Krankenhaus als Dienstleistungsunternehmen
1. Krankenhäuser auf dem Weg zu modernen Dienstleistungsunternehmen
Jörg Schlüchtermann
Die Leistungserstellung im Krankenhaus weist zahlreiche Besonderheiten auf. Die Kenntnis dieser speziellen Charakteristika kann bei wichtigen Managementproblemen wertvolle Hilfestellung geben.
Die Leistungen eines Krankenhauses sind als hochkomplexe, bilateral personenbezogene Dienstleistung einzustufen. Sie bestehen aus einem Leistungsbündel mit zahlreichen Teilprozessen zur Diagnose, Behandlung und Pflege sowie Unterbringung und Verpflegung.
Ziel des Kernprozesses und damit Produkt- oder Primärleistung des Krankenhauses ist die Veränderung des Gesundheitszustandes seiner Patienten.
Dieser grundsätzliche Zusammenhang wird nicht selten verdeckt oder überlagert von einer Diskussion um Sekundärleistungsgrößen. Sehr viele Managementphänomene im Krankenhaus müssen vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Primärleistung zahlreiche Quantifizierungs- und Messprobleme aufweist. Als direkte Folge davon findet die Diskussion sehr oft ersatzweise auf der Ebene der Sekundärgrößen wie Fallzahlen, Pflegetage oder Einzelleistungen statt. Als Beispiel hierfür kann auch auf die diversen Ausgestaltungsmöglichkeiten von Krankenhausvergütungssystemen verwiesen werden. Diese Fokussierung auf die Proxy-Größen der Sekundärebene sollte aber nicht in Vergessenheit geraten lassen, dass der Erhalt oder besser noch die Verbesserung des Gesundheitsstatus die eigentliche Primärleistung darstellt.
Die Unterscheidung in eine primäre und eine sekundäre Ebene sollte zudem nicht nur auf der Output-, sondern auch auf der Input-Seite vorgenommen werden. In der Abbildung 5 wird die in der Produktionstheorie der Betriebswirtschaftslehre übliche Dreiteilung in Input, Throughput (Produktion) und Output auf die Leistungserstellung im Krankenhaus übertragen. Darin wirderkennbar, woraus die beiden Ebenen jeweils bestehen. Diese gedankliche Trennung ist für viele Managementprobleme im Krankenhaus von zentraler Bedeutung.
Zudem wird deutlich, dass die jeweiligen Primärebenen weitestgehend immaterielle und intangible Elemente enthalten. Dies führt zu der Diskussion um die besonderen Charakteristika oder sogenannten konstitutiven Merkmale von Dienstleistungen im Allgemeinen und Krankenhausleistungen im Besonderen. Das Dienstleistungsmanagement bzw. die Dienstleistungsbetriebslehre gehört zu den neueren Entwicklungen in der Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre. In der betriebswirtschaftlichen Literatur wird kontrovers darüber diskutiert, ob es möglich und zielführend ist, Dienstleistungen von der Sachgüterproduktion so weit abgrenzen zu können, dass eigenständige Managementkonzeptionen daraus entstehen. Unabhängig davon, ob der Dienstleistungsbetriebslehre eine eigenständige Rolle als Managementkonzeption zugesprochen wird oder nicht, ist es unbestritten, dass es wichtige Merkmale gibt, mit denen sich Dienstleistungen von Sachgütern unterscheiden. Diese besonderen Merkmale lassen sich in drei Dimensionen darstellen, die allerdings nicht vollkommen trennscharf sind, sondern vielfältige Anknüpfungspunkteaufweisen:
- Integrativität,
- Individualität und
- Verhaltens-und Bewertungsunsicherheit (s. Abb. 6).
Diese Eigenschaft der Integrativität beinhaltet weitere wichtige Komponenten. Die erste betrifft die Simultanität von Leistungserstellung und Leistungsabgabe. Wenn der Patient gleichzeitig mit Produzent und Kunde der Leistung ist, müssen Leistungsprozess und Nachfragezeit gleich stattfinden. Man nennt dies bisweilen auch Uno-actu-Prinzip. Eine Lagerfähigkeit ist damit nicht gegeben, woraus unmittelbar erkennbar wird, dass es zahlreiche besondere Management-Herausforderungen gibt. Ausnahmen dazu sind möglich, z.B. Laboruntersuchungen, betreffen aber in der Regel nicht die eigentlichen Kernprozesse. Allerdings sollte die Mehrstufigkeit des Produktionsprozesses beachtet werden. Wie bei vielen anderen Dienstleistungen auch, bestehen die Leistungen im Krankenhaus aus einer Vorproduktion, die ohne den externen Faktor abläuft (z.B. Vorbereitung eines OP-Saals) und der eigentlichen Leistungsproduktion (Durchführung der Operation).
Das zweite Phänomen, das zur Dimension der Integrativität gezählt werden kann, ist die Abhängigkeit der Leistungserstellung von der Konstitution, den Eigenschaften und dem Verhaltendes externen Faktors. Einerseits bestimmt der Gesundheitszustand des Patientenvor der Leistungserstellung zusammen mit anderen Einflussfaktoren den Leistungsprozess unmittelbar. Zum anderen hängt das Ergebnis auch vom Verhaltendes Kunden ab. Gerade bei medizinischen Prozessen ist das Phänomen der Compliance bzw. Adhärenz bekannt. Dieses bringt zum Ausdruck, dass die Leistungserstellung ohne Aktivierung und Motivation des Patienten wirkungslossein kann. Gerade im Krankenhaus sind daher der Prozesscharakter und die Personenbezogenheit von besonderer Bedeutung.
Eine direkte Folge aus der Integration des externen Faktors sind gravierende Messprobleme im Qualitätsmanagement. Eine objektive Messung von Dienstleistungsqualität bereitet enorme Schwierigkeiten, weil das Leistungsergebnis von den Eigenschaften und der Mitwirkung des externen Faktors abhängt. Im Krankenhaus tritt zusätzlich das Phänomen auf, dass Qualitätsmängel in vielen Fällen nicht einfach revidiert werden können. Weitere mögliche Besonderheiten der Leistungserstellung bei dieser besonderen Form von Dienstleistungen können die Standortgebundenheit und eine ggf. auftretende Adjunktivität sein. Letzteres bezeichnet die Gebundenheit der Leistungserstellung an eine bestimmte ausführende Person (z.B. einen besonders spezialisierten Operateur).
Als zweite der drei oben genannten Dimensionen ist die Individualität zu nennen, die eine gewisse Nähe zur Integrativität aufweist, aber dennoch separat betrachtet werden soll. Individualität bezieht sich auf den Grad der Anpassung einer Leistung an den Kunden. Krankenhausleistungen sind als bilateral personenbezogene Leistungengrundsätzlich vergleichsweise individuell und damit nur schwer standardisierbar. Die Varianz von Behandlungsprozessen und -ergebnissen ist hoch und gerade von Medizinern wird immer wieder darauf hingewiesen, dass jeder Patient anders ist, der Bedarf nach Customization also überdurchschnittlich hoch ist.
Die dritte und letzte Dimension ist die Unsicherheit, hier in der Form von Verhaltens- und Bewertungsunsicherheit. Die zuvor erläuterte Primärleistung ist intangibel und immateriell. Das Leistungsergebnis ist weder vor Vertragsabschluss vorzeigbar, noch im Anschluss an die Leistungserbringungin letzter Konsequenz objektiv überprüfbar. Der Leistungsanbieter kann nicht mehr als ein Leistungsversprechen anbieten. Nur bei wiederholter Leistungsinanspruchnahme kann der Kunde auf eigene persönliche Erfahrungen zurückgreifen. Ansonsten ist er auf externe Informationen angewiesen, wenn er Leistungen beurteilen will. Gesundheitsleistungen sind damit typische Vertrauensgüter, deren Inanspruchnahme für den Kunden mit hohen Verhaltens- und Bewertungsunsicherheiten verbunden ist.
Allgemein kann zwischen Suchgütern, Erfahrungsgütern und Vertrauensgütern unterschieden werden. Bei Suchgütern können bereits vordem Kauf vom Konsumenten alle Eigenschaften beurteilt werden (z.B.elektronische Unterhaltungs-geräte). Erfahrungsgüter lassen sich erst dann beurteilen, wenn die Konsumerfahrung schon vorliegt (z.B. Pizza essen). Die Besonderheit bei Vertrauensgütern liegt darin, dass selbst nach der persönlichen Erfahrungmit der bereits erbrachten Leistung der Kunde sich kein abschließendes Bewertungsurteil erlauben kann, weil erhebliche Informationsasymmetrien bestehen. So kann kein Patient abschließend und qualifiziert beurteilen, obeine Hüft-OP erfolgreich war oder ob die gleiche Behandlung in einem anderen Krankenhaus besser gewesen wäre.
Wie in der Abbildung 6 dargestellt, sind Krankenhausleistungen im Vergleich mit anderen Dienstleistungen eindeutig indem Sektor anzusiedeln, in dem die drei Ausprägungen Integrativität, Individualität und Unsicherheit hoch bis sehr hoch sind. Diese Darstellung bietet gewisse Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Dienstleistungsbranchen. Am ehesten sind Krankenhausleistungen mit hoch individualisierten Bankdienstleistungen wie Vermögensberatung oder ähnlichen persönlichen Beratungsleistungen zu vergleichen. Aus dieser Parallelität lassen sich zumindest in Bezug auf die Kommunikationspolitik interessante Schlussfolgerungen ziehen. Genau wie in der Werbung für Banken sollten auch Gesundheitsdienstleister auf Attribute wie Vertrauen, Kompetenz oder Fürsorgeabstellen, um auf diese Weise die Unsicherheit der Kunden zu reduzieren.
Aus der Integrativität resultiert, dass Kapazitätssteuerung und -vorhaltung zentrale Managementaufgaben in Dienstleistungsunternehmen wie Krankenhäusern sind. Durch die Nichtlagerfähigkeit, die großen Nachfrageunsicherheiten und die oftmals auftretende Dringlichkeit des Bedarfs gehören Kapazitätsentscheidungen zu den wichtigsten Themen in Krankenhäusern. Eine Verringerung des Integrationsgrades ist nur in wenigen Ausnahmefällen eine durchsetzbare Strategie, z.B. wenn es durch mobile Informations- und Kommunikationstechnologien zu einer räumlichen und ggf. auch zeitlichen Entkopplung kommt oder minimalinvasive OP-Techniken traditionelle Verfahren ersetzen. Dies wird sich aber insgesamt betrachtet bei vielen Krankenhausleistungen nicht vollständig durchsetzen können. Zudem erlangt durch die Integrativität die Prozessebene im Rahmen der Leistungserstellung eine herausragende Bedeutung. Die Patientenkontaktpunkte müssen ablauforganisatorisch beherrscht werden.
Mehr Spielraum als bei der Integrativität scheint sich den Krankenhäusern bei der Individualität zu bieten. Nicht zuletzt auch aufgrund der ökonomischen Chancen, die sich durch Standardisierungen bieten, unternehmen viele Akteure seit geraumer Zeit intensive Anstrengungen in dieser Richtung. Dahinter steht der Grundgedanke, dass die Verringerung der Varianz bei Prozessen und Ergebnissen nicht nur zu sinkenden Kosten, sondern auch zu besserer Qualität führt. Zwar wird es in dieser Richtung aufgrund der Individualität der Patienten und ihrer Erkrankungen immer Grenzen geben, das vorhandene Potenzial erscheint derzeit aber noch nicht vollständig ausgeschöpft.
Die wohl vielfältigsten Managementimplikationen ergeben sich aus der Dimension der Unsicherheit. Gerade im Medizinbetrieb bestehen erhebliche Informationsasymmetrien zwischen dem Arzt als Leistungserbringer und dem Patienten als Kunden. Eine vorvertragliche Festlegung des Leistungsniveaus erscheint ausgeschlossen. Verlässliche Qualitätsindikatoren sind im strengen Sinne nicht verfügbar, und die Integrativität verstärkt die Verhaltens- und Bewertungsunsicherheit des Patienten zusätzlich. Während früher diese Ausgangssituation ökonomisch in Form angebotsinduzierter Nachfrage ausgenutzt wurde, müssen Krankenhäuser sich heute proaktiv mit den Informationsbedürfnissen der Kunden auseinandersetzen.
Abschließend sei noch einmal auf die wesentlichen Besonderheiten von Krankenhausleistungen hingewiesen, dass – von Ausnahmen abgesehen – keine bewusste Konsumentscheidung vorliegt und die Notwendigkeit einer Leistung vom Kunden als zumeist sehr unangenehm empfunden wird. Auch dieser Unterschied zu vielen anderen Gütern und Dienstleistungen hat maßgebliche Auswirkung auf die Möglichkeiten und Grenzen der Leistungssteuerung und Unternehmensplanung. Zudem darf auch nicht verkannt werden, dass medizinische Leistungen oftmals unter hoher Unsicherheit zu erbringen sind. Trotz gewaltiger technischer Fortschritte ist das medizinische Wissen heute weit davon entfernt, für alle Indikationen perfekte Handlungsmöglichkeiten zu offerieren.
Es können drei unterschiedliche Konstellationen von Wissensdefizieten in der Medizin unterschieden werden:
- Für ein konkretes Patientenproblem gibt es noch kein gesichertes medizinisches Wissen (Evidenzbasierte Medizin).
- Es liegt zwar gesichertes medizinisches Wissen vor, der individuell handelnde Arzt kennt dieses aber nicht. Solche Situationen sind bei der stark ansteigenden Spezialisierung der Fachdisziplinen und dem schnellen medizinischen Fortschritt nie komplett vermeidbar. Ihnen sollte aber durch geeignete Informationstechnologie entgegengewirkt werden.
- Es liegt gesichertes medizinisches Wissen vor und der behandelnde Mediziner verfügt auch darüber, dennoch wird es nicht korrekt angewendet, weil bei der Behandlung Fehler unterlaufen.
Aus diesen drei Konstellationen ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Wissensmanagement ein essenzieller Bestandteil von Krankenhaus-Management werden muss. Insbesondere bei der Organisation von Abläufen und beim Ausbau der Informationstechnologie ist dies zwingend zu berücksichtigen.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Betriebswirtschaft und Management im Krankenhaus", herausgegeben von Prof. Dr. Jörg Schlüchtermann. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.