Vom Arzt zum Patienten
EXKURS: Arzt und selbst schwer krank – ein Erfahrungsbericht
Thomas Bein
Mein persönlicher Perspektivwechsel vom Arzt zum Patienten ist Gegenstand dieses Beitrages. Als „Arzt-Patient“ gleichzeitig über Jahre hindurch das Getriebe der Spitzenmedizin vom Ende her zu erleben, war eine große Irritation für mich. Meine Erfahrungen, Beobachtungen und Reflexionen, die ich während der nunmehr achtjährigen Behandlungsphase gemacht habe, haben grundsätzlich mein Rollenverständnis als Arzt beeinflusst und ein kritisches Nachdenken in Gang gesetzt. Eigentlich sind wir Ärzte ja gesunde Helfer, die Patienten kranke Hilfsbedürftige. Wir tragen den weißen Kittel, sie das Flügelhemd. Was passiert, wenn Ärzte schwer erkranken? Solche Erfahrungen ermöglichen einen nachhaltigen Blick auf die moderne Medizin.
Diagnose, Verdrängung, Absturz
Meine Karriere an der Universitätsklinik, ausgefüllt mit klinischer Arbeit, wissenschaftlichen Meriten, Vorlesungen und Seminaren, lief bestens. Ich leistete Bedeutsames, das kann wie eine Droge wirken: im Brennpunkt der Hightech-Medizin auf einer großen Intensivstation. In einer Leitungsfunktion für viele Ärzte und Pflegende sind Durchhalte- und Organisationsvermögen gefragt. Die verspürte Wichtigkeit, genährt von dem besonderen Gefühl, gebraucht zu werden. Ich gehe wie üblich zum Jahrescheck durch die Betriebsärztin – Blutabnahme, Blutdruckmessung, allgemeiner Check. Wenige Tage später kommt eine Überraschung: abnorm niedrige Leukozyten in kaum messbarer Zahl. Kurzes Erstarren, dann ein Ruck: Jetzt geht alles Schlag auf Schlag: Computertomogramm, Knochenmarkbiopsie, Labor, Ultraschall von Bauch und Herz – alle Befunde sind beieinander.
Ich sitze vor dem Zimmer des Klinik-Chefs: Der Moment der Wahrheit, wie oft habe ich ihn von der anderen Seite her als „Überbringer“ erlebt, jetzt bin ich der „Empfänger“. Angst, schwitzige Hände und Herzklopfen sind kein Merkmal eines souveränen Arztes, der fast alles (Lebens‑)Bedrohliche schon gesehen hat. Mit dem Patient-Sein ist die souveräne Haltung wie weggeblasen; klein und hilflos komme ich mir vor. Der Chefarzt beginnt, die Befunde vorzutragen, als ob er einem Kollegen im Rahmen eines Fachkonsils oder einer gemeinsamen Visite einen komplizierten Patienten vorstellt. Ich befinde mich plötzlich in einer merkwürdigen Doppelrolle. Ich bin sozusagen in dieser Gesprächsrunde zu einem Fachkollegen geworden, mit dem man sich austauscht, der aber gleichzeitig das Objekt dieses Austausches ist. Ich nehme diese Rolle an und diskutiere wie von mir selbst distanziert die Befunde. Offensichtlich hilft dieses Rollenspiel allen Anwesenden, diese ungewöhnliche Situation zu meistern.
Jetzt kommt die entscheidende Situation auf uns zu: der Erkrankung einen Namen geben und die Prognose darlegen. Die Nennung des Namens (Plasmozytom, also Knochenmarkkrebs) gelingt noch relativ leicht, bei den Aussichten wird es schwieriger. Zunächst werden die großen Erfolge der letzten Jahre in der Entwicklung neuer wirksamer Krebsmedikamente vorgetragen, insbesondere bei meinem Plasmozytom (mit der Namensgebung beginnt die Krankheit bereits, ein Teil von mir zu werden). Es sei mit weiteren Entwicklungen zu rechnen. Therapeutischer Optimismus zieht auf. Eine reduzierte Lebenserwartung, gar ein möglicher Tod: Solche Bedrohlichkeiten werden zunächst ausgespart. Am Ende dieses Gesprächs ist es erst einmal mit meiner Souveränität und Kraft dahin, Machtlosigkeit, Schwäche und Angst kriechen in mir hoch, leiblich spürbar durch Schwindel. Eine Wut mischt sich dazu, eine unklare Wut auf das Schicksal. Ich wünsche mir übermächtig eine Umarmung (ja, auch durch meine Ärzte!), ein menschliches, vielleicht nonverbales Signal des „Für-mich-da-Seins“, einen kurzen Moment des Innehaltens, einen behutsamen Wortwechsel über das, was bisher aus Angst oder aus Selbstschutz nicht gesagt werden konnte.
Chemotherapie, Punktionen, Schmerzen und Nachdenken über Empathie
Es folgt die Behandlung mit etwa 30 ambulanten Chemotherapien in der onkologischen Tagesklinik. Ich gewöhne mir an, zu beobachten und zu notieren – Begegnungen mit Pflegenden, Beobachtungen von Patienten, Gespräche mit Ärzten, das Wahrnehmender Atmosphäre beim Warten oder später auf der Knochenmark-Transplantationsstation. Im großen Behandlungsraum der Tagesklinik ein anrührendes Bild: Etwa zehn Patienten sind auf komfortable, voluminöse dreigliedrige Stühle gelagert. Graue Gesichter, halb geöffnete Hemden oder Trainingsjacken. Plastikschläuche und Kanülen verschwinden in Armen oder am Hals. Onkologie-Pflegende eilen hin und her. Sie sind hoch konzentriert, versuchen aber immer wieder, ein Wort an ihre Patienten zu richten, zwischendurch hier und da ein kurzes Arztgespräch. Es herrscht eine sehr sachliche Atmosphäre, aber die emotionale Spannung von Hoffnung, Verzweiflung und Unsicherheit ist überall spürbar.
Ich sehne mich nach einer Berührung, einem persönlichen Wort, aber andererseits möchte ich mich auch in mir selbst verkriechen. Ich beginne über den Begriff der Empathie nachzudenken. Empathie lässt sich definieren als die Fähigkeit, die Gefühle eines anderen Menschen zu verstehen und auf der Basis dieses Verständnisses angemessen zu handeln. Empathie gilt als wichtige Haltung, eingefordert von allen, die mit kranken und Heilung suchenden Menschen beschäftigt sind.
Aber ich bin ins Grübeln gekommen: Wie viel Empathie tut dem Patienten wirklich gut? Es gibt sicher eine falsch verstandene Empathie –eine gut gemeinte, aber Phrasen-beladene Ansprache, ein wortreiches Übergehender stummen Patientin und bohrende Befragungen zu ihrem Zustand. Aber es gibt auch ein „Zuviel“ an Empathie: Eine überbordende Hingabe, ein „Verschmelzen“ mit dem Anderen mit der Gefahr der Selbstaufgabe der behandelnden Ärztin, diese kann eine gute und besonnene Behandlung beeinträchtigen. Es gibt auch ein „Zu wenig“ an Empathie, eine bewusst aufrechterhaltene Sachlichkeit, die einem ungeschriebenen Gesetz folgt, dass Ärzte und Pflegende zum „Selbstschutz“ dem Leidenden gegenüber keine (oder nur minimale) Gefühle zeigen sollen.
Ich denke, „richtige“ Empathie ist lernbar. Ob in Situationen, in denen Wut, Angst oder depressives Verstummen seitens des Patienten aufkommt, ob es die eigene, häufig unbemerkte Neigung, über Patienten, Kollegen oder nicht anwesende Dritte zu lästern, oder die Selbstreflexion über eigene Aggressionen betrifft: Es gibt heutzutage gute Konzepte, um einen sicher-empathischen Umgang hiermit zu erlernen. Sucht man allerdings in den Lehrplänen für Pflegende oder angehende Mediziner danach: weitgehend Fehlanzeige! Es wurde jedoch in mehreren Studien darauf hingewiesen, dass ein Empathie- und Achtsamkeitstraining zu unmittelbaren Änderungen der Haltung und einer Zunahme der Resilienz bei Ärzten und Pflegenden führt.
Der gute Arzt, wie ich ihn mir als Patient wünsche, sollte folgende Eigenschaften und Haltungen aufweisen: die Haltung oder Kompetenz der Achtsamkeit, des genauen Hinhörens, der Objektivität, der Selbststärke, und dies alles natürlich auf dem Boden von Fachkunde und Geschicklichkeit. Weniger förderlich zu sein scheint mir eine falsch verstandene Empathie im Sinne von Mitleid oder Identifikation mit dem anderen, mit dem Patienten, Altruismus oder Selbstaufgabe, häufig resultierend im Burnout.
Stammzelltransplantation im Hochsicherheitstrakt, Nachdenken über den Tod
Es ist so weit: Aufnahme auf die Knochenmark-Transplantationsstation. Für die nächsten vier Wochen mein Zuhause. Ausschließlich Menschen in Schutzkleidung und mit Gesichtsmasken sind um mich herum. In Corona-Zeiten ein vertrautes Bild, während meiner Behandlung noch eine neue Wahrnehmung. Ich werde in die strenge Hausordnung eingewiesen, wie im Schulheim: Hygienevorschriften, Essensordnung, Besuchsregelung.
Auf den Fluren gehen vermummte Patienten auf und ab. Die meisten haben ihr Haar verloren, viele sind jung. Von Mundschutz zu Mundschutzentstehen Begrüßungsgespräche, in dieser verschworenen Schicksalsgemeinschaft duzt man sich natürlich. Ich erfahre von den jungen Männern Schicksale, die mich sehr betroffen machen. 30 Jahre alt, guter Job in einer Heizungsbaufirma, verheiratet, zwei kleine Kinder, Haus gebaut auf dem Land. Die meisten jungen Insassen– überwiegend Männer – sind an Leukämie erkrankt. Viele haben eine allogene Stammzelltransplantation hinter sich. Sie sind gezeichnet und schlurfen sichtlich geschwächt über die Flure. Das Ritual des gemächlichen Auf- und Abgehens erinnert an mittelalterliche Kreuzgänge, und einige Szenen aus dem Namen der Rose kommen mir in den Sinn. Die Hochdosis-Chemotherapie wird an zwei Tagen in geteilter Dosis infundiert.
Der erste Eindruck („Ist ja alles gar nicht so schlimm“) wird von einem körperlichen Absturz in der Nacht abgelöst. Von dieser Zeit bleibt mir eine diffuse Erinnerung an Benommenheit, Ganzkörperschmerzen, ein stündliches Hinschleppen zur Darmentleerung mit anschließender ohnmachtartiger Flucht zurück ins Bett. Der körperliche Lockdown ist umfassend, es bleibt keine Energie mehr übrig, sich zu spüren oder gar verzweifelt zu sein. Die Schwestern schauen oft herein, Ärzte blicken unter der Gesichtsmaske mutmaßlich sorgenvoll. Tag und Nacht gleichen sich an und verschwimmen. Ab dem fünften Tag stellt sich eine umfassende Übelkeit ein. Der Anblick des von Stationsassistentinnen hereingebrachten und mit einem fröhlichen „Guten Appetit“ abgestellten Klinikessens ruft innere Verweigerung hervor.
Für ca. vier Wochen ist nicht viel zu machen, nur sehr ausgewählte, kalte Mahlzeiten, mancher Joghurt, kann mit äußerster Willensanstrengung hinuntergewürgt werden. Erst nach einem halben Jahr, schon längst wieder zu Hause, konnte ich wieder herzhaft in eine Bratwurstsemmel hineinbeißen. Die ersten Haare im Waschlappen kündigenden Haarausfall an, nach drei Tagen bin ich komplett kahl. Die haarlose Zeit beginnt, sie dauert bei den meisten Leidensgenossen bis zu einem Jahr. Sie macht die Erkrankung für jedermann sichtbar, ein deutliches Stigma. Viele Patienten versuchen mit Perücken, Mützen oder kreativ gewickelten Tüchern die Kahlheit zu verbergen.
Die Endlichkeit, der Tod, die Verdrängung
Ich habe überlebt und freue mich täglich mit tiefer Dankbarkeit darüber. Auf der anderen Seite ist mir der Tod am Höhepunkt der Krise ganz schön nah auf die Pelle gerückt. Ich habe in meiner Berufszeit so manchen Patienten beim Sterben begleitet, zumeist gemeinsam mit den Angehörigen. Geübt zu sein in der Sterbebegleitung anderer heißt noch nicht, auch eingeübt zu sein in die Vorstellung des eigenen, unausweichlichen Todes. Obwohl bei der Entstehung des Lebens a priori inbegriffen, gilt der Tod eines Menschen stets als eine Art Skandal, und der eigene Tod ist eigentlich unvorstellbar. Im Grunde gilt:
„Der Tod, jeder weiß das, ist etwas, das nur dem anderen widerfährt.“ (Jankelevich 2017)
Die Verdrängung des Todes in modernen Gesellschaften schlägt sich unter anderem darin nieder, dass der überwiegende Teil der Menschen heutzutage sein Lebensende im Krankenhaus, in Heimen oder auf Palliativstationen erlebt (beziehungsweise erleben muss). In unserer Gesellschaft mit den Idealen von Jugendlichkeit, Fortschritt, Gesundheit und Leistung ist für Sterben und Tod nicht mehr viel Platz geblieben, und die neue Form des Corona-Todes zeigt noch mal eindringlich, in welch ambivalenter Weise unsere Gesellschaft zwischen Akzeptanz und Verdrängung der Endlichkeit oszilliert. Der Mensch, den das Unheil getroffen hat, nimmt den Tod jetzt ernst. Dieses Ernst nehmendes Todes bedeutet den Übergang von einem abstrakten und begrifflichen Wissen zu einem konkret-realistischen Ereignis.
„Anstatt den Tod von dieser Seite des Lebens wie ein Schreckgespenst anzustarren, könnten wir den Tod in unsere Sichteinbeziehen und das Leben von der anderen Seite, nämlich von unserem Tod aus betrachten“, schreibt der Schriftsteller, Dichter und Kalligraf François Cheng (Cheng 2015). Ein solcher Wechsel des Blickwinkels heißt, „das Leben als ein Geschenk von unschätzbarer Großzügigkeit zu empfangen“ und nicht als „kümmerliches Sparguthaben“, dessen Pfennige man Tag um Tag geizig zusammenzuhalten sucht.
Den Blickwinkel vom Ende her einzurichten, dieser Übung habe ich mich wiederholt und tapfer unterworfen, mit zunächst mäßigem und dann wechselhaftem Erfolg. So ist ein gelegentliches Memento mori eine gute gedankliche Einübung der eigenen Begrenztheit, sofern wohldosiert und ohne in eine Todessehnsucht umzukippen. Die moderne Spitzenmedizin hingegen hat den – eigentlich unausgesprochenen – Anspruch, dem Tod auch in aussichtslosen Situationen die Stirn zu bieten, der Tod ist ein Gegner, den man bekämpfen muss. Kampf und Verdrängung, mit diesem Konzept wird die Medizin nicht human und zugewandt zum Patienten. Ein Zulassen – wenn alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind – und ein behutsames Ansprechen sind viel wertvoller und nachhaltiger.
Nach der stationären Behandlungsphase habe ich etwa ein Jahr gebraucht, um halbwegs wieder der Alte zu werden. Die akute Erkrankung ist in eine chronische umgewandelt mit onkologischer Dauerkontrolle und natürlich ständiger Rezidiv-Gefahr.
Vom Arzt zum Patienten – ein Perspektivwechsel mit Folgen
Was ist mir von dieser Zeit geblieben? Nach einer langen Zeit als Arzt im dichten Getriebe der Hochleistungsmedizin hatte es mich erwischt, und ich wurde zu einem Rollentausch gezwungen. Mit dem Überwinden einer ersten tiefen Erschütterung habe ich mich in das Beobachten eingeübt und wollte tiefer verstehen, wie es Kranken und Hilfesuchenden geht, die in eine akute bedrohliche Krise mit hoher Verunsicherung geraten sind (Bein 2021). Unsere Hochleistungsmedizin ist derzeit in einem Umbruch, denn die traditionelle Heilkunde muss mehr und mehr einem industriell anmutenden Betrieb weichen. In einer rasenden wissenschaftlichen und durchkommerzialisierten Entwicklung werden die Akteure und Patienten in einem so hohen Maße gefordert, dass beide sich in einem immer komplexer werdenden System, quasi in einer Rotation befinden, bei der man sich gegen die Fliehkraft wehren muss, um nicht hinausgeschleudert zu werden.
Chronisch überforderte Ärzte, die mit Müdigkeit, Burnout-Problematik oder familiären Dissonanzen kämpfen, sind längst keine Seltenheit mehr. Viele meiner Kollegen betrachten das Eingeständnis, dass ein Patient am Ende des Lebens angekommen ist, immer noch als persönliche Niederlage. In unserer Medizin, die so viel kann und die durch technische Geräte oder Transplantation ganze Organe ersetzt, ist die Balance zwischen der Erkenntnis, dass berechtigte Hoffnung und Perspektive auf eine Heilung besteht, und der Einsicht, dass eine weitere invasive Behandlung, sei es Beatmung oder Nierenwäsche, unangemessen ist und ein würdiges Sterben verhindert, wichtiger denn je. Diese feine Balance zu finden und den Verführungen der technischen Allmacht und der multipotenten Todesverdrängung nicht zu erliegen, ist aus meiner Sicht heutzutage, mehr denn je, das Gütesiegel eines guten Arztes.
Eine wesentliche Aufgabe bleibt: nämlich, bei der Ausbildung der Medizinstudierenden frühzeitig Sensibilität für diese Balance zu schaffen und junge zukünftige Ärztinnen und Ärzte für die richtige Dosis Empathie, für eine gute Wortwahl im Gespräch und eine vertrauensbildende Körpersprache zu sensibilisieren. Außerdem wünsche mir, dass das ungeheure Wissen und die technische Perfektion der Spitzenmedizin immer in Einklang mit einer zutiefst gelebten Humanität und dem Verständnis für den Kranken verbunden bleiben. Und dass die moderne Medizin auch akzeptieren kann, dass sie trotz des Fortschritts immer wieder dem Tod Platz machen muss.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Toolbook Ärztin:Arzt - Alles, was du unbedingt noch wissen solltest, im Studium aber kaum erwähnt wurde", herausgegeben von Dr. med. Jana Luisa Aulenkamp und Dr. med. Thomas Hopfe. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.