Singen und Gesundheit
1. Singen und Gesundheit
Gunter Kreutz und Katarzyna Grebosz-Haring
1.1. Zugang und Teilhabe
Viele Menschen halten das Singen für eine Kunstform, die nur überdurchschnittlich begabten Talenten vorbehalten sei. Eine neurologisch begründete Amusie, also die Unfähigkeit, Tonhöhen und Melodien richtig abzuspeichern oder zu reproduzieren, ist jedoch nur in einem verschwindenden Bevölkerungsanteil nachweisbar. Sich selbst für wenig oder gar nicht gesangsbegabt zu halten, kann somit nur teilweise erklären, warum etwa in der bundesdeutschen Bevölkerung nur etwa sechs bis acht Prozent der Bevölkerung regelmäßig singt, davon weniger als zwei Prozent in Chorverbänden.
1.2. Gesundheitliche Wirkung
Selbstberichte von Chorsängern legen positive psychische, körperliche und soziale Wirkungen nahe. Solche Erfahrungen berichten auch Gesangsnovizen, die in prekären Verhältnissen leben und als sozialmarginalisiert gelten können. Diese wegweisenden Studien ließen durchscheinen, dass mit dem (gemeinsamen) Singen Empfindungen von gestärktem Wohlbefinden, verringerte Stressbelastungen und ein insgesamt positiveres Selbstbild einhergehen. Auch bewusstseinsverändernde Zustände, wie das Aufkommen von Flow oder starken Glücksempfindungen werden nicht selten berichtet. Wichtig in diesen Zusammenhängen ist, dass gesangliche Aktivitäten weder als Proben- und Aufführungspraxis gestaltet, noch zwingend von einer musiktherapeutisch qualifizierten Person angeleitet sein müssen. Oftmals sind Mitsingangebote völlig ausreichend, um Menschen ohne besondere musikalische Vorkenntnisse und ohne deklarierte therapeutische Absichten in ein musikalisches Miteinander einzubeziehen. Somit erhebt sich die Frage, inwieweit vom Singen spezifische Wirkungen ausgehen und wie diese gesanglich initiierten Veränderungen zu begründen und zu verstehen sind.
Das gemeinsame Singen als wohltuend, entspannend oder aktivierend zu empfinden, ist eine Sache. Diese Empfindungen zu erklären und auf die gesanglichen Aktivitäten zurückzuführen, jedoch eine andere.
Gruppenaktivitäten, wie Konzert- oder Theaterbesuche in einer Gruppe, leichte sportliche Aktivitäten oder kooperative Tätigkeiten, können individuell positiv zurückwirken und zu Stimmungsaufhellungen beitragen. Zu bedenken ist weiterhin, dass Gruppenaktivitäten zwar von vielen, aber längst nicht von allen Menschen als besonders wohltuend empfunden werden.
Die gesundheitlichen Wirkungen des Singens zu verstehen, erfordert als erstes, die Wünsche, Vorstellungen und grundsätzliche Affinität mit zu bedenken. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, dass gerade individuelle Krisensituationen, gesundheitliche Ereignisse und bestimmte Lebensumstände eine solche Affinität auslösen können. Mit anderen Worten, man kann nicht fehlgehen, Singangebote bereitzuhalten, zumal in vielen Studien, die sich mit bestimmten Zielgruppen befassen, es sich sehr häufig um gesanglich weitgehend unerfahrene Personen handelte. Die Mitglieder des zitierten Chores von sozial benachteiligten Menschen verfügten beispielsweise kaum über Gesangserfahrungen.
Ein besonderer Vorteil des gemeinsamen Singens ist es, dass es als integrative und inklusive musikalische Aktivität gestaltet werden kann. Menschen können unabhängig von demografischen, kulturellen oder sozioökonomischen Hintergründen, Sprach- und Allgemeinbildung oder Gesundheitsstatus an Singangeboten teilnehmen.
Allein dieser inkludierende Aspekt birgt gesundheitliche Potenziale. Eine spezifische Bedeutung des Singens liegt eventuell darin, dass sich positive Erfahrungen schnell einstellen können und es somit als eine besonders effektive, „eisbrechende“ Strategie für soziale Bindungen gelten kann
Die Wahrscheinlichkeit, das gemeinsame Singen als erfolgreiche Strategie einzusetzen, um sozialen Zusammenhalt zu stärken, ist selbstredend dort besonders hoch, wo ein solcher häufig als Mangel beschrieben wird. Vielleicht ist diese Beobachtung ein wesentlicher Grund, warum sich sehr viele Studien intensiv mit Chören und Singgruppen älterer Menschen befassen. Grundsätzlich führen chronische Erkrankungen, die in dieser Gruppe häufiger auftreten, vermehrt zu Verlusten von Gefühlen sozialer Unterstützung und entsprechend mehr Gefühlen von Isolation und Einsamkeit. Zu beachten ist, dass ältere Menschen von frühen Musikerfahrungen besonders profitieren. Im Umkehrschluss hält das gemeinsame Singen in allen Lebensaltern wichtige Funktionen bereit, die für das spezifische Alter und darüber hinaus bedeutsam sein können.
1.2.1 Kindheit und Jugendalter
Das Singen und vor allem Besungen-werden kann im Säuglings- und Kleinkindalter bereits gefühlsregulierend, aktivierend wie beruhigend wirken. Das Ans-Kind-gerichtete Sprechen oder die Ammensprache ist aufgrund ihrer musikalischen Qualität dem Singen sehr nahe und Ausdruck einer intimen Eltern-Kind-Beziehung. Singen unterstützt zudem den Spracherwerb und kann der psychomotorischen Entwicklung des Stimmapparates zuträglich sein. Pilotstudien deuten außerdem darauf hin, dass Singen physiologischen Stress bei Kindern und Jugendlichen reduzieren kann, der beispielsweise als Risikofaktor für psychische Erkrankungen gilt. Wichtig zu bemerken ist, dass Stimmhygiene und Sprachentwicklung einander bedingen, denn es ist zumindest wahrscheinlich, dass auftretende Stimmstörungen mit Sprachentwicklungsverzögerungen einhergehen können.
1.2.2. Lungenerkrankungen
Chronisch-obstruktive Lungenerkrankungen sind eine der häufigsten Todesursachen weltweit. Häufig nehmen solche Erkrankungen einen progressiven und irreversiblen Verlauf. Therapeutische Interventionen richten sich folglich auf eine Konservierung des aktuellen Status, verbunden mit einer optimalen Lebensqualität. Seit einigen Jahren sind vielfältige Studienunternommen worden, um die Potenziale von Gruppensingen für Betroffene aufzudecken. Die Ergebnisse eines Cochrane-Reviews fallen gleichwohl eher ernüchternd aus und bescheinigen bisherigen Studien eine eher mäßige methodische Qualität. Gleichwohl treffen geringe messbare Effektstärken hinsichtlich verbesserter Symptomatik auf ein weitaus höheres Maß an Selbstüberzeugungen von Betroffenen, die über kontinuierliche Verbesserungen ihrer Befindlichkeit im Laufe von mehrwöchigen Singinterventionen berichten. Es liegt daher nahe, dass die auf medizinische Indikatoren gerichtete Forschung sich eher wenig mit den Selbstbildern und Bewältigungsstrategien von Menschen mit schwerwiegenden Lungenerkrankungen beschäftigt. Es mag somit der Eindruck entstehen, dass dem gemeinsamen Singen eine relative Wirkungslosigkeit einbeschrieben ist. Doch ähnlich wie bei Singangeboten für Menschen mit psychischen Problemen, so scheinen Selbstberichte die am ehesten überzeugenden Hinweise auf eine nachhaltige Bedeutung für die Lebensqualität in dieser Gruppe darzustellen.
1.2.3. Parkinson
Menschen mit einer Parkinson-Erkrankung leiden oftmals unter Störungen des Stimm- und Sprechapparates. Wenngleich Sprechen und Singen jeweils auf die Funktionalität von Basalganglien und Kleinhirn mit angewiesen sind, so unterscheiden sich die Domänen für die Patientengruppen grundlegend. So wurde beobachtet, dass ein dysfunktionales Sprechen zumindest bei einigen Patienten verschwindet, wenn sie gebeten werden zu singen. Beispielsweise zeigten Parkinsonpatienten mit musikalischen und gesanglichen Fähigkeiten eine verbesserte Artikulation und Sprachverständlichkeit. Vor diesen Hintergründen sind eine Vielzahl von Interventionsstudien unternommen worden, mit dem Ziel, durch gezielte Gesangsübungen die Sprachproduktion zu verbessern. Systematische Forschungsübersichten bescheinigen zwar insgesamt ein Potenzial von Chorsingen für eine verbesserte Sprachproduktion und Verständlichkeit in der Zielgruppe, weisen aber auch auf methodische Defizite hin, welche die Interpretation solcher Befunde einschränken. Menschen mit Parkinson-Erkrankungen können jedoch auch in anderer Hinsicht von Singinterventionen oder der Teilnahme am Chorsingen profitieren, vor allem in Bereichen des mentalen Wohlbefindens und der empfundenen Lebensqualität. Zusammenfassend zeigt sich, dass musikbasierte Interventionen generell und besonders das gemeinsame Singen sowohl körperlich als auch psychisch sich günstig auf Menschen mit Parkinson auswirken können. Gelegentlich werden auch Verbesserungen beim Schlucken berichtet. Einmal mehr führen die Befunde die strategische Bedeutung eines Trainings des Vokal- und Atemapparats vor Augen.
1.2.4. Demenz
Demenzerkrankungen sind individuell und sozial mit hohen Belastungen für Betroffene wie das persönliche Umfeld verbunden. Der fortschreitende geistige Verfall führt hier besonders schnell zu einer erhöhten Abhängigkeit von Hilfestellungen, Betreuung und Pflege. Gleichwohl sind musikalisch-gesangliche Aktivitäten für Menschen mit Demenz besonders gut geeignet, um für mehr Lebensqualität zu sorgen. Ins Kalkül kommen hier eine positive Affektivität, kognitive Aktivierungen, Nutzung des Sprech- und Singapparats und schließlich eine soziale Verbundenheit, die häufig zu mehr Anteilnahme am Gruppengeschehen und mehr Bewegung und Mobilität verbunden ist. Gleichzeitig ist mit entsprechenden Interventionen die Hoffnung verbunden, emotionale Dysregulation zu reduzieren, die häufig den Pflegealltag erschweren und Patienten sowie Personal zusätzlich belasten. Die relativ geringe Zahl musiktherapeutisch ausgebildeter Fachkräfte steht einem überproportionalen Bedarf an musikalischen Interventionen und insbesondere Singangeboten gegenüber. Somit bietet das Singen zusätzlich einen pragmatischen Vorteil, da es, wenn es etwa in Pflegeeinrichtungen eingesetzt wird, sich als skalierbare Maßnahme erweist, da solche Angebote selbstredend auf Gruppen angewiesen sind, deren Größe durch die Infrastruktur und die individuelle Erreichbarkeit in erster Linie bestimmt ist. Wenngleich nur ein eher geringer Anteil pflegebedürftiger älterer Menschen heute in zentralen Einrichtungen versorgt wird, so fehlt es gerade dort sehr häufig an strukturell verankerten Angeboten, die für größere Gruppen geeignet sind. Unter diesem Aspekt ist es durchaus zu erwägen, ein erhöhtes Augenmerk auf vergleichsweisegünstig zu etablierende Singangebote zu legen.
1.3. Schlussbemerkungen
Das (gemeinsame) Singen ist mit einer Vielzahl gesundheitsrelevanter Wirkungen behaftet. Eine einzigartige, spezifisch dem Singen und keiner anderen Aktivität zuzuschreibende Bedeutung ist dennoch nicht zu erkennen. Das bedeutet, dass sich das Singen als eine zumeist einfach zu verwirklichende Beschäftigung darstellt, die weitgehend frei ist von unerwünschten Nebenwirkungen, viel Freude bereitet und von vielen Menschen als wohltuend, entlastend und zugleich aktivierend empfunden wird. Zu bedenken bleibt, dass die Motivation für das Singen nicht primär aus dem Kalkül therapeutischer Wirkungen, sondern vielmehr ästhetischer Bedürfnisse von kultureller Teilhabe entspringt. Dies schließt nicht aus, dass aus medizinischer Sicht Musik- oder Singangebote sich in solchen Bereichen sehr empfehlen, in denen medikamentöse Alternativen unzureichend sind oder nicht in der gebotenen Qualität zur Verfügung stehen. Hier kommt es auf die Sensibilität und die Kenntnisse behandelnder Ärzte an, eine soziale Verschreibung kultureller Teilhabe auch in Form von Singen, Tanzen und Musik für eine sehr große Zahl von Patienten mit zu erwägen. Es bleibt schließlich eine Generationenaufgabe, um das Singen in Familien, Kindergärten und Grundschulen in der Fläche zu kultivieren, um dessen Potenziale für mehr Wohlbefinden und Lebensqualität voll auszuschöpfen – auch zum Vorteil von Gesundheitssystemen, die viel zu lange die Bedeutung kultureller Teilhabe für Genesungsprozesse ignoriert und marginalisiert haben.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Kunst und Medizin - wie Musik, Malerei, Tanz, Literatur und Architektur heilen", herausgegeben von Prof. Dr. med. Stefan N. Willich. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.