzellenten Forschung und Lehre dem Wohl des einzelnen Kranken verpflichtet. Zugleich stellt sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung als eine herausgehobene Einrichtung des deutschen Gesundheitswesens und nimmt – gerade auch vor dem Hintergrund der eigenen wechselvollen Geschichte – aktiv Teil und Stellung zu allen ethisch relevanten Fragen, die insbesondere die Aspekte Gesunderhaltung und Krankenversorgung am Lebensanfang, in einer immer länger werdenden teilweise auch ökonomisch unsicheren Lebensspanne und am Lebensende betreffen.


Auszug aus "Geschichte der Berliner Krankenhäuser"

Bild: © Archiv St. Hedwig-Krankenhaus/ Krankensaal im Institut für Infektionskrankheiten, 1892


Lesen, wie es war: Die Erstauflage von 1906 Die Berliner Therapie an den Berliner Universitäten jetzt wiederbelebt. 


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