
Kunst & Gesundheit: Healing Art
Healing Art - Wie die Verbindung von Kunst, Klinikarchitektur und Gesundheit gelingen kann
Isabel Grüner
In der Umwelt- und Architekturpsychologie wird seit über 30 Jahren die Wechselwirkung zwischen gebauter Umgebung und dem körperlichen und seelischen Wohlbefinden von Patienten und Personal untersucht. Kunst wird in Studien zum „Healing Environment“ als ein wesentlicher Umgebungsfaktor aufgeführt. In englischsprachigen und skandinavischen Ländern gibt es mit den „Art in Hospital“-Programmen bereits mehr Akzeptanz und Erfahrungswerte. In folgendem Beitrag werden an Hand des in Deutschland führenden Pionier- und Leuchtturmprojekts „Healing Art“ am Robert Bosch Krankenhaus Stuttgart die Möglichkeiten einer gelungenen Verbindung von Kunst, Klinikarchitektur und Gesundheit vorgestellt.
1.1. Vorzeigeprojekt am Robert Bosch Krankenhaus Stuttgart
Das Robert Bosch Krankenhaus (RBK) in Stuttgart verfolgt seit 1998 das Ziel, seinen Patienten neben einer hervorragenden medizinischen Versorgung und innovativen Forschung ein heilungsförderndes Umfeld durch Kunst zu bieten. Der trostlosen Wirkung endlos langer Flure, fensterloser Untersuchungsräume und nüchtern-weißer Patientenzimmer wird mit Bildern und raumgreifenden Farbgestaltungen zeitgenössischer Künstler ein sinnlicher Gegenpol gesetzt. Im Laufe der mittlerweile 26 Jahre konnten 48 Künstlerinnen und Künstler insgesamt 56 ortsspezifische Kunstprojekte in allen Bereichen des Krankenhauses realisieren. Die Menschen werden auf ihrem Weg durchs Krankenhaus von einer Vielfalt künstlerischer Stile und Materialien, Farbkonzepte und Atmosphären begleitet: beginnend in künstlerisch gestalteten Eingangs- und Wartebereichen über Funktions- und Untersuchungsräume bis in die Stationsflure und Patientenzimmer. Selbst auf Intensivstationen und in Aufwachräumen müssen frisch Operierte nicht auf nüchterne Technikdecken schauen, sondern blicken auf mittlerweile vierzehn unterschiedlich gestaltete Decken.
Die Erfahrungen mit den Möglichkeiten und der Wirkung dieses in Deutschland in Umfang und Qualität einzigartigen Vorzeigeprojektes wurden 2019 aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums in der Publikation „Healing Art. Wie Kunst im Krankenhaus Heilung fördert“ dokumentiert (Grüner u. Robert Bosch Krankenhaus Stuttgart 2019). Von der Robert Bosch Stiftung initiiert und über ein Jahrzehnt mit Anschubfinanzierungen unterstützt, bot sich im Robert Bosch Krankenhaus ein einmaliges Erprobungsfeld für die Integration von Kunst in alle Bereiche einer modernen allgemeinversorgenden Klinik.
Der Begriff „Healing Art“ wurde mit der gleichnamigen Publikation „Healing Art. Wie Kunst im Krankenhaus Heilung fördert“ (2019) geprägt und löst die bis dato gängige Bezeichnung „Kunst im Krankenhaus“ ab. Er benennt sehr treffend, das Ziel, mit Kunst eine heilungsfördernde Umgebung im Krankenhaus zu schaffen, die in die Architektur integriert und auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmt ist.
1.2. Formen der Integration und Wirkung von Kunst
Die Integrations- und Wirkungsmöglichkeiten von Kunst im Krankenhauskontext sind vielfältig und sollen im Folgenden an Hand einiger Beispielen aus dem reichen Erfahrungsschatz des RBK aufgezeigt werden.
Die Prozent-Klausel des Bundes bei öffentlichen Bauten wird bei Universitätskliniken teils immer noch ausschließlich in repräsentative Kunst am Bau-Werke investiert, die sich im öffentlichkeitswirksamen Außenbereich der Kliniken, im zentralen Foyer und - sofern im Innern der Klinik - maximal entlang der zentralen Magistrale befinden. Bei Start des Projekts im RBK hat man sich dagegen schwerpunktmäßig auf die Ausstattung der patientennahen Bereiche im Herzen der Klinik konzentriert: auf Patientenzimmer, Stationen und Durchgangsflure. Dort, wo die Patienten die meiste Zeit verbringen und sich auf ihrem täglichen Weg zu Untersuchungen und Therapien befinden.
1.2.1. Kunst auf Stationen und in Patientenzimmern – rezeptive Kunsttherapie
Mobile Kunstwerke, wozu Leinwandbilder, Originalgrafiken (inkl. Fotografien) und Objekte gehören, begleiten die Patienten in ihrem intimsten privaten Umfeld – dem Patientenzimmer. Hier sind sie mit ihren Schmerzen, Sorgen und Ängsten, aber auch mit ihren Hoffnungen, Freuden und Sehnsüchten weitestgehend sich selbst überlassen. In diesem Vakuum kann Kunst zum persönlichen Gegenüber werden und sich ein Dialog zwischen Kunstwerk und Betrachter entwickeln. Im Zwiegespräch entsteht - frei nach John Dewey - eine individuelle Erfahrung, die Emotionen und Impulse auslöst. Kunst bietet so gesehen eine Resonanzebene, die im Sinne der rezeptiven Kunsttherapie heilend auf Körper und Seele wirkt. Herausgelöst aus ihrem Alltagsleben und zurückgeworfen auf sich selbst sind Patienten oft empfänglicher für die geistigen und sinnlichen Anregungen, die von Kunstwerken ausgehen. Wenn sie sich darauf einlassen, können die Bilder eine Brücke zur Welt außerhalb ihres Zimmers schlagen und ihren Blick durch die Augen des Künstlers erweitern (s. Abb. 1).

Abb. 1
1.2.2. Vielfalt versus Gleichförmigkeit - Identifikationsstiftende Wirkung
Bei der flügelweisen Generalsanierung des Akuthauses und der Erneuerung von 19 Pflegestationen wurde die Chance genutzt, Kunst nicht nachgeordnet, sondern bereits in der Planungsphase zu berücksichtigen. Dafür wurden in einem eingeschränkten Wettbewerb Künstler ermittelt, die ein gestalterisches Gesamtkonzept für alle öffentlichen Bereiche einer Station inklusive Stationsflur, Aufenthaltsbereich und Patientenzimmer entwerfen. Die frühe Einbeziehung des künstlerischen Entwurfs ermöglicht eine passgenaue Abstimmung auf die architektonischen Begebenheiten sowie die Berücksichtigung der Bedürfnisse von Patienten und Mitarbeitenden. Durch wechselnde künstlerische Ideen und Stile erhält somit jede Station ein unverwechselbares Erscheinungsbild. Dies trägt nicht nur zur Wiedererkennbarkeit und damit zur besseren Orientierung innerhalb der meist gleichförmig angelegten Stationen bei, sondern auch zur Identifikation der Patienten mit ihrem temporären Lebensort und der Mitarbeitenden mit ihrem Arbeitsplatz. Für sie und auch für Besucher wird der Lebensraum Krankenhaus durch Kunst aufgewertet und die Aufenthaltsqualität wesentlich verbessert.
1.2.3. Raummalereien in Durchgangs- und Verbindungsfluren schaffen Orientierungspunkte
Eine funktionalistische Krankenhausarchitektur mit meist durchgehend gleichen Materialien und Oberflächen erzeugt endlos lange Flure, die monoton und nachweislich ermüdend auf gesunde wie kranke Menschen wirken. Eine hohe Fehlerquote beim Auffinden von Zielorten ist das Ergebnis einer affektarmen Umgebung ohne optische Wegmarken. Auf den Raum abgestimmte Wand- und Deckengestaltungen schaffen hier aufgrund ihrer Großflächigkeit eine wirksamere Abhilfe als kleinteilige Bilder, die meist erst in der Nahsicht wahrgenommen werden können.
Renate Wolffs Gestaltung fünf zusammenhängender Flurabfolgen und Warteräumen in den Bereichen Herzkatheter, Endoskopie und Gastroenterologie ist dafür ein gelungenes Beispiel. Schematisierte Pflanzen- und Tiermotive – jeweils einer Farbe zugeordnet - gliedern die Korridore in einzelne Zonen. Tiere der Luft und des Wassers in Positiv- und Negativformen dargestellt, strukturieren auf wechselnd farbig und weiß belassenen Wandflächen die Flure und beziehen architektonische Details und Proportionen gezielt mit ein. Ohne aufdringlich zu wirken erzeugt die durchdachte Komposition einen belebenden Rhythmus, der die Sinne der durchlaufenden Menschen sanft anregt und den Weg für sie kurzweilig und damit auch kürzer erscheinen lässt. Der Motiv- und Farbwechsel wirkt schon von Weitem anziehend und schafft Anker- und Orientierungspunkte (s. Abb. 2).

Abb. 2
Weiß belassene Räume und Flure steigern das Stress- und Aggressionslevel von wartenden und suchenden Menschen. Raumgestaltungen durch Kunst tragen dazu bei, Räume zu entstressen und dadurch Patienten ruhiger und das Personal leistungsfähiger zu machen. Zu den evaluierten Auswirkungen zählen ein geringerer Verbrauch an Schmerzmitteln, die Reduzierung von Angst, die Senkung von Blutdruck sowie die Steigerung von Vertrauen. Eine atmosphärische Aufwertung der Klinikarchitektur durch Kunst trägt somit wesentlich zum Gesundungs- und Gesunderhaltungsprozess der Patienten und Mitarbeitenden bei.
1.2.4. Deckengestaltungen in Intensivstationen und Aufwachräumen -Delirprävention
Auf Intensivstationen und in Aufwachräumen ist die existentielle Auswirkung künstlerisch gestalteter Decken eindeutig zu beobachten. „Die saftig-grünen Pflanzen weckten in mir den Willen zum Leben“ - diese Rückmeldung einer frisch operierten Patientin zur Deckenmalerei von Uwe Schäfer im Aufwachraum des ambulanten OP-Bereichs bringt die Steigerung von Lebensenergie durch Kunst klar auf den Punkt.
Fehlende positive Sinneseindrücke auf hochtechnisierten Intensivstationen führen zu sensorischer Deprivation, was als Ursache für Halluzinationen, Angstzuständen und Desorientiertheit bei Patienten bereits lange bekannt ist. Künstlerische Deckengestaltungen fördern durch optische Reize die Wahrnehmungsfähigkeit und damit die Aktivierung des neuronalen Netzwerks bei Schwerstkranken. Bei einer 2004 auf der Intermediate Care Station (IMC) durchgeführten stationsinternen Beobachtungsstudie entwickeln zehn von 15 Patienten unter einer gestalteten Decke kein Delir (Grüner 2004). Nachträglich befragt, bestätigen sie, dass ihnen die bemalte Decke Halt und Orientierung gab und sie als beruhigend und wohltuend wahrgenommen haben. Eine Langzeitstudie an der Charité Universitätsmedizin Berlin untersucht seit 2017 ebenfalls wie mithilfe nicht-medikamentöser Interventionen eine Reduktion der Anzahl und Dauer von Delirien erreicht werden kann (s. Abb 3) (Lütz 2017).

Abb. 3
1.3. Bedürfnisanalyse und Einbindung in Planungsprozesse
Für die gelingende Integration von Kunstprojekten in das unmittelbare Patientenumfeld bedarf es einer gut moderierten Kommunikation. Ausführliche Gespräche mit dem medizinischen und therapeutischen Personal gehen jedem Projekt voraus. Darin werden die Bedürfnisse der Patienten und Mitarbeitenden definiert sowie ein Kriterienkatalog für die Interventionsmöglichkeiten und -notwendigkeiten mit Kunst erarbeitet. Diese fließen in die Projektausschreibung für den Kunstwettbewerb ein. Die Kuratorin – im RBK eine festangestellte Kunsthistorikerin - lädt professionelle Künstler ein, die aufgrund ihrer Bildsprache und künstlerischen Praxis für die Aufgabenstellung geeignet scheinen.
Nach Auswahl des Entwurfs durch ein interdisziplinär besetztes Gremium interner und externer Berufsgruppen ist eine frühzeitige Einbeziehung des Künstlers in den architektonischen Planungsprozess und den Bauablauf entscheidend - bestenfalls bevor das Farb- und Materialkonzept festgelegt und umgesetzt wird. Dadurch können Ressourcen gespart, doppelte Arbeitsgänge vermieden und ein stimmiges Gesamtbild erreicht werden.
Wie durch diese Vorgehensweise das Erscheinungsbild und die Aufenthaltsqualität eines ganzen Gebäudes verbessert werden kann, wird am RBK Lungenzentrum Stuttgart deutlich, das 2021 im Rahmen einer Bestandsverdichtung fertig gestellt wurde. Die Fassaden- und Foliengestaltung von Tanja Rochelmeyer mit floral-abstrahierten Motiven schützt nicht nur vor Einblicken aus anderen Gebäudeteilen, sondern schafft zugleich schöne Aus- und Anblicke für die innenliegenden Patienten und die der angrenzenden Stationen und Büros. Im Inneren erleichtern die vielschichtig luftig lasierten Wandmalereien von Elisabeth Sonneck den Lungenkranken das Atmen und ihr über alle Stockwerke reichendes Farbkonzept verleiht den Fluren einen koloristischen Rhythmus, der sich auch auf die Arbeitsatmosphäre des Pflegepersonals wohltuend auswirkt (s. Abb. 4).

Abb. 4
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Kunst und Medizin - Wie Musik, Malerei, Tanz, Literatur und Architektur heilen", herausgegeben von Prof. Dr. med. Stefan N. Willich. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.