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Kindesmissbrauch als Thema in den Medien

Sexueller Kindesmissbrauch als Thema in den Medien – Chancen und Risiken

Nicola Döring

Sexueller Kindesmissbrauch (SKM) ist ein gesellschaftliches Problem, das oft verschwiegen, verleugnet und vertuscht wird. Daher ist es im Sinne der Prävention und Intervention wichtig, das Thema auf die öffentliche Agenda zu bringen. Ein lösungsorientierter öffentlicher Diskurs sollte dazu beitragen, die notwendigen Schutzmaßnahmen im Gesundheits‑, Bildungs- und Justizsystem sowie im privaten Alltagsleben zu ergreifen, um Missbrauch zu reduzieren und Betroffene zu unterstützen. Gefragt ist hier an erster Stelle eine qualitätsvolle journalistische Berichterstattung. Im Social-Media-Zeitalter spielen zudem selbst produzierte Beiträge von Fachkräften und Betroffenen auf YouTube, Instagram oder TikTok eine immer wichtigere Rolle. Nicht zuletzt kann auch eine reflektierte künstlerische Verarbeitung des Themas in Form von Comics, Romanen, Songs, TV- und Kinofilmen das Publikum sensibilisieren und aufklären. 

Darüber hinaus beteiligen sich am öffentlichen Missbrauchsdiskurs diverse weitere Personengruppen mit unterschiedlichen Motiven, etwa Influencer:innen, die über das Thema Reichweite und Umsätze generieren, oder Politiker:innen, die über das Thema Popularität gewinnen wollen (Döring 2018; Döring u. Walter 2023). Verschiedene Fachdisziplinen befassen sich mit der Analyse des medialen Missbrauchsdiskurses, dazu gehören unter anderem die Medien- und die Kommunikationswissenschaft, die Medienpsychologie und -soziologie sowie die Geschichts- und Kulturwissenschaft. Der vorliegende Beitrag illustriert die Chancen einer verantwortungsvollen öffentlichen Kommunikation über sexuellen Kindesmissbrauch mit Beispielen. Er geht aber auch auf gut belegte Risiken ein: Reißerische Berichterstattung, ideologische Instrumentalisierung des Themas sowie Verbreitung von Stereotypen und Mythen kommen häufig vor und schaden der gesellschaftlichen Problembearbeitung. Um die aktuelle öffentliche SKM-Kommunikation einordnen und weiterentwickeln zu können ist es wichtig, sie in ihrem historischen Wandel zu sehen. [...]


1. Chancen der öffentlichen Kommunikation über SKM

Es herrscht breiter Konsens, dass das Schweigen über sexuellen Missbrauch gebrochen und öffentlich über dieses weitreichende und komplexe Problem gesprochen werden muss. Doch welche positiven Effekte erhofft man sich im Einzelnen von qualitätsvoller öffentlicher Kommunikation über SKM?


1.1 Aufklärung der Öffentlichkeit

Übergeordnetes Ziel einer qualitätsvollen, also sachlichen und fundierten Berichterstattung (Döring u. Walter 2020) ist es, die breite Öffentlichkeit zu informieren, also Wissenslücken zu füllen und Fehlinformationen aufzuklären. Eine sensibilisierte Öffentlichkeit sollte idealerweise in der Lage sein, sich im eigenen Privatleben bezüglich Missbrauch verantwortungsvoll zu verhalten sowie sich für sinnvolle politische und soziale Maßnahmen einzusetzen. Neben Nachrichten können auch fiktionale Darstellungen (Filme, Romane, Songs) einen Aufklärungswert haben. So gibt es beispielsweise YouTube-Playlists mit Musikvideos von „Healing & Empowerment Songs for Child Sexual Abuse“ (https://www.youtube.com/playlist?list=PLsvUZH0xly6V8dPRU8qlhJpDOBot_TwnJ).


1.2 Stärkung der Betroffenen 

Berichterstattung trägt zu einer Enttabuisierung von SKM bei, die es Betroffenen erleichtert, sich zu äußern sowie Hilfe und Unterstützung zu finden. Tatsächlich gibt es Belege dafür, dass Berichte in Massenmedien sowie auch auf Social-Media-Plattformen, in denen von Missbrauch betroffene Menschen respektvoll zu Wort kommen, ihre Erfahrungen schildern und politische Forderungen artikulieren können, ermutigend und empowernd wirken (Kitzinger 2004). Ein Beispiel ist die YouTube-Reportage „Missbrauch im Turnverein: Wie Betroffene sich wehren“ von STRG_F, einem journalistischen Format aus dem öffentlich-rechtlichen funk-Netzwerk.

In der 2022 veröffentlichten Reportage äußern sich die von sexuellem Missbrauch durch ihren Trainer betroffenen jungen Turnerinnen aus Weimar. Der bereits über zwei Millionen Mal geklickte YouTube-Beitrag zeigt die Betroffenen als starke Protagonistinnen, die den Missbrauch offengelegt, in ihren Familien Rückhalt gefunden und eine Verurteilung des Täters erwirkt haben. Sie können somit als Rollenmodelle für andere Betroffene fungieren. Dabei treten Betroffene zunehmend über ihre eigenen Medienpräsenzen an die Öffentlichkeit, etwa Andreas Huckele (https://andreas-huckele.de/) als Betroffener des Missbrauchs an der Odenwaldschule. Lena Jensen, die als Influencerin jeweils rund 150.000 Fans auf Instagram und TikTok (https://www.tiktok.com/@lenajensn) erreicht, thematisiert neben Business und Familie auch offen ihren eigenen Missbrauch im sozialen Nahraum.


1.3 Verweise auf Hilfeangebote

Über mediale Darstellungen ist es möglich, Betroffene, Angehörige und potenzielle Täter:innen auf konkrete Hilfeangebote aufmerksam zu machen. Ähnlich wie die Suizid-Berichterstattung regelmäßig Verweise auf die Telefon-Seelsorge enthält, wird die Berichterstattung über SKM zunehmend ergänzt durch Infoboxen, die Anlaufstellen für Betroffene, Angehörige und potenzielle Täter:innen enthalten. An der Verbreitung von Infoboxen mit Anlaufstellen beteiligen sich sowohl die Qualitätspresse (z.B. Die Zeit: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-08/wermelskirchen-sexueller-missbrauch-ermittlungen) als auch die Boulevardpresse (z.B. Die BILD: https://www.bild.de/regional/koeln/koeln-aktuell/koeln-monster-von-wermelskirchen-gestehtgrauenhafte-taten-vor-gericht-82171712.bild.html).


1.4 Enthüllung weiterer Taten

Investigative journalistische Berichterstattung kann dazu beitragen, verheimlichte Missbrauchsfälle offenzulegen, wie dies im Jahr 2010 in der Berichterstattung über die drei oben genannten Schulen in Deutschland geschah. Hier hat sich die Presse national und international große Verdienste erworben. Gewürdigt wurde dies durch zahlreiche Ehrungen. So gewann beispielsweise die Berliner Morgenpost für ihre Aufdeckung des Missbrauchssystems am Berliner Canisius-Kolleg den „Wächterpreis der deutschen Tagesspresse“ der Stiftung „Freiheit der Presse“. Der Indianapolis Star wurde dafür geehrt, den jahrzehntelangen Missbrauch an Dutzenden von minderjährigen Turnerinnen durch den Sportarzt Larry Nassar sowie dessen Vertuschung durch den Turnverband USA Gymnastics aufzudecken. Diese Positivbeispiele verantwortungsvoller Berichterstattung zeigen, dass und wie die Presse mit Betroffenen zusammenarbeiten und Missbrauchssysteme in anerkannten Institutionen aufdecken kann.


1.5 Legitimierung von Präventions- und Interventionsmaßnahmen

Medialer Druck kann dazu beitragen, dass politische Konsequenzen gezogen und wirkungsvolle Präventions- und Interventionsmaßnahmen ergriffen, evaluiert und dauerhaft finanziert werden. Kritische Berichterstattung sollte beispielsweise verfolgen, inwiefern Betroffene von Missbrauch die von den Kirchen versprochenen Entschädigungen tatsächlich erhalten und inwiefern für sie passgenaue therapeutische Begleitung verfügbar ist. Darüber hinaus ist besonders wichtig zu vermitteln, dass zur Bekämpfung des Missbrauchsproblems die nachträgliche Bestrafung überführter einzelner Täter:innen kein ausreichender Lösungsansatz ist. Benötigt werden vielmehr auch Präventionsmaßnahmen wie Schutzkonzepte in Einrichtungen und präventive Täterarbeit, damit es gar nicht erst zum Missbrauch und auch nicht zu dessen jahrzehntelanger Vertuschung kommt. Medienberichte können entsprechende Aufklärungsarbeit über wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen leisten. Ein Beispiel ist der YouTube-Bericht von ZEIT Online mit dem Titel „So lernen Pädophile, mit ihrer Neigung umzugehen“ (2019), der die wichtige Arbeit des Präventionsnetzwerkes „Kein Täter werden“ anhand von Interviews mit Patienten und Therapeuten nachvollziehbar vorstellt. Solche Aufklärung ist wichtig, da zuweilen die Vorstellung vorherrscht, für Täter:innen werde „schon zu viel getan“ und man solle sie lieber einfach „wegsperren“.


2. Risiken der öffentlichen Kommunikation über SKM

Den beschriebenen Chancen öffentlicher Kommunikation über SKM stehen diverse Risiken gegenüber, die sich in sechs Gruppen einteilen lassen.


2.1 Episodisches statt thematisches Framing

Bislang liegen zwei Übersichtsarbeiten vor, die mehr als 30 Presseanalysen von 1995 bis 2017 zusammenfassen (Weatherred 2015; Popović 2018). Der Befund all dieser Analysen ist eindeutig: Zu oft ist die Berichterstattung über sexuellen Kindesmissbrauch auf einzelne Kriminalfälle bezogen (sog. episodisches Framing) und endet mit der Täterbestrafung. Dabei wird eine ganzheitlichere gesellschaftliche Problemanalyse (sog. thematisches Framing) vernachlässigt.


2.2 Sensationalistische und voyeuristische Darstellungen

Sexualisierte Gewalt ist ein Thema, das starke Emotionen wie Neugier, Angst, Trauer, Wut und Rachegelüste auslöst und damit die von den Medien angezielte öffentliche Aufmerksamkeit einbringt. Daher verwundert es nicht, dass die Berichterstattung oft voyeuristische und reißerische Elemente enthält, da diese immer wieder schnellen Aufmerksamkeitserfolg einbringen. Das gilt für die Darstellung im Text (Döring u. Walter 2024), aber auch für die verwendeten Bilder wie beispielsweise Stockfotos (Döring u. Walter 2021). So werden nicht selten Stockfotos verwendet, die Betroffene von Missbrauch objektifiziert und sexualisiert darstellen, da eine Täterperspektive eingenommen und beispielsweise zwischen die Beine eines leicht bekleideten Mädchens fotografiert wird.


2.3 Missachtung der Betroffenen

Fragt man von Missbrauch betroffene Menschen, welche Anforderungen sie an eine gute SKM-Berichterstattung stellen, so wird immer wieder ein Verzicht auf ein reißerisches Ausschlachten der Taten sowie ein respektvoller Umgang verlangt (Baugut u. Neumann 2020; Kavemann et al. 2019). Denn voyeuristische Fragen im Interview oder unnötige Tatdetails in der Berichterstattung können Betroffene re-viktimisieren, re-traumatisieren und eine Form des medialen Übergriffs darstellen. Auch lehnen es Betroffene meist ab, wenn sie eindimensional als bemitleidenswerte Opfer dargestellt werden und dabei ihre Stärken und politischen Forderungen ausgeblendet bleiben. Beliebte Phrasen wie „Missbrauch ist Mord an der Seele“ sind daher problematisch. Denn sie scheinen empathisch die Grausamkeit von Missbrauchstaten zu unterstreichen, stellen aber gleichzeitig allen Betroffenen pauschal eine hoffnungslose Prognose aus und zementieren ihren Opferstatus.


2.4 Dämonisierung der Täter:innen

Eine sensationalistische Berichterstattung dämonisiert darüber hinaus die Täter:innen, die nicht selten als „Monster“ oder „Kinderschänder“ etikettiert oder als dunkle Kapuzenmänner mit Stockfotos illustriert werden. Durch eine solche Dämonisierung werden beim Publikum Hass und sadistische Strafwut geschürt, die sich gerade in Sozialen Medien in Drohungen bis hin zu Aufrufen zur Selbstjustiz aufschaukeln können (Döring 2018, 2022; Krupp 2021). Auf Social-Media-Plattformen sind auch fragwürdige Trends zu beobachten wie selbst erklärte „Pädophilen-Jäger“ (PedoHunters), die sich im Netz als Minderjährige ausgeben, um eigenmächtig tatsächliche oder vermeintliche Missbrauchstäter:innen zu überführen, was typischerweise mit öffentlicher Bloßstellung und Bedrohung einhergeht und im Extremfall bis hin zu Mord und Suizid führen kann (Hussey et al. 2021). Ein rationaler Diskurs über wirkungsvolle Prävention kommt zu kurz oder wird sogar erschwert, wenn in Hassbeiträgen alle „Pädophilen“ zu lebensunwerten „Monstern“ deklariert werden, die somit in der Praxis dann kaum adäquate psychosoziale und medizinische Betreuung nachfragen und finden werden.


2.5 Stereotypisierung

Eine stereotypisierende Berichterstattung birgt zudem das Risiko der Fehlinformation der Bevölkerung. Etwa wenn die Angst vor gefährlichen Fremdtäter:innen geschürt und dadurch die viel wahrscheinlicheren Taten im sozialen Nahraum negiert werden. Oder wenn die Darstellung von Täter:innen als „Bestien“ den Blick darauf verstellt, dass reale Täter:innen oft sozial kompetent und sympathisch auftreten und dass beispielsweise auch und gerade ein netter und adretter Mann, bei dem „man sich das gar nicht vorstellen kann“, ein Missbrauchstäter sein kann (Döring u. Walter 2023).


2.6 Ideologische Instrumentalisierung

Problematisch ist die Instrumentalisierung des Missbrauchsthemas im Kontext von rechtsradikalem Fremdenhass (z.B. erfundene Missbrauchsfälle, die angeblich durch „Asylanten“ oder „Flüchtlinge“ begangen wurden) oder mit anderen diffamierenden Zielsetzungen (z.B. antiislamische oder antisemitische Propaganda, die historisch oft mit pauschalen Missbrauchsvorwürfen verknüpft war und ist). Missbrauch spielt eine bedeutsame Rolle im Kontext von Verschwörungsmythen, die sich gegen politische Gegner:innen oder Elitenrichten, wie beispielsweise PizzaGate (Mythos, dass Hillary Clinton in einer Pizzeria in den USA einen Kinderpornographie-Ring betreiben würde) und Adrenochrom (Mythos, dass in unterirdischen Anlagen in den USA entführte Kinder missbraucht und ihnen das Stoffwechselprodukt Adrenochrom entnommen würde, um von Hollywood-Stars als Anti-Aging-Produkt genutzt zu werden).

Solche Mythen verbreiten sich gerade auf Sozialen Medien wie Telegram oder YouTube (Döring 2018). Dabei fördern die Plattform-Algorithmen nicht selten grenzwertige Beiträge, da diese besonders viele Aufrufe und Kommentare bringen, das Publikum länger auf der Plattform halten und somit mehr Werbegelder einbringen. Nicht zuletzt kann das tatsächliche oder vermeintliche Argument, eine Maßnahme diene dem Schutz vor Kindesmissbrauch oder der Verfolgung von Missbrauchstäter:innen, dazu benutzt werden, öffentlich Stimmung zu machen und sich gegen Kritiker:innen durchzusetzen (z.B. bei Fragen rund um die Gestaltung von Strafverhärtungen oder Internet-Kontrollen). Denn mit dem Missbrauchsargument werden Debatten stark emotionalisiert und polarisiert, sodass eine sachliche Problemanalyse erschwert ist und Kritiker:innen als„Befürworter:innen von Kindesmissbrauch“ diffamiert werden können.


3. Fazit

Die mediale Thematisierung von sexuellem Kindesmissbrauch ist zwiespältig: Einerseits bietet sie nützliche Aufklärung und kann die Problembearbeitung fördern. Andererseits bringt sie schädlichen Voyeurismus, Hass und Fehlinformationen mit sich. Daher gilt es, die aktuellen medialen Debatten über sexuellen Kindesmissbrauch fortlaufend kritisch im Auge zu behalten, möglichst auch in einem wissenschaftlichen Monitoring zu erfassen und schrittweise zu verbessern. Zu einer solchen Verbesserung können alle genannten Akteursgruppen beitragen: Journalist:innen ebenso wie Betroffene, Fachkräfte, Künstler:innen und die breite Öffentlichkeit. Wenn die öffentliche Kommunikation über sexuellen Kindesmissbrauch in Sozialen Medien stattfindet, sind zudem die Plattformbetreibenden gefragt, gegen Missstände wie Online-Hassrede oder Verschwörungsmythen vorzugehen, um einen zivilen und zielführenden Diskurs über dieses wichtige Thema zu ermöglichen.


Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Sexueller Kindesmissbrauch und Pädophilie - Grundlagen, Begutachtung, Prävention und Intervention – Täter und Opfer", herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Stompe und DDr. Kristina M. RitterAlle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.


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