New Work: Zwischen Modewort und Gamechanger
New Work: Zwischen Modewort und Gamechanger – Eine definitorische Annäherung an ein vielschichtiges Konzept
Patrick Merke
1.1 Die begriffliche Unschärfe von New Work – Wenn wir miteinander und aneinander vorbeireden
New Work findet zunehmend Eingang in das Gesundheitswesen. Dies zeigt sich an der wachsenden Anzahl von Veröffentlichungen zu dieser Thematik sowie an der zunehmenden praktischen Umsetzung des Konzepts in verschiedenen Einrichtungen des Gesundheitssektors. New Work ist zu einem weitverbreiteten Gesprächs- und Umsetzungsthema geworden. Bei dieser Entwicklung gibt es allerdings einen kleinen Haken: Obwohl viele über New Work sprechen, herrscht oft keine einheitliche Vorstellung darüber, was der Begriff tatsächlich umfasst. New Work ist ein Sammelbegriff. Diese begriffliche Unschärfe von New Work birgt ein gewisses Problempotenzial, das über bloße semantische Diskussionen hinausgeht und reale Auswirkungen auf die Arbeitswelt hat. Folgende Irritationen sind durch die begriffliche Unschärfe möglich:
- Es können falsche Erwartungen geweckt werden. Mitarbeitende, die von ihrem Arbeitgeber hören, dass New Work-Konzepte eingeführt werden, könnten sich grundlegende Veränderungen in ihrer Arbeitsumgebung und -kultur vorstellen, während die tatsächlichen Maßnahmen möglicherweise nur oberflächlich sind.
- Ein konstruktiver Dialog über Arbeitsplatzinnovationen kann erschwert werden. Wenn Gesprächspartner unterschiedliche Vorstellungen von New Work haben, besteht die Gefahr, dass sie aneinander vorbeireden. Dies macht nicht nur die Diskussion mühsam, sondern kann auch die Entwicklung und Umsetzung effektiver New Work-Strategien nachhaltig behindern.
- Zudem besteht die Gefahr, dass durch die inflationäre und oft oberflächliche Verwendung des Begriffs New Work dessen eigentliche transformative Kraft verwässert wird. Statt als Katalysator für tiefgreifende Veränderungen in der Arbeitswelt zu dienen, könnte New Work zu einem beliebigen Modewort werden, das mehr der vermeintlichen Imagepflege als der tatsächlichen Organisationsentwicklung dient.
Angesichts dieser Problematiken wird deutlich, wie wichtig begriffliche Klarheit sein kann. Nur auf einer eindeutigen Grundlage können Organisationen und ihre Mitglieder ein gemeinsames Verständnis entwickeln und zielgerichtet, effizient und effektiv an der Gestaltung zukunftsfähiger Arbeitsstrukturen arbeiten.
1.2 Selbstbestimmung als Nukleus von New Work
Die folgende Begriffsbestimmung wurzelt in den Ideen von Frithjof Bergmann, dem Begründer des New Work-Konzepts. Dessen Grundgedanke findet sich auch in den Definitionen renommierter Institutionen und Experten wieder (1; 2).New Work ist ein umfassendes Konzept, das sich mit der fundamentalen Neugestaltung von Arbeit und Zusammenarbeit befasst. Die persönliche Selbstbestimmung des Individuums bildet dabei den Nukleus des New Work-Konzepts. Sie ist gewissermaßen das Fundament, auf dem alle weiteren Aspekte aufbauen. Frithjof Bergmann betonte dies nachdrücklich, als er 2004 schrieb:
Diese Selbstbestimmung ist der Grundbaustein, das Molekül, aus dem das System der Neuen Arbeit Stück für Stück aufgebaut worden ist.“
Bergmann präzisiert diesen Gedanken:
Eine Handlung ist selbstbestimmt bzw. frei, wenn der Handelnde sich mit den Wesenselementen identifiziert, aus denen sie entspringt; sie ist erzwungen, wenn der Handelnde sich von den Wesenselementen dissoziiert, das die Handlung erzeugt oder veranlasst.“
Je selbstbestimmter ein Individuum also Einfluss auf verschiedene Aspekte seiner Arbeit nehmen kann und sich mit diesen identifizieren kann – wie z.B. Arbeitsinhalte, -umfang, -zeit, -ort, -dauer und die Wahl der Arbeitspartner –, desto näher kommt diese Arbeit dem Ideal von New Work.
1.3 Die beiden Tonnen Old Work und New Work
Um das Konzept von New Work greifbar zu machen, ist es hilfreich, es als Teil eines Kontinuums zu betrachten. An einem Ende dieses Spektrums steht New Work, am gegenüberliegenden Ende Old Work. Diese Darstellung erlaubt es, die beiden Konzepte zunächst als idealtypische Gegensatzpaare zu verstehen – unabhängig davon, ob und wie oft sie in dieser reinen Form vorkommen.
Eine anschauliche Metapher für dieses Kontinuum und seine beiden Eckpunkte bietet das Bild von zwei Tonnen. Jede Arbeitswelt – sei es Old Work oder New Work – lässt sich als eine solche Tonne vorstellen:
1. Stabilität: Wie eine Tonne sind beide Arbeitswelten in sich gefestigt und kohärent. Sie verfügen über bestimmte feste Regeln, Normen, Prozesse und Strukturen, die ihnen Stabilität verleihen. Eine Tonne und damit die Arbeitswelt kann nicht mal eben so „umgeschmissen“ werden.
2. Schutz: Ähnlich wie eine Tonne Schutz bietet, gewähren beide Arbeitswelten ihren Mitarbeitenden eine gewisse Sicherheit und Vertrautheit gegenüber externen Einflüssen – vor allem von unerwünschten Veränderungen.
3. Barriere: So wie es Kraft und Mühe erfordert, in eine Tonne hinein- oder aus ihr herauszuklettern, ist auch der Ausstieg aus einer (alten) Arbeitswelt oder der Einstieg in die (neue) Arbeitswelt mit Anstrengung verbunden.
4. Komfortzone: Stabilität, Schutz und die Barrieren führen dazu, dass sich die Tonne bzw. Arbeitswelt zu einer Komfortzone entwickelt, die man an sich nicht (mehr) verlassen möchte bzw. kann.
Es ist wichtig, noch zwei Aspekte zu betonen. Erstens handelt es sich um zwei idealtypische Beschreibungen. Dadurch erscheint die Darstellung auf den ersten Blick teilweise sehr schwarz-weiß gezeichnet bzw. eventuell sogar überzeichnet. Vor allem bei der Old Work-Tonne gewinnt man diesen Eindruck. Aber auf einen zweiten, reflektierten Blick erkennt man, dass diese Beschreibungen teilweise der Realität sehr nahekommen. Gerade im Gesundheitswesen befinden sich (viele) Akteure mental noch in der Old Work-Tonne.
Des Weiteren ist es wichtig, zu verstehen, dass aktuell nur wenige Organisationen komplett in einer der beiden Tonnen stecken, sondern dass sie sich (größtenteils) irgendwo auf dem Kontinuum zwischen diesen beiden Tonnen verorten lassen. Innerhalb einer Organisation können sich auch einzelne Bereiche, Aufgaben oder Teams in der oder sehr nahe an der New Work- bzw. Old Work-Tonne befinden. Das ist kein Widerspruch, sondern organisationelle Realität. Die Spannbreite innerhalb einer Organisation ist vielfältig. So gibt es Organisationen, die Elemente von New Work in ihre bestehenden Strukturen integrieren, ohne die Tonne des Old Work richtig zu verlassen.
1.4 Die Transformation von Old Work zu New Work – Ein Weg voller Herausforderungen
Der Übergang von der traditionellen Arbeitskultur (Old Work) zu einer neuen Arbeitsweise (New Work) ist ein komplexer und oft mühsamer Prozess (s. Abb. 1). Organisationen und Teams, die sich auf diesen Weg begeben, stehen im Wesentlichen vor fünf wesentlichen Herausforderungen:
1. Den Aufbruch wagen – Verlassen der Old Work-Komfortzone: Die erste große Hürde besteht darin, den Mut aufzubringen, gewohnte Strukturen zu verlassen. Je länger ein Unternehmen in alten Mustern verharrt, desto schwieriger wird es, den notwendigen Impuls für Veränderung zu erzeugen. Es erfordert Mut und Entschlossenheit, sich von eingefahrenen Gewohnheiten zu lösen und den Schritt aus der „Arbeitswelt der Führungskultur und Delegation“ in die nächstliegende Arbeitswelt zu wagen.
2. Entwicklung einer Partizipationskultur: Nach dem Verlassen der „Arbeitswelt der Führungskultur und Delegation“ beginnt der Weg in die „Arbeitswelt der Führungskultur und Partizipation“. Die Herausforderung liegt darin, Mitarbeitenden schrittweise mehr Einbindung und Gestaltungsspielraum zu gewähren. Da diese Arbeitswelt immer noch hierarchisch organisiert ist und Führungskräfte nach wir vor sehr großen Einfluss ausüben können – im Hinblick auf (finale) Entscheidungen und Kontrolle –, wird diese Arbeitswelt von (fast) allen Akteuren noch akzeptiert und ist daher weitestgehend relativ einfach umzusetzen.
3. Überwindung der Empowerment-Mauer: Vor der Phase der Empowermentkultur steht eine andere große Herausforderung, die gleichzeitig auch einen entscheidenden Wendepunkt markiert: Die Überwindung der „Mauer des Empowerments“. Dies symbolisiert den Übergang von hierarchischen zu heterarchischen Strukturen – die Verschiebung von Verantwortung und Entscheidungskompetenz von den Führungskräften zu den Mitarbeitenden und Teams. Ihre Überwindung erfordert ein grundlegend neues Mindset und Menschenbild. Ohne diese mentale Transformation kann der Schritt in Richtung New Work-Kultur nicht gelingen.
4. Der Sprung ins Empowerment: Der nächste bedeutende Schritt führt in die „Arbeitswelt des Empowerments“. Hier findet eine aktive Befähigung und Ermächtigung der Mitarbeitenden statt. Kennzeichnend sind flachere Hierarchien und verteilte Verantwortung. Führung wird neu definiert als geteilte Funktion, was einen fundamentalen Wandel in der Arbeitsweise und Zusammenarbeit bedeutet. Jetzt geben Führungskräfte einen Teil ihrer Macht ab und die Mitarbeitenden übernehmen wirklich Selbstverantwortung. Während in der Delegations- und der Partizipationswelt immer noch die Option besteht, Aufgaben und Verantwortlichkeiten zurück zu den Führungskräften zu holen, ist dies in der Welt des Empowerments nicht vorgesehen.
5. Der Sprung in die New Work-Tonne: Die letzte Etappe führt in die „Arbeitswelt derVerantwortungskultur und Selbstorganisation“. Hier übernehmen Mitarbeitende eigenverantwortlich Aufgaben, Entscheidungskompetenzen sind breit verteilt, und klassische Führungspositionen weichen situativen oder rotierenden Führungsrollen.
Dieser Transformationsprozess ist komplex und anspruchsvoll und erfordert einen tiefgreifenden Kulturwandel, der u.a. durch folgende vier Hauptmerkmale gekennzeichnet ist:
1. Mindset-Wandel Die Grundlage der Transformation: Langjährige und kulturellverankerte Annahmen über Arbeitsweisen und Mitarbeiterführung müssenhinterfragt und neu gedacht werden. Fest etablierte Hierarchien und Gewohnheiten müssen aufgebrochen werden. Führungskräfte müssen lernen, Kontrolle abzugeben und Verantwortung zu teilen (Kontrollverlust-Toleranz).Ein Klima des gegenseitigen Vertrauens ist essenziell für den Erfolg des Wandels.
2. Kontinuierliches Lernen und Verändern Sowohl Mitarbeitende als auch Führungskräfte müssen alte Rollen aufgeben und neue annehmen. Alle Organisationsmitglieder müssen daher neue Fähigkeiten entwickeln, um inder veränderten Arbeitsumgebung erfolgreich zu sein. In der Übergangsphase werden viele Fehler gemacht. Eine konstruktive Fehlerkultur ist entscheidend für den Lernprozess. Regelmäßige Selbstreflexion und kontinuierliches Lernen werden so zu zentralen Elementen der Unternehmenskultur.
3. Steigende Anforderungen an die Kommunikation Der Transformationsprozess ist von Höhen und Tiefen geprägt. Eine offene, wertschätzende und häufige Kommunikation sowie eine funktionierende Feedback-Kultur sind der Schlüssel für die erfolgreiche Transformation und die Zusammenarbeit.
4. Personalfluktuation als Teil des Wandels Einige Mitarbeitende werden die Organisation verlassen, weil sie sich mit dem Wandel überfordert fühlen oder ihn nicht mittragen möchten. Gleichzeitig wird die Organisation für Fachkräfte attraktiv, die nach modernen Arbeitsformen suchen. Durch den Zu- und Abgang von Mitarbeitenden entsteht eine Belegschaft mit neuen Perspektiven und Fähigkeiten, die fit ist für die New Work-Welt.
Take home messages: New Work ist ein vielschichtiges Konzept, das eine fundamentale Neugestaltung der Arbeitswelt anstrebt, mit der Selbstbestimmung des Individuums im Zentrum. Der Übergang von Old Work zu New Work ist ein komplexer Transformationsprozess mit mehreren Herausforderungen. Dies er-fordert einen tiefgreifenden Kulturwandel, gekennzeichnet durch einen Mindset-Wandel, kontinuierliches Lernen, erhöhte Kommunikationsanforderungen und mögliche Personalfluktuation.
Bezüglich der Überlegung, ob New Work ein Modewort oder ein Gamechanger ist, zeigt sich, dass es sich um beides handeln kann – abhängig von der Umsetzung und dem Verständnis des Konzepts:„ Als Modewort: Die inflationäre und oft oberflächliche Verwendung des Begriffs New Work kann dessen transformative Kraft verwässern. Wenn Organisationen nur oberflächliche Änderungen vornehmen, ohne die tiefgreifenden Prinzipien von New Work zu implementieren, bleibt es bei einem Modewort.
Als Gamechanger: New Work ist ein Konzept, das fundamentale Veränderungen in der Arbeitskultur, Hierarchie, Entscheidungsfindung und Verantwortungsverteilung mit sich bringt. Wenn vollständig um-gesetzt, hat New Work das Potenzial, die Arbeitswelt grundlegend zu verändern und ist somit ein echter Gamechanger. Ohne dieses umfassende Verständnis und die Bereitschaft zur grundlegenden Veränderung wird New Work sehr wahrscheinlich ein Modewort bleiben …
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "DIVI Jahrbuch 2024/2025 - Schwerpunkt: New Work", herausgegeben von Prof. Dr. med. Stefan Kluge, Prof. Dr. med. Michael Sander, Univ.-Prof. Dr. med. Felix Walcher und Prof. Dr. med. Dr. h. c. Stefan Schwab. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.