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Gesundheitssystem als Demokratiegrundlage

Ein verlässliches Gesundheitssystem als Grundlage für eine stabile Demokratie

Jens Baas, Dennis Chytrek und Kerstin Grießmeier


1. Einleitung

Wie in Kapitel I.1 beschrieben, ist das Gesundheitssystem ein wichtiger Teilunserer demokratischen Gesellschaft. Ein unzureichendes oder gar mangelhaftes Gesundheitssystem allein wird unsere Demokratie zwar nicht gefährden, allerdings ist es ein nicht zu unterschätzender Faktor und kann im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren, wie Politikverdrossenheit, wachsender sozialer Ungleichheit oder Armut, zu einer Spaltung der Gesellschaft führen. Somit ist ein gut funktionierendes Gesundheitssystem, in dem die Menschen unabhängig von sozioökonomischen Faktoren wie Alter oder Einkommen eine gute und in Hinsicht auf Innovationen zeitgemäße Versorgung erhalten, ein wichtiger Stützpfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Wie gewichtig gesundheitspolitische Themen mittlerweile sind – und welche offenen Flanken eine als ungerecht, mangel- oder lückenhaft empfundene Versorgung für Populismus und Spaltung lässt –, zeigen die Wahlkämpfe in den USA beziehungsweise im Vereinigten Königreich aus jüngster Vergangenheit: So machte im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 der damalige Präsidentschaftskandidat Donald Trump seine Kritik an Präsident Barack Obamas Öffnung des öffentlichen Gesundheitswesen für eine größere Zahl vorwiegend armer Menschen (Patient Protection and Affordable Care Act/„Obamacare“) zu einem Schwerpunkt seiner Kampagne. Und ein zentrales Wahlversprechender „Vote Leave-Campaign“, die das Vereinigte Königreich aus der EU führte, war, das staatliche Gesundheitssystem NHS (National Health Service) mit jenen Geldern zu stützten, die in die EU abflossen.

Auch vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, dass die Politik hierzulande zugelassen hat, dass auch das deutsche Gesundheitssystem Gefahr läuft, selbst zum Patienten zu werden. Die seit Jahren offensichtlichen strukturellen Missstände wurden zu lange ignoriert: große Lückenbei der Finanzierung, Rückstand beider Digitalisierung und eine ineffiziente Versorgung. Vor den Herausforderungen des demografischen Wandels werden diese Fragen umso drängender. Gelang es Bundesgesundheitsminister Jens Spahn noch, die Finanzierungslücken durch den Abbau der Kassenreserven zu kaschieren und so einen drastischen Beitragsanstieg zu vermeiden, war das angesichts leerer Reserven für die Ampelregierung nicht mehr möglich. Letztere nahm die wiederholten Sprünge im Beitragssatz achselzuckend in Kauf. Im Wahljahr 2025 ist das System an einem Punkt angekommen, an dem die Kostensteigerung voll auf die Versicherten durchschlägt – und zwar ohne dass die Menschen dafür mehr Leistung bekommen. Die Lebenserwartung in Deutschland liegt laut einer Studie der OECD 2023 erstmals unter dem EU-Durchschnitt und ist in allen westlichen EU-Ländern sowie den skandinavischen Ländern höher (OECD u. European Commission 2024).

Auch in Sachen Innovation und Zugang bietet das deutsche Gesundheitssystem kein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis. Die Digitalisierung nimmt in allen Bereichen spürbar mehr Fahrt auf als im Gesundheitswesen. Den ersten wichtigen Schritten wie der erfolgreichen Umsetzung des elektronischen Rezepts und der Bereitstellung einer elektronischen Gesundheitsakte für alle GKV-Versicherten steht eine Vielzahl von Insellösungen gegenüber, die nicht oder kaum miteinander zu vernetzen sind. Gleichzeitig sorgen überfüllte Notaufnahmen und lange Wartezeiten auf Facharzttermine für Frust. Zwischen 2019 und 2025 stieg der amtliche Zusatzbeitragssatz von 0,9 auf 2,5 Punkte, also um den Faktor 2,8. Das ist eine drastische Entwicklung, die für viele Versicherte auch deutlich spürbar ist.


1.2 Missstände im System

1.2.1 Finanzierung

Dass die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen nicht nachhaltig aufgestellt ist, wird seit vielen Jahren von den beteiligten Akteuren angemahnt. Die Politik hat versäumt, notwendige strukturelle Reformen in wirtschaftlich guten Jahren anzugehen. Stattdessen wurden Ende der 2010er- und Anfang der 2020er-Jahre eine Reihe sehr teurer Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, die keine zu den Mehrausgaben im Verhältnis stehenden Leistungsverbesserungen brachten. Neben diesen politisch induzierten Zusatzkosten mit keinem oder geringem Mehrwert für die Versicherten tragen auch die Auswirkungen des medizinischen Fortschritts, vor allem aber auch die allgemeinen Kostensteigerungen von Gesundheitsleistungen dazu bei, dass die Ausgaben immer weiter steigen. Die wachsende Zahl GKV-Versicherter und deren Lohnsteigerungen aufgrund des Wirtschaftswachstums kommen seit Jahren nicht mehr gegen diesen Ausgabenanstieg an, sodass die Lücke zwischen Einnahmen und Ausgaben im Gesundheitsfonds immer größer wird (s. Abb. 1).

Solidarisch gezahlte Beiträge müssen gerecht und im Sinne ihres Zwecks verwendet werden. Dazu gehört auch, dass die Politik nicht auf Kosten der Beitragszahler den Staatshaushalt sanieren darf. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist dies keineswegs, denn immer mehr gesamtgesellschaftliche Aufgaben werden an die Beitragszahlenden der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) abgewälzt. Die Beiträge für die Krankenversicherung für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger werden beispielsweise zu großen Teilen aus den Beiträgen der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt. Hier geht es um über neun Milliarden Euro pro Jahr. In diese Kategorie fallen auch die 25 Milliarden Euro, welche die gesetzlich Versicherten in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach im Rahmen des Transformationsfonds für den Umbau der Krankenhauslandschaft stemmen sollen, obwohl die Kliniken auch von Privatpatientinnen und -patienten sowie Selbstzahlenden genutzt werden – und obwohl im Rahmen der dualen Finanzierung Klinikinvestitionen nicht Kassen- sondern Länderaufgabe sind, während Krankenkassen für die Betriebskosten zuständig sind. Ein Blick in Nachbarländer mit Gesundheitssystemen, die sich aus Steuermitteln finanzieren –wie der als chronisch unterfinanziert geltende britische NHS (Deutsches Ärzteblatt 2023) – reicht, um zu erkennen, dass es grundsätzlich keine gute Idee ist, wenn Gesundheitsausgaben mit anderen Posten im Staatshaushalt konkurrieren. Die auch schon vor der Krankenhausreform strukturelle Vernachlässigung der Krankenhausinvestitionen durch die Länder in Deutschland bestätigt dies hierzulande auch im Kleinen.

Dass die Beiträge erst ab etwa Mitte 2024 stark stiegen, liegt auch daran, dass die Krankenkassen per Gesetz dazu verpflichtet wurden, ihre Rücklagen auf ein Minimum zu reduzieren. Entsprechend war der Beitragssatz vieler Kassen in den letzten Jahren nicht kostendeckend und die aktuelle Anpassung muss folglich nicht nur den Anstieg der Leistungsausgaben ausgleichen, sondern eben auch jenen Teil des Haushalts, der bis dahin aus dem Abbau der Finanzreserven finanziert wurde.

Abb. 1: Gesundheitsfonds: Einnahmen und Ausgaben driften immer weiter auseinander (TK auf Basis der Rechnungsergebnisse der Krankenkassen [KJ 1], der Rechnungsergebnisse des Gesundheitsfonds [KJ 1] und Schätzerkreisprognosen)

Es ist selbsterklärend, dass die Beitragssätze nicht beliebig steigen können. An einem gewissen Punkt würden sie das Solidarsystem an seine Belastungsgrenze bringen. Der Anteil für die Sozialversicherung beträgt heute, mit durchschnittlichem amtlichen Zusatzbeitragssatz zur Krankenkasse, für einen Arbeitnehmer mit einem Kind 41,9 Prozent. Dabei gilt es zu bedenken, dass die tatsächlich erhobenen Zusatzbeitragssätze im Schnitt deutlich höher liegen. Die in der Politik rhetorisch jahrelang eisern verteidigte 40-Prozent-Grenze ist längst gefallen. Durch die hälftige Finanzierung der Beiträge bei Angestellten treibt diese Entwicklung auch die Lohnnebenkosten in die Höhe und führt zu einem Standortnachteil für Deutschland.


1.2.2 Zugang zur Versorgung

Für viele Menschen misst sich die Frage „Bin ich gut versorgt?“ auch an der Frage: „Wie schnell komme ich im Krankheitsfall zum richtigen Arzt oder zur richtigen Ärztin?“ Und Umfragen zufolge (Köcher 2024) haben viele Menschen negative Erfahrungen beim Thema Zugang gemacht. Natürlich bemisst ein subjektives Empfinden nicht die Qualität eines Gesundheitssystems, aber viel zu oft entscheiden Zufall und historisch gewachsene Versorgungslandschaften darüber, wo und letztendlich auch wie gut ein Patient oder eine Patientin versorgt wird. Optimierte Behandlungspfade sind die Ausnahme und keineswegs die Regel.

Dabei mangelt es grundsätzlich nicht an Versorgungseinrichtungen – teilweise sind einzelne Gebiete sogar überversorgt –, aber die Versorgung verteilt sich anreizbedingt anders als der Bedarf: Unser Gesundheitssystem leistet sich eine doppelte Facharztschiene mit Experten und Expertinnen in Kliniken und Praxen, unsere Krankenhauslandschaft verfügt über eine im internationalen Vergleich hohe Bettendichte und es gibt große regionale Unterschiede bei der Facharztversorgung, die nicht mit der Einwohnerdichte korrelieren.

Daraus entstehen Wartezeiten ebenso wie Umwege und Sackgassen auf dem Versorgungspfad – hinzu kommt Frust auf der Seite von Ärzteschaft und Pflegekräften. Und wir geben für unser Gesundheitssystem im internationalen Vergleich mehr als andere aus. Deutschland belegt etwa innerhalb der EU den Spitzenplatz mit 12,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (Statistisches Bundesamt 2022). Für den oder die Einzelne wird das in der Regel durch die Krankenkassenbeiträge, aber auch durch zusätzlich individuelle Gesundheitsausgaben spürbar. In der Konsequenz erleben also viele Versicherte einerseits, dass es „immer teurer“ wird, andererseits, dass die Leistung dafür jedoch nicht mitwächst.


1.2.3 Wettbewerb

Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung

Der Wettbewerb im Solidarsystem ist kein Selbstzweck, er dient den Patientinnen und Patienten. Er zwingt die gesetzlichen Krankenkassen dazu, effizient zu wirtschaften und Service und Leistung ständig zu verbessern. Damit ist ein wettbewerbsorientiertes System einer (staatlichen) Einheitsversicherung deutlich überlegen. Damit diese Vorteile zum Tragen kommen, brauchtes jedoch die richtigen Rahmenbedingungen.

Die Zahl der gesetzlichen Krankenkassen hat sich durch diesen Wettbewerb von 1.147 im Jahr 1990 auf 95 in 2024 deutlich reduziert, dennoch versichern sie mit Abstand die meisten Menschen in Deutschland (s. Abb. 2). Die Versicherten nutzen jedoch zunehmend die Möglichkeit, ihre Kasse zu wechseln, wenn sie mit den Leistungen, dem Service oder auch dem Preis nicht mehr einverstanden sind. Diese Wahlfreiheit ist ein wichtiger Aspekt in einem Gesundheitssystem mit faktischer Versicherungspflicht und sollte unbedingt erhalten bleiben – auch als Anreiz für Krankenkassen, über ein gutes Service‑, Leistungs- und Preisniveau in diesem Wettbewerb zu bestehen. Doch auch um das Gesundheitssystem effizient und wirtschaftlich auszurichten, sind wettbewerbliche Möglichkeiten ein wichtiger Faktor.

Problematisch ist vor diesem Hintergrund, dass in der Vergangenheit Möglichkeiten, diesen Wettbewerb für mehr Effizienz im Gesundheitssystem insgesamt zu nutzen, eher beschnitten als ausgebaut wurden: Beispielsweise wurden die Möglichkeiten für Krankenkassen, Klinikrechnungen prüfen zulassen, durch Obergrenzen deutlich eingeschränkt. Zwar wurde der Vorstoß, diese Möglichkeiten über eine im Rahmen des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG) diskutierte Stichprobensystematik noch weiter zu beschneiden, auf den letzten Metern des Gesetzgebungsprozesses verworfen, aber die Grundproblematik bleibt bestehen: Hier bleiben durch Einschränkungen für Krankenkassen Effizienzreserven ungenutzt.

Abb. 2: Krankenversicherungsschutz der Bevölkerung 2022 in Prozent und Millionen (eigene Darstellung nach vdek in Anlehnung an BMG, StBA und PKV)

Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Hilfsmittelversorgung. Hier stiegen die Ausgaben in den Vergangenen Jahren stark an: von 9 Milliarden Euro in 2019 auf 11,17 Milliarden Euro in 2023 (GKV-Spitzenverband 2024, S. 11). Auch in diesem Bereich wurden die Gestaltungsmöglichkeiten der Krankenkassen in jüngster Vergangenheit stark beschränkt. Teil des Problems ist der Wegfall der Möglichkeit von Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung durch das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG). Hinzu kommt: In Preisverhandlungen liegt der Vorteil klar bei den Leistungserbringern. Diese können inzwischen de facto jederzeit Verhandlungen von den Kassen einfordern, jederzeit bestehenden Verträgen beitreten und verhandelte Preise einsehen. Das macht echte Verhandlungen für sie wenig attraktiv, können sie doch aktuell das für sie attraktivste (Höchstpreis‑) Modell auswählen. Anreize, über Verhandlungen Innovationen auf den Weg zu bringen, fehlen hingegen. Vorschläge, wie man der Entwicklung entgegenwirken könnte, liegen spätestes seit 2023 auf dem Tisch (GKV-Spitzenverband et al. 2023), als von den Krankenkassen umfassende Lösungsmöglichkeiten für diese problematische Entwicklung vorgestellt wurden.

Die Einschränkungen der Optionen für wirtschaftliches Handeln im Rahmendes Wettbewerbs schwächen das System als Ganzes.


Wettbewerb zwischen GKV und PKV

Die beiden parallel existierenden Systeme von gesetzlicher und privater Krankenversicherung sorgen nicht nur für viele Konflikte, sie verursachen auch konkrete Gerechtigkeitsdefizite. Zum Beispiel, dass sich Menschen ab einem gewissen Einkommen oder mit einer Verbeamtung aus dem Solidarsystem herausziehen können. Private Krankenversicherungen sind dabei für junge und gesunde Menschen besonders attraktiv, da sie das individuelle Risiko versichern. Mit zunehmendem Alter wächst hingegen die finanzielle Belastung, hinzu kommt häufig eine weitere Belastung durch die Versicherung von Kindern oder Ehepartnern.

Das Nebeneinander der beiden Systeme kann nur so lange funktionieren, wie eine Risikoselektion zulasten der Solidargemeinschaft so gut wie möglich verhindert wird. Dazu gehört beispielsweise, dass nach einem Verlassen des Solidarsystem seine Rückkehr nicht ohne weiteres möglich ist. Für Letzteres hat die Politik hohe Hürden installiert, damit gesunde Menschen nicht in jungen Jahren in die beitragsgünstige Privatversicherung wechseln und mit steigenden Beiträgen – und hohen Versorgungskosten – im Alter wieder in das Solidarsystemkommen. Das kann sogar dazu führen, dass Menschen im Ruhestand einen großen Anteil ihrer Altersversorgung für die Beiträge ihrer Privatversicherungen aufbringen müssen.

In der medizinischen Versorgung bestehen de facto jedoch kaum Unterschiede zwischen den Systemen. Im Gegenteil bieten einige Privatverträge sogar geringere Leistungen an, als es in der GKV Standard ist – bei der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln zum Beispiel.


1.2.4 Digitalisierung

War im Jahr 2020 noch das Faxgerät ein Symbol für den Stand des digitalen Gesundheitssystems, wurden in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Dass ein gutes Gesundheitssystem auch digitale Chancen zeitgemäß nutzen muss, ist sicherlich eine der zentralen Lehren aus der Corona-Pandemie. Die Einführung des elektronischen Rezepts kann dabei als Lehrstück herhalten und zusammen mit der elektronischen Patientenakte kann es die Versorgung der Menschen spürbar verbessern.

Aber diese ersten Erfolge der letzten Jahre dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen an sehr vielen Stellen noch gewaltig hakt und die Digitalisierung an vielen Stellen mit vorgeschobenen Argumenten ausgebremst wird.

Eine kluge Zusammenführung von Gesundheitsdaten – auch mithilfe von Künstlicher Intelligenz – kann die Versorgungsqualität erheblich verbessern und eine individuelle Prävention ermöglichen. Dazu sollte der Gesetzgeber Regelungen schaffen, die den Patientinnen und Patienten die Möglichkeit geben, ihre Daten für die eigene Gesundheit auszuwerten. Dafür müssen Daten besser verfügbar sein und auch für langfristige Auswertungen über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren gespeichert werden können. Darüber hinaus ist es wichtig, dass Krankenkassen Routinedaten aus der Versorgungtages aktuell bekommen und nicht wie aktuell erst mit mehreren Monaten Verzögerung, um den Versicherten zeitnah individuell passende Angebote machen zu können.

Wenn die Medizin im Alltag hauptsächlich durch eine unterentwickelte Digitalisierung erlebt wird, kann dies das Vertrauen der Menschen in ihre Zukunftsfähigkeit erheblich mindern. Hinzu kommt, dass ein schlecht digitalisiertes Gesundheitssystem Daten in deregulierte Systeme drängt.

Private Anbieter, vorwiegend amerikanische Tech-Unternehmen, haben den Wert von Gesundheitsdaten erkannt und bringen mittlerweile eigene Lösungen auf den Markt. Wenn diese gut funktionieren und komfortabel sind, werden die Menschen sie auch nutzen und ihre Gesundheitsdaten im Zweifeleinem unregulierten Tech-Unternehmen anvertrauen. Schon heute nutzen die Menschen digitale Patientenakten oder Terminvermittlungen von privaten Anbietern und vertrauen diesen Unternehmen ihre Daten an.

Letzteres ist kritisch zu sehen. So besteht vor allem die Gefahr, dass die Menschen in Deutschland ihre hochsensiblen Gesundheitsdaten in die Hände eben dieser Konzerne geben, wenn diese hier Gesundheitsanwendungen anbieten. Gelingt ihnen auch die Vernetzung zu und zwischen den Leistungserbringern, werden diese jetzt schon enorm einflussreichen Konzerne sehr mächtige Player – mit eindeutigen Gewinninteressen und fragwürdigem Umgang mit dem Datenschutz.


1.3 Voraussetzungen für ein leistungsfähiges Gesundheitssystem

Die gute Nachricht ist, dass natürlich nicht alles schlecht läuft im deutschen Gesundheitssystem – und das Versorgungsniveau nach wie vor gut ist. Aber wie dies derzeit bei so vielen Politikfeldern der Fall ist, ist es an einem Punkt angekommen, an dem es dringenden Verbesserungsbedarf gibt und jede weitere Reformverzögerung nicht nur die Zukunftsfähigkeit gefährdet, sondern die irgendwann unumgänglichen Korrekturen dann auch sehr viel teurer macht. Die Politik ist daher dringend dazu aufgefordert, die Probleme jetzt anzugehen, statt sie weiter aufzuschieben.


1.3.1 Finanzierung nachhaltig gestalten

Obwohl der Handlungsbedarf bei der Stabilisierung der Finanzierung von Gesundheit seit Jahren bekannt ist, ist politisch kaum etwas passiert.

Zwei sinnvolle Ansätze zur Steigerung der Einnahmen fanden sich immerhin im letzten Koalitionsvertrag: die Anhebung der aus Steuermitteln gezahlten Anteile für die Beiträge von (jetzt) Bürgergeldempfängerinnen und -empfängern und eine Dynamisierung des Steuerzuschusses für versicherungsfremde Leistungen in den Gesundheitsfonds. Beide Maßnahmen würden die GKV erheblich entlasten, allein auskömmliche Beiträge für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger würden rund 9,2 Milliarden Euro mehr ausmachen. Umgesetzt wurde keine davon.

Der finanzielle Ausgleich von Staatsaufgaben, die durch die GKV übernommen werden, reicht angesichts der dramatischen Kostenentwicklung nicht aus, um die Finanzierung von Gesundheit zu stabilisieren. Auch die Ausgabenanstiege müssen reduziert werden, um weiter handlungsfähig zu bleiben.

Eine Kostendämpfungsdebatte dreht sich häufig um Leistungskürzungen. Diese sind nicht nur unpopulär, sondern stehen einem sich ständig weiterentwickelnden medizinischen Fortschritt entgegen, schwächen das Vertrauen in das Gesundheitssystem und verstärken soziale Unterschiede: Ein eingeschränkter Leistungskatalog, der dann im Bedarfsfall durch private Zusatzversicherungen aufgestockt werden muss, widerspricht zudem dem Grundsatz unseres Solidarsystems, das allen Bürgerinnen und Bürgern eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung garantiert.

Tatsächlich bestehen im Leistungsbereich abseits von Leistungskürzungen durchaus Kostendämpfungspotenziale bei den Arznei- sowie Heil- und Hilfsmitteln, die vom Gesetzgeber genutzt werden sollten, um die Finanzierung von Gesundheit zukunftssicher aufzustellen – und zwar ohne dass dafür das Leistungsspektrum der GKV eingeschränkt werden muss: Betrachtet man etwa die Ausgaben für Arzneimittel, so steigen insbesondere die Preise für neue Arzneimittel seit Jahren überproportional an und auch im internationalen Vergleich zahlt die deutsche GKV für Originalpräparate Höchstpreise. Vor allem in den Gesetzen für die Preisfindung muss an dieser Stelle dringend nachgebessert und es müssen Lücken geschlossen werden.

Doch auch kurzfristig wirksame Maßnahmen sind dringend erforderlich, Möglichkeiten hierfür gibt es durchaus: Beispielsweise könnte die mit dem TSVG abgeschaffte Möglichkeit von Ausschreibungen in der Hilfsmittelversorgung korrigiert werden. Argumentiert wurde damals auch, Ausschreibungen gefährdeten die Qualität. Dabei wäre es sehr wohl möglich, im Sinne der Wirtschaftlichkeit Ausschreibungen für bestimmte Hilfsmittel zu ermöglichen und dabei Qualitätsparameter zu integrieren. Zu weiteren Lösungsansätzen in diesem Bereich gehört es, den Wettbewerb unter den Leistungserbringern wiederzubeleben, das Kartellrecht auch in diesem Bereich konsequent anzuwenden und die Mehrwertsteuer auf den ermäßigten Satz von sieben Prozent zu setzen.

Weitere kurzfristige Möglichkeiten liegen etwa in der Rückkehr zu einer Kopplung der Lohnsteigerungen der Heilmittelerbringer an die Grundlohnsumme oder einer Beendigung der Doppelfinanzierung bestimmter ärztlicher Vermittlungsleistungen als Folge des TSVG. Auch ein höherer Herstellerabschlag für Arzneimittel würde dazu beitragen, die Ausgabenentwicklung zu dämpfen. Großes Einsparpotenzial liegt auch darin, Effizienzreserven zu heben und Bürokratie abzubauen. Denn solange das System an vielen Stellen noch so ineffizient ist, sind Leistungskürzungen nahezu unethisch. Das gilt insbesondere für die hohen Hürden zwischen den Sektoren, die mangelnde Vernetzung der Leistungserbringer untereinander und die teilweise völlig veralteten Prozesse, die mit unserer heutigen digitalisierten Welt nichts mehr zu tun haben und die auch niemandem mehr vermittelbar sind.

Reflexartig wird in Diskussionen um die hohen Kosten im Gesundheitswesen häufig auf Einsparpotenziale bei den gesetzlichen Krankenkassen hingewiesen – es müssten Verwaltungskosten und vor allem die Kassenanzahl reduziert werden. Beide Aussagen sind generell richtig, doch ihr Wirkpotenzial ist stark begrenzt. Die Verwaltungskosten machen in etwa 5 Prozent des Budgets der gesetzlichen Krankenkassen aus, was in etwa dem Anstieg der Leistungsausgaben eines Jahres entspricht. Selbst bei einer Reduktion dieser Kosten für die gesetzlichen Krankenkassen auf null würde dies den Ausgabenanstieg lediglich für ein Jahr bremsen und im Folgenden bliebe in Sachen Ausgabenentwicklung alles beim Alten. Selbst wenn man die Zahl der Kassen auf eine senken würde, wären die finanziellen Auswirkungen überschaubar, denn die eigentliche Sachbearbeitung, der mit Abstand größte Ausgabenblock, würde weiterhin anfallen. Im Gegenzug gäbe es jedoch keinen Wettbewerb mehr um Service und Innovationen. Wie ein solches System aussieht, sehen wir am Beispiel NHS in Großbritannien.


1.3.2 Zugang zur Versorgung verbessern

Um den Zugang der Patientinnen und Patienten zur richtigen und guten Versorgung zu verbessern, sind vor allem bei komplexen Erkrankungen Lotsensysteme hilfreich. Wirksame Ansätze, Versorgung sinnvoll zu steuern, fehlen jedoch: Die isolierte Einführung einer Praxisgebühr generierte vor allem einen erhöhten Bürokratieaufwand und Frust auf beiden Seiten des Praxistresens, das bestehende Modell der hausarztzentrierten Versorgung hatte keine bahnbrechenden Auswirkungen auf die Behandlungspfade. Die Chancen der Digitalisierung, etwa bei der Ersteinschätzung, aber auch bei der Kommunikation zwischen am Behandlungsprozess beteiligten Ärztinnen und Ärzten, werden aktuell alles andere als optimal genutzt, um Patientinnen und Patienten regelhaft in die besten Behandlungspfade zu lotsen.

Ein Bereich, der immer wieder für Unzufriedenheit sorgt – in Praxen und bei Patientinnen und Patienten –, ist die Terminbuchung. Patientinnen und Patienten monieren zu lange Wartezeiten für einen Facharzt-Termin, oder dass sie erleben, dass Privatversicherte vorgezogen werden – in Praxen fressen Terminvergabe und -management über unterschiedliche Kanäle Kapazitäten. In Notaufnahmen binden Patientinnen und Patienten Kapazitäten, obwohl sie eigentlich im ambulanten Bereich besser aufgehoben wären. Ein Weg, hier Abhilfe zu schaffen, könnte es sein, über eine digitale Ersteinschätzung die Weichen für den Weg in die passende Versorgung zu stellen – und bei akutem Behandlungsbedarf zeitnahe Termine zu ermöglichen. Hierfür stellen Ärztinnen und Ärzte der verschiedenen Fachgruppen Terminkontingente auf einer digitalen Terminserviceplattform zur Verfügung. Die Krankenkassen – heute ohnehin oft Ansprechpartner in Sachen Terminvergabe – begleiten, beraten und helfen ihren Versicherten, im Bedarfsfall schneller zu passgenauen Versorgungsangeboten zu kommen.


1.3.3 Wettbewerb fair gestalten

Wettbewerb kann nur funktionieren, wenn er regelkonform ist, und nur wenn der Wettbewerb funktioniert, profitieren die Versicherten von einem immer besser werdenden Angebot. Deswegen müssen Fehlanreize beseitigt und die Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung gestärkt werden. Eine einheitliche Aufsichtspraxis, die für alle gesetzlichen Krankenkassen gilt, egal ob sie regional oder bundesweit geöffnet sind, ist dafür unerlässlich. Ebenso sollte es ein mittelfristiges Ziel der Gesundheitspolitik sein, die heutigen parallelen Systeme aus GKV und PKV zu vereinheitlichen. Sowohl die Versicherten in der PKV und in der GKV als auch die Leistungserbringer würden von einem durchdacht gestalteten einheitlichen Versicherungssystem profitieren. Die immer wieder diskutierten Modelle einer Bürgerversicherung sind hierfür nicht geeignet, stattdessen bedarf es eines einheitlichen Versicherungsmarktes nach neuem Zuschnitt. Dabei sollten die Vorteile von GKV und PKV vereint werden: das Verbot der Risikoselektion und das Wirtschaftlichkeitsgebot aus der GKV mit den geschützten Kapitalrücklagen und der Freiheit vertraglicher Ausgestaltung der PKV. Ein System, in dem alle Menschen in Deutschland krankenversichert sind und das eine hochwertige Versorgung garantiert, würde Ungleichheiten (Wartezeiten) beheben und Reformen erleichtern, da die Versorgung aller krankenversicherten Menschen in Deutschland einer einheitlichen Logik folgen würde. Auch die Vergütung von Ärztinnen und Ärzten müsste auf Basis dieser einheitlichen Logik reformiert werden. Ein solches einheitliches System wäre auch für eine bedarfsgerechte ambulante Versorgung von Vorteil, weil es für Ärztinnen und Ärzte bei der Niederlassung keine Rolle mehr spielen würde, wie hoch der Anteil Privatversicherter im Einzugsgebiet einer Praxis ist.


1.3.4 Digitalisierung vorantreiben, Datenschutz weiterentwickeln

Das E-Health-Gesetz hat 2015 den Startschuss für eine ganze Reihe an Gesetzesvorhaben gegeben, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens aus jahrelanger Lethargie zu befreien und endlich voranzubringen. Letztendlich war es jedoch die Corona-Pandemie, die der Bevölkerung vor Augen geführt hat, wie unterentwickelt Deutschland an dieser Stelle war. Sowohl Gesundheitsminister Spahn als auch Lauterbach haben das Thema vorangetrieben. Die „Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege“ des Bundesministeriums für Gesundheit zeigt, dass die bestehenden Defizite erkannt wurden, und sie gibt ein realistisches Ziel vor, wohin sich das Gesundheitssystem bewegen muss.

Die Digitalisierung hat auch das Potenzial, die Prävention grundlegend zu verändern – und viel präziser zu gestalten, als es heute der Fall ist. Denn durch gezielte Datennutzung ist es möglich, den Versicherten individuelle, auf ihr Risiko- und Gesundheitsprofil zugeschnittene Angebote zu machen. Mit der Unterstützung von Künstlicher Intelligenz können individuelle Gesundheitsrisiken frühzeitig erkannt werden. Diese personalisierte Prävention bringt die Chance auf eine deutlich höhere Wirksamkeit der Maßnahmen mit sich und vermittelt gleichzeitig die Erfahrung, dass das Gesundheitssystem im Not und Krankheitsfall für einen da ist und dem System auch etwas an der Gesundheit und deren Erhalt liegt.

Eine wichtige Basis dieser Digitalisierungsstrategie ist die elektronische Patientenakte (ePA), die Patientinnen und Patienten sowie den berechtigten Leistungserbringern Einsicht in relevante Daten – sektoren- und einrichtungsübergreifend– ermöglicht. Mit ihr entsteht nicht nur ein immer verfügbarer, lebenslanger, zentraler Datenspeicher mit allen wichtigen medizinischen Informationen. Die Akte kann auch zu einer erweiterten Kommunikationsplattform werden, mit der Perspektive, alle Akteure miteinander zu vernetzen und auf die für eine optimale Behandlung relevanten Daten des Patienten bzw. der Patientin zuzugreifen, sofern dieser bzw. diese damit einverstanden ist. Notärztinnen und Notärzte haben eine schnelle Übersicht, um ihren Patientinnen und Patienten bestmöglich helfen zu können, und auch Haus- oder Fachärzte und -ärztinnen sind – z.B. nach Klinikaufenthalten und Facharztterminen –immer auf dem aktuellen Informationsstand und damit in der Lage, schnell die richtigen Entscheidungen treffen. Die Daten nützen also den Patientinnen und Patienten und sind nicht die Basis für gewinnorientierte Geschäftsmodelle – das ist ein ganz wesentlicher Aspekt, um das Angebot der GKV von jenen privaten internationalen Tech-Unternehmen abzugrenzen, die auf den Marktdrängen. Für den Erfolg wichtig ist, dass die Daten interoperabel sind und das System einfach zu bedienen ist. Hier muss man konstatieren, dass außerhalb des Gesundheitssystems digitale Services deutlich fortgeschrittener und nutzerfreundlicher sind. Vor dem Hintergrund, dass ein gutes und zeitgemäßes Gesundheitssystem nicht nur digital, sondern auch vernetzt ist, ist es umso wichtiger, dass wir hier nicht an Tempo verlieren und weiterhin vorankommen. Dafür muss eine Infrastruktur aufgebaut werden, die gleichzeitig Chancenermöglicht und den im Gesundheitssystem geltenden besonderen Anforderungen gerecht wird.

Gesundheitsdaten sind die intimsten und sensibelsten Daten – sie müssen also sehr gut geschützt werden. Das ist auch vor dem Hintergrund der Akzeptanz unerlässlich, wenn die Digitalisierung des Gesundheitssystems in Deutschland weiter ausgebaut werden soll. Wie es nicht sein sollte, zeigen die Beispiele USA und China, in beiden Ländern sind diese Daten unzureichend geschützt. In den USA werden Gesundheitsdaten von Unternehmen gesammelt, deren Geschäftsgrundlage es ist, mit den Daten Geld zu verdienen, sie also in vielen Fällen weiterzuverkaufen. In China wiederum ist das Gesundheitssystem in weiten Teilen schon sehr digital und die Daten sind nach außen auch sehr gut geschützt –nur dass eben der Staat die Möglichkeit hat, diese Daten einzusehen. Betrachtet man die Digitalisierung als etwas, das in unserem System (heute schon) nicht mehr wegzudenken ist und ohne das eine moderne Welt nicht mehr funktioniert und dem man sich nur schwer entziehen kann, sind beide Modelle nicht erstrebenswert.

In Europa haben wir mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) eine Norm, die einen dritten Weg ermöglicht und die Menschen vor Unternehmen und staatlichen Akteuren schützt – eine außergewöhnliche Chance dafür, dass Europa mit seinen Werten und seinem Verständnis dessen, wie die Digitalisierung ausgestaltet werden soll, die Entwicklung zu seinen Bedingungen beeinflussen kann.

In Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren die Auslegung der DSGVO, insbesondere durch die 18 Datenschutzbeauftragten (17 in den Bundesländern – davon zwei in Bayern – und eine Bundesdatenschutzbeauftragte), jedoch teilweise deutlich von der unserer europäischen Nachbarländer wegentwickelt. So sind hierzulande viele Dinge aus Gründen des Datenschutzes nicht oder nur eingeschränkt möglich, während sie unter derselben Verordnung in anderen Ländern erlaubt sind. Dabei sollte Datenschutz immer eine Abwägungssache und verhältnismäßig sein. Zu akribisch geschützte Daten werden im täglichen Leben entweder kaum genutzt oder verleiten dazu, den in der Regel mit Aufwand verbundenen Schutz zu umgehen, etwa indem die PIN auf die zugehörige Karte geschrieben wird. Einen geeigneten Mittelweg zu finden, ist eigentlich wenig kompliziert, wenn man sich an bestehenden (Banken) oder auch analogen Systemen (Briefen) orientiert: Es geht darum, einen guten Schutz sicherstellen, dessen Aufwand praktikabel ist und eine Nutzung im Alltag nicht einschränkt oder verhindert.

Vernetzte Daten, eine einfache Bedienung und ein ausreichend hoher Schutz der Daten sind die Voraussetzungen für ein modernes Gesundheitssystem und ermöglichen den Versicherten eine qualitative hochwertige Versorgung, ohne dass sie ihre Daten internationalen Tech-Unternehmen zur Verfügung stellen müssen.


1.4 Fazit

Betrachtet man die Diskussionen um die Vergabe der Ministerposten auf Bundesebene in den letzten Jahren, sowie die Zusammenlegungen der Ministerien auf Landesebene, kann man den Eindruck gewinnen, Gesundheitspolitik gehöre zu den politischen „Stiefkindern“. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn Debatten um immense Finanzierungslücken und letztendlich die Sicherheit der Finanzierung von Gesundheit mit einem simplen Griff in die Rücklagen oder der Hinnahme von Beitragssatzsprüngen beantwortet werden, anstatt grundlegende Reformen anzugehen.

Zudem ist wohl kaum ein anderes Politikfeld so groß, kompliziert und unübersichtlich, wie die Gesundheitspolitik, sodass fachfremde Politiker und Politikerinnen es häufig nicht ganz einfach haben, sich zwischen den sehr unterschiedlichen Interessen der vielen Akteure zurechtzufinden. Dennoch dürfen die Verantwortlichen nicht verkennen, was für einen hohen Wert ein stabiles Gesundheitssystem für unsere Demokratie hat – und wie wichtig es ist, zentrale Stabilitätsanker innerhalb des Gesundheitssystems zu stärken. Dazu gehört der Aspekt der Selbstverwaltung, der Unabhängigkeit von (partei‑) politischen Interessen garantiert. Dazu gehört auch, dass Krankenkassen sich im Wettbewerb um die Versicherten im möglichen Rahmen um gutes Wirtschaften und guten Service bemühen. Statt auf diese Stärken im System zu bauen, zeigen sich in der jüngsten Vergangenheit allerdings bedenkliche Trends: Immer wieder griff die Politik massiv in die Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung ein – etwa in die Entscheidungsspielräume bei Zusatzbeiträgen und Finanzreserven der Krankenkassen im Rahmen des Versichertenentlastungsgesetzes (Thomas u. Schöb 2022).

Statt den Wettbewerb als Treiber für Innovationen, Service und Wirtschaftlichkeit im System zu fördern, werden wettbewerbliche Handlungsspielräume reduziert, wie durch die Einschränkung der Prüfmöglichkeiten von Krankenhausrechnungen. Statt wertzuschätzen, welche Aufgaben die Solidargemeinschaft für die Gesellschaft insgesamt übernimmt, lässt die Politik die Beitragszahlenden auf den Kosten sitzen – und bürdet ihnen immer mehr solcher Lasten auf. Im Ergebnis sind die Finanzreserven der Krankenkassen leer, was nicht nur dazu beiträgt, dass in 2024 Beitragssätze unterjährig erhöht werden mussten, sondern dass einige Kassen zum Jahreswechsel 2024/2025 auch die – ohnehin schon drastisch reduzierte – Mindestreserve unterschritten haben. Einer erneuten Krise vom Ausmaß der Corona-Pandemie stünde das Gesundheitswesen finanziell heute deutlich schlechter gegenüber, als es 2020 der Fall war.

Die Haltung der Politik, sich um die Gesundheit nicht weitsichtig zu kümmern, sondern nur im Akutfall punktuell auf Probleme zu reagieren, ist nicht zukunftsfähig – und birgt neben der Gefährdung einer zeitgemäßen Versorgung für die Menschen in Deutschland auch Risiken für die Stabilität insgesamt.

Die GKV hat in den vergangenen Jahrzehnten mit einem solidarischen System dafür gesorgt, dass die Versicherten schnell am medizinischen Fortschritt partizipiert haben. Damit trägt sie maßgeblich dazu bei, dass mit der Gesundheit ein wesentliches Grundbedürfnis der Menschen erfüllt werden kann. Umso weniger verständlich ist der geringe politische Wille, auf die Stärken dieses Systems zu setzen und in notwendige Reformen zu investieren. Das muss sich ändern, um Rückstände aufzuholen, aber auch weil sich im Gesundheitsbereich die Welt ständig verändert und ein System sich ebenso ständig verändern muss, wenn es weiterhin zu den besten gehören soll. Dabei muss die Politik an der richtigen Stelle Verantwortung übernehmen: Sie sollte die Leitplanken vorgeben und einen Rahmen setzen, aber auch Raum geben, den die soziale Selbstverwaltung ausfüllen kann. Sie mussverantwortungsvoll differenzieren, welche Aufgaben von den Beitragszahlenden zu schultern sind – und welche vom Staat. Und: Statt kurzfristigem Aktionismus – im Wahlkampftakt – muss sie in stärkerem Maße lang- und mittelfristige Ziele verfolgen, um das Gesundheitssystem in eine gute Zukunft zu führen, damit es auch für die nächsten Generationen ebenjene überaus wichtige Säule unseres demokratischen Systems bleibt, die es heute für uns ist.


Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Unser Gesundheitssystem - Stabilitätsanker für die Demokratie", herausgegeben von Dr. med. Jens BaasAlle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.



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