
3 Fragen an ...
Prof. Dr. med. Kirsten R. Müller-Vahl ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Oberärztin in der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule in Hannover (MHH) und leitet dort die „Forschungsgruppe Tourette“.Sie ist 1. Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin“, Vorstandmitglied der „Internationalen Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin“ (IACM) sowie Mitglied des Sachverständigenausschuss für Betäubungsmittel der Bundesopiumstelle des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) und hat sich als Einzelsachverständige den Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags im Rahmen der Anhörung zum neuen „Cannabis-Gesetz“ beraten. Darüber hinaus hat sich Frau Prof. Müller-Vahl in zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Buchbeiträgen profiliert.
Dr. med. Franjo Grotenhermen studierte Humanmedizin an der Universität zu Köln und betreibt in Steinheim eine ärztliche Praxis mit dem Schwerpunkt auf der Therapie mit Cannabis und Cannabinoiden. Seit 1997 ist er Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin e.V. (ACM), und gegenwärtig Vorstandsvorsitzender der Internationalen Allianz für Cannabinoidmedikamente (IACM). USeit November 2023 ist er Ärztlicher Leiter der canncura GmbH. Er publizierte zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Bücher und Artikel und wurde für seine Arbeit zur Weiterentwicklung der Therapie mit Cannabinoiden mehrfach ausgezeichnet.
1. Welche Rolle spielt das Endocannabinoid-System im menschlichen Körper?
Das Endocannabinoid-System ist im menschlichen Körper weit verbreitet und ein in allen Geweben und Organen nachweisbares Kommunikationssystem. Körpereigene Liganden, sogenannte Endocannabinoide, werden on demand gebildet, um ihre Wirkung durch eine Bindung an Cannabioidrezeptoren zu entfalten. Eine Aktivierung des Endocannabinoid-Systems hat vielfältige Wirkungen auf zahlreiche andere Transmittersysteme. Innerhalb des Gehirns gilt das Endocannabinoid-System als wichtigstes Neuromodulations-System. Darüber hinaus kommt dem Endocannabinoid-System eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung der Homöostase und der Stressregulation zu.
2. Inwieweit können cannabisbasierte Medikamente die Lebensqualität von Patient:innen beeinflussen?
Im Gegensatz zu der Mehrzahl der etablierten Arzneimittel haben cannabisbasierte Medikamente ein außergewöhnlich breites Wirkspektrum. Da ihr Wirkmechanismus einzigartig ist, können sie auch dann noch zu einer Symptomverbesserung führen, wenn andere Therapien versagt haben. Wegen der guten Verträglichkeit können sie auch bei schwerkranken Patient:innen, Kindern, Jugendlichen und Älteren eingesetzt werden, mehrheitlich ohne klinisch relevante Nebenwirkungen zu verursachen. Besonders bei Menschen mit chronischen und schwerwiegenden Erkrankungen führen cannabisbasierte Medikamente oft zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität, da sie gleichzeitig verschiedene Krankheitssymptome und häufig auftretende Begleitsymptome schwerer Erkrankungen günstig beeinflussen wie Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Ängste und Depressionen. Aus diesem Grunde sind cannabisbasierte Medikamente mittlerweile nicht nur in der Schmerztherapie, sondern auch in der Palliativmedizin etabliert.
3. Welche Nebenwirkungen können durch die Anwendung von Cannabis hervorgerufen werden?
Cannabisbasierte Medikamente sind sehr sichere Medikamente. Allerdings sind akute Nebenwirkungen häufig. Alle THC-haltigen Präparate können Müdigkeit, Benommenheit und Schwindel verursachen. Des Weiteren kommt es oft zu Mundtrockenheit und geröteten Augen, seltener zu Schwankungen von Puls und Blutdruck. Psychotische Symptome treten bei sachgerechter Anwendung unter Beachtung der Risiken im Rahmen einer ärztlich überwachten Therapie kaum je auf. Da die beschriebenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen einer Toleranzentwicklung unterliegen, sollte die Behandlung stets niedrig dosiert begonnen und nur langsam gesteigert werden. Dadurch kann die Verträglichkeit deutlich verbessert werden.
4. Welche Verschreibungsmöglichkeiten von Cannabis gibt es in Deutschland und wie können Patient:innen eine Kostenübernahme beantragen?
Die Verordnung aller THC-haltigen Cannabisarzneimittel wird im Cannabisgesetz (MedCanG) geregelt. Eine Vorordnung ist durch alle Ärzt:innen möglich mit Ausnahme von Zahn- und Tierärzt:innen. Eine Verschreibung zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse kann seit Oktober 2024 nicht mehr nur nach vorheriger Genehmigung durch die Krankenkasse erfolgen, sondern auch durch entsprechend qualifizierte Ärzt:innen, ohne dass zuvor ein Kostenübernahmeantrag gestellt wurde. Hierzu zählen Fachärzt:innen zahlreicher Facharztgruppen wie Innere Medizin, Allgemeinmedizin, Gynäkologie, Anästhesiologie, Psychiatrie und Neurologie. Allerdings wird das Stellen eines Kostenübernahmeantrags zumindest in unklaren Fällen dennoch empfohlen, um das Risiko späterer Regressforderungen durch die Krankenkasse zu reduzieren. Verschreiben werden können neben reinem THC (Dronabinol) eine Vielzahl von oralen Cannabisextrakten und Medizinalcannabisblüten, die jeweils auf die Gehalte an THC und CBD standardisiert sind. Die Zahl der zugelassenen Fertigarzneimittel auf Cannabisbasis ist nach wie vor gering und umfasst lediglich das THC-Analogon Canemes® mit dem Wirkstoff Nabilon, den balancierten Cannabisextrakt Sativex® und das CBD-Präparat Epidyolex®.
Das Buch "Cannabis und Cannabinoide" bietet eine aktuelle und praxisorientierte Anleitung für die medizinische Verwendung von Cannabis und cannabisbasierten Medikamenten und liefert zudem eine Vielzahl von Tipps zur Verschreibung und Kostenübernahme durch die Krankenkasse.