
Schizophrenie & andere psychotische Störungen
Felix Maximilian Segmiller
1.1. Definition Störungsbild
Die Schizophrenie ist eine häufige psychische Erkrankung, die durch grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte gekennzeichnet ist. Die finanziellen und anderweitigen Auswirkungen auf das Gesundheitssystem sind immens: Schätzungsweise gehört die Erkrankung weltweit zu den 30 häufigsten Gründen für Behinderung; etwa 5–6% der Kosten des Gesundheitsbudgets in England werden für die Therapie schizophrener Erkrankungen aufgewendet; in den USA sind es 2,5%; in etwa 65% der schizophrenen Patienten sind nach einer zweiten psychotischen Episode arbeitslos.
Die psychische Erkrankung hat eine Lebenszeitprävalenz von rund einem Erkrankten in 100 Personen (1%) und einer mittleren Inzidenz von 0,11–0,24 pro tausend Menschen. Hierbei sind Männer und Frauen annähernd gleichermaßen betroffen, wobei Männer früher erkranken und einen schlechteren Krankheitsverlauf aufweisen.
1.2. Diagnostik und Klinik
Die Diagnosestellung einer Schizophrenie erfolgt nach ICD-10, ICD-11 oder DSM-5.
Als grundsätzliche Charakteristika der schizophrenen Störungen nennt das ICD-10 für einen Zeitraum von mindestens vier Wochen „grundlegende und charakteristische Störungen von Denken und Wahrnehmung sowie inadäquate oder verflachte Affekte. Die Bewusstseinsklarheit und intellektuellen Fähigkeiten sind in der Regel nicht beeinträchtigt, obwohl sich im Laufe der Zeit gewisse kognitive Defizite entwickeln können“ und bei dem Großteil der Patienten sogar in Remissionsphasen nachweisbar sind.
„Die wichtigsten psychopathologischen Phänomene sind Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung, Wahnwahrnehmung, Kontrollwahn, Beeinflussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, Stimmen, die in der dritten Person den Patienten kommentieren oder über ihn sprechen, Denkstörungen und Negativsymptome.“ (Dilling et al. 2008, S. 111)
Wiewohl das Zeitkriterium in ICD-11 ebenfalls vier Wochen beträgt, wird das Vorliegen von mindestens zwei der folgenden Kriterien als diagnostische Voraussetzung genannt:
- persistierender Wahn
- persistierende Halluzinationen
- formale Denkstörungen
- Erlebnisse der Beeinflussung und/oder Passivität und/oder Fremdkontrolle (Ich-Störungen)
- Negativsymptome
- grob desorganisiertes Verhalten, das eine zielgerichtete Aktivität behindert
- psychomotorische/katatone Störungen
Anders als das DSM-5 und das ICD-11 unterscheidet das ICD-10 zwischen verschiedenen Schizophrenietypen, so dem paranoiden, dem hebephrenen, dem katatonen und dem undifferenzierten Subtypus. Weitere Entitäten des Krankheitsbildes können die Schizophrenia simplex sowie die postschizophrene Depression und der Residualzustand sein. Im ICD-11 hingegen wird die Erkrankung durch die sogenannten „Symptomspezifikatoren weiter nach ihrer in der jeweiligen Phase führenden Symptomatik beschrieben: positive, negative, depressive, manische, psychomotorische und kognitive Symptomatik“. Ähnlich wie im DSM-5 wird im ICD-11 der Beschreibung von Verlaufsaspekten und des Schweregrades durch Verlaufsspezifikatoren mehr Bedeutung beigemessen. Prinzipiell ist nach DSM-5 eine Schizophrenie durch fünf von der Norm abweichende Hauptmerkmale gekennzeichnet:
- Wahn
- Halluzinationen
- desorganisiertes Denken
- grob desorganisiertes Verhalten oder gestörte Motorik und
- Negativsymptome
Zeichen des Störungsbildes müssen für mindestens sechs Monate anhalten. Bezüglich der genaueren Informationen und Inhalte der aufgeführten Kriterien ist auf entsprechende Lehrbücher und Fachartikel zu verweisen. Ätiologie und Ursachen der Krankheit sind komplex und teilweise auch weiterhin ungeklärt. Eine wesentliche Rolle spielt der gestörte Dopaminstoffwechsel (Dopaminhypothese) mit einer vermehrten Produktion des Neurotransmitters Dopamin. Diese Hypothese wird unterstützt durch das Ansprechen der Symptome der Schizophrenie auf Neuroleptika, welche z.B. D2-Rezeptoren im mesolimbischen System blockieren. Hierbei wird bekanntermaßen zwischen den typischen, den sog. atypischen Neuroleptika/Antipsychotika und den partiellen Dopaminagonisten unterschieden, was auch für die Fähigkeit der Fahreignung von erheblicher Bedeutung sein kann. In aller Regel geht der Erkrankung eine zwei bis fünfjährige sogenannte Prodromalphase voraus, welche z.B. durch Beeinträchtigungen in den persönlichen und sozialen Funktionen gekennzeichnet ist. Diese Phase wird vielfach weder erkannt noch behandelt, ehe die akute Phase der Schizophrenie mit den krankheitsspezifischen Symptomen erfolgt. Bemerkenswerterweise dauert es sogar in den Industrienationen sodann weitere 1–2 Jahre, ehe eine adäquate Therapie initiiert wird. Nur etwa 20–30% der Patienten zeigen nach Behandlung der ersten Episode keine wesentlichen Symptome mehr; näherungsweise 50% hingegen erfahren bereits innerhalb von zwei Jahren einen weiteren Krankheitsschub, der eine erneute Klinikbehandlung erforderlich macht. Generell ist bekannt, dass als Prädiktoren für einen vergleichsweise günstigeren Krankheitsverlauf zum Beispiel ein spätes Manifestationsalter, weibliches Geschlecht, verheiratet zu sein, ein höherer IQ, gute berufliche und soziale prämorbide Einbindung, eine negative Familienanamnese bezüglich Schizophrenie und vorherrschende Positivsymptome anzusehen sind. Nach der Behandlung der (falls vorhandenen) Positivsymptome wie z.B. Wahn und Halluzinationen folgen in vielen Fällen Negativsymptome, deren Behandlung vielfach langwierig und kompliziert sein kann.
In vielen Fällen geht das Krankheitsbild mit zahlreichen Beeinträchtigungen einher, die negative Auswirkungen auf das soziale und berufliche Funktionsniveau haben. Es ist gut nachvollziehbar, dass sowohl die akuten klinischen Symptome wie auch die überdauernden, chronischen Symptome einer Schizophrenie/einer wahnhaften Störung Einfluss auf die Fahreignung haben. Gleichzeitig bedeutet eine nicht gegebene Fahrsicherheit/Fahreignung einen Verlust der Mobilität, was sich wiederum erheblich auf die Lebensqualität eines Patienten auswirken kann.
Wie auch bei der Erstmanifestation anderer psychischer Erkrankungen sollte bei Auftreten der ersten Krankheitssymptome einer Schizophrenie oder anderer wahnhafter Störungen eine ausführliche diagnostische Abklärung mit vollständiger psychiatrischer, neurologischer, neuropsychologischer und allgemeinmedizinischer Anamnese und Untersuchung erfolgen. Ein ausführliches Labor mit ggf. auch HIV- und Hepatitis-Serologie und Syphilisscreening sollten ebenso erfolgen wie Drogenscreening, eine Bildgebung des Gehirns (CCT, MRT) und ein Elektroenzephalogramm. Durchaus sinnvoll ist die Erhebung psychometrischer Rating-Skalen zu verschiedenen Krankheitsphasen, wodurch zum Beispiel Veränderungen der Krankheitssymptome durch Behandlung gut überblickt werden können. Beispiele hierfür sind die Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS) oder auch die Positive And Negative Syndrome Scale (PANSS). Nicht selten kommen im Rahmen von schizophrenen Erkrankungen auch depressive Symptome vor, weshalb Leitlinien auch einen diesbezüglichen Einsatz von Rating-Skalen empfehlen…
1.3.Risikobewertung und Relevanz für die Fahreignung
1.3.1. Allgemeine Informationen zur Fahreignung von Patienten mit Schizophrenie, schizotypen und wahnhaften Störungen
Es ist in mehreren Untersuchungen belegt, dass Patienten mit einer Schizophrenie ein mehr als zweifach erhöhtes Unfallrisiko haben.
Es ist in zahlreichen Studien verifiziert worden, dass bei vielen Patienten mit schizophrenen Krankheitsbildern kognitive und psychomotorische Beeinträchtigungen bestehen. Untersucht man diese Leistungsdefizite näher, zeigen sich Defizite vor allem im Bereich psychomotorischer Funktionen, bei der selektiven Aufmerksamkeit, im Arbeits- und Langzeitgedächtnis und in den exekutiven Funktionen. Dass all dies die Fahreignung beeinflussen kann, ist offensichtlich und bedarf keiner weiteren Erklärung.
Der Blick in die Begutachtungsleitlinien (Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung) belegt, dass in einer akuten Krankheitsphase mit z.B. produktiv psychotischen Phänomenen eine Fahreignung nicht gegeben ist.
Auszug aus den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung bei schizophrenen/schizoaffektiven Psychosen (Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung)
Gruppe 1: Nach abgelaufener akuter Psychose kann die Voraussetzung zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 in der Regel wieder gegeben sein, wenn keine Störungen (z.B. Wahn, Halluzination, schwere kognitive Störung) mehr nachweisbar sind, die das Realitätsurteil erheblich beeinträchtigen. Bei der Behandlung mit Psychopharmaka sind einerseits deren stabilisierende Wirkungen, andererseits die mögliche Beeinträchtigung psychischer Funktionen zu beachten. Langzeitbehandlung schließt die positive Beurteilung nicht aus; in manchen Fällen ist die Langzeitbehandlung hierfür die Voraussetzung, wobei diese Behandlung durch Bescheinigungen des behandelnden Facharztes für Psychiatrie dokumentiert werden sollte. Wenn mehrere psychotische Episoden aufgetreten sind (sog. wellenförmiger Verlauf), sind im Hinblick auf mögliche Wiedererkrankungen die Untersuchungen durch einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in festzulegenden Abständen zu wiederholen.
Gruppe 2: Nach einer schizophrenen Erkrankung bleiben für Fahrer der Gruppe 2 die Voraussetzungen zum sicheren Führen eines Kraftfahrzeuges in der Regel – abgesehen von besonders günstigen Umständen – ausgeschlossen.
Die beschriebenen kognitiven und psychomotorischen Defizite bestehen jedoch in vielen Krankheitsverläufen auch nach der Akutphase und einer erfolgten Behandlung weiter. Insofern stellt sich die bereits oben aufgeworfene Frage, inwieweit eine Therapie mit klassischen oder atypischen Neuroleptika die Fahreignung positiv oder z.B. aufgrund von Nebenwirkungen ggf. auch negativ beeinflussen kann.
Die derzeit vorliegenden Studien belegen, dass die Fahreignung unter atypischen Neuroleptika häufiger gegeben ist als unter typischen; gleichzeitig zeigen sedierende Neuroleptika nicht generell – wie man leicht annehmen könnte – schlechtere Ergebnisse bezüglich der Leistungsdiagnostik, welche gerade bei schizophrenen Patienten ohne produktiv-psychotische Krankheitssymptome ja wesentliche Beurteilungsgrundlage für die Fahreignung darstellt. Beeinträchtigungen der psychischen Leistungsfähigkeit stellen in der Regel ein den gesamten Erkrankungsverlauf überdauerndes Merkmal dar und sind somit in der Regel zu überprüfen. Entscheidend für die Beurteilung ist die stabile Einstellung auf die jeweilige Substanz und das Fehlen von Krankheitssymptomen, die eine Fahreignung von vornherein ausschließen (siehe oben). Besonderes Augenmerk sollte auch auf potentielle EPMS gelegt werden.

Abb. 1 Leistungsdiagnostische Ergebnisse nach Anlage 5 FeV
1.4. Checkliste zur Beurteilung der Fahreignung
Bevor man nun eine Beurteilung vornimmt, sollte man sich zuvor die Aspekte der folgenden Checkliste vergegenwärtigen.
Checkliste zur Beurteilung der Fahreignung
- Handelt es sich um einen Gutachtenauftrag oder um eine informelle klinisch vorzunehmende Beurteilung der Fahreignung?
- Handelt es sich um die Beurteilung der Fahreignung für das Führen von Fahrzeugen der Gruppe 1 (< 3,5 t) oder der Gruppe 2 (> 3,5 t sowie Personenbeförderung)?
- Was ist den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (bzw. dem Kommentar zu den Begutachtungsleitlinien) über die Risikoeinschätzung in Bezug auf die Fahreignung zu entnehmen?
- Ist eine leistungsdiagnostische Untersuchung vonnöten?
- Liegen komorbide Störungen vor, die eine Fahreignung per se ausschließen (z.B. derzeit manifeste Suchterkrankung mit bestehender Substanzeinnahme)?
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Fahreignung bei psychischen Erkrankungen", herausgegeben von Alexander Brunnauer, Matthias Graw und Gerd Laux. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.