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Ambulante Pflege in China

CHRISTEL BIENSTEIN UND OTTO INHESTER

Einleitung

Vom 01.04.2013 bis 31.12.2015 begleiteten und evaluierten die Autoren ein Projekt zum Bildungstransfer „Aufbau von Altenpflegestrukturen in der Provinz Jiangsu“ (Förderkennzeichen: 01BEX08B12 Bundesministerium Für Bildung und Forschung, siehe hierzu auch Abschlussbericht TRAPAS:www.uni-wh.de/gesundheit/pflegewissenschaft/department-pflegewissenschaft/forschung/trapas/). Im Rahmen dieses Projektes konnten eine Reihe von Erfahrungen gesammelt werden, die nachfolgend beschrieben werden. Insgesamt sprechen keine Gründe dagegen, pflegefachliche Erfahrungen aus Deutschland und insbesondere Erfahrungen aus den Bereichen ambulante und häusliche Pflege in China bekannt zu machen. Denn wie Deutschland steht auch die Volksrepublik China vor der großen Herausforderung, die mit den demografischen und soziokulturellen Entwicklungen verbundenen Probleme, der sozialen Sicherung und der Bewältigung der Pflegebedürftigkeit nachhaltig zu lösen. Im Rahmen des Projektverlaufes wurde deutlich, dass Japan neben Deutschland (bzw. Westeuropa) als Orientierung für die Entwicklung der Pflege (zumindest im Privatsektor) dient und somit in einem Konkurrenzverhältnis um die besser für China geeigneten Konzepte steht.

Angesichts der Größe der Volksrepublik China und der besonderen politischen und soziokulturellen Struktur lässt sich nur schwer abschätzen, in welchem Umfang die nachfolgenden Aussagen allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. China ist ein Land mit einer enormen inneren Dynamik, das in einem für Ausstehende kaum erkennbaren Ausmaß Freiheiten und Vielfalt der Entwicklung zulässt, zum anderen aber auch rigorose Grenzen kennt. Es ist ein Land der Ungleichzeitigkeit in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht. Was in den großen Städten gilt, ist auf dem Land völlig anders zu betrachten, wobei man sich hüten muss, die ländlichen Regionen a priori für „rückständig“ zu erklären. Generell gilt, dass bei der Lösung pflegerischer Versorgungsprobleme immer lokale Besonderheiten berücksichtigt werden müssen. Insofern geben die folgenden Ausführungen Hinweise, worauf bei der Durchführung von Projekten zu achten ist, die an die Entwicklung in China anknüpfen wollen.

Insgesamt gesehen, herrschen in China keineswegs überall vergleichbare Lebensverhältnisse und es ist davon auszugehen, dass es größere Unterschiede in der Quantität und Qualität des ungedeckten Pflegebedarfs gibt. Sofern dieser Nachfrage nicht durch Formen stationärer Versorgung entsprochen wird und nicht in Händen von pflegebereiten Familienangehörigen liegt, herrscht in den Familien, die es sich leisten können, eine 1:1 Versorgung rund um die Uhr an 7 Tagen in der Woche. Dienstleister sind i.d.R. ungelernte, sogenannte „Wanderarbeiterinnen“,die aus ärmeren ländlichen Gebieten kommen. Die entsprechenden Beziehungen sind nicht selten durch Recht- und wechselseitige Respektlosigkeit, auf jeden Fall aber durch fehlende fachliche Qualifikation gekennzeichnet. Ambulante Versorgungsstrukturen nach westlichem Muster sind im Ansatz vorhanden, beziehen sich aber vorwiegend auf die medizinische Versorgung und haben selten eine aufsuchende Orientierung. Des Weiteren kann man davon ausgehen, dass es im Großen und Ganzen keine explizit von der Krankenpflege unterschiedene Altenpflege gibt.

Grundlegenden Prinzipien ambulanter (häuslicher) Pflege und Versorgung in Deutschland

Die konstitutiven Merkmale einer (idealtypischen) ambulanten pflegerischen Versorgung werden im Folgenden vor allem in Abgrenzung zu der oben bestehenden 1:1 Betreuung durch in den Haushalt integrierte Dienstboten beschrieben. Danach ergeben sich folgende Merkmale einer ambulanten Versorgung:

  • Die entsprechenden Dienstleistungen werden explizit angefragt und entsprechend ihrer Notwendigkeit bzw. Absprache mit dem Pflegbedürftigen (und seiner Familie) bedarfsgerecht erbracht.
  • Alle Leistungen werden i.d.R. dort erbracht, wo sich der Betroffene zum Zeitpunkt, an dem der Bedarf anfällt, aufhält. Dies muss nicht immer die eigene Wohnung sein (siehe Unterscheidung in ambulante und häusliche Pflege, über letztere wird nachfolgend schwerpunktmäßig berichtet). Die Hilfeleistung erfolgt aufsuchend und der Hilfeeinsatz ist vertraglich geregelt und auf bestimmte Inhalte, Zeitpunkte und -räume festgelegt.

Die Versorgung umfasst verschiedene Bereiche von Dienstleistungen, die sich zum Teil überschneiden und die in der Regel von jeweils entsprechend qualifizierten Mitarbeitern der Leistungsanbieter, gegebenenfalls unter Einbeziehung von Laien (Familienangehörigen, Ehrenamtlern) erbracht werden. Dabei werden unterschieden:

  • die vorwiegend medizinisch orientierte Krankenpflege, die der Sicherung oder Fortführung einer ärztlich-therapeutischen oder palliativen Versorgung dient;
  • eine Fachpflege, die unabhängig von medizinischen Diagnosen Menschen, die in ihrer Selbstpflegefähigkeit eingeschränkt sind, unterstützt, anleitet oder diesbezügliche Handlungen ganz übernimmt (Inhalt und Umfang dessen, was Selbstpflege umfasst, ist kulturell, sozial und individuell festgelegt, wobei die durch die Solidargemeinschaft refinanzierten Pflegeleistungen sozialversicherungsrechtlich begrenzt werden [Pflegebedürftigkeitsbegriff]);
  • hauswirtschaftliche Dienstleistungen, die Hilfe und Übernahme von Tätigkeiten umfassen, die mit dem Führen eines Haushaltesverbunden sind;
  • Betreuung und Beschäftigung umfassen Dienstleistungen, die der Strukturierung des Tagesablaufes und der Realisierung eines sinnvollen Lebens dienen und ergänzend soziale und kulturelle Teilhabe sichern sollen und
  • alle Angebote sind mit einer explizitenrehabilitativen/aktivierenden, die Restressourcen berücksichtigenden Ausgestaltung verbunden und müssen durch einen einheitlichen Pflegeplan inhaltlich und organisatorisch koordiniert und evaluiert werden.

In Deutschland findet vor allem eine Aufteilung der Kosten zwischen den Leistungsbereichen Krankenkasse und Pflegeversicherung statt. Bei letzterem werden die erbrachten Leistungen bis zu einer bestimmten Obergrenze von der Pflegeversicherung refinanziert. Darüber hinausgehende Kostenfallen in die Verantwortung der Pflegebedürftigen bzw. bei mangelnder Leistungsfähigkeit in die des jeweiligen Sozialhilfeträgers.

Ob in China eine explizite Unterscheidung zwischen Kranken- und Altenpflege vor dem Hintergrund der komplexen und vielgestaltigen Aufgabenstellung, den entsprechenden Qualifikationsanforderungen und dem zum Einsatz kommenden Personalmix sinnvoll ist, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Festzuhalten ist aber, dass die Versorgung alter Menschen ein eigenes Qualifikationsprofil erfordert, das aber seinerseits einen beträchtlichen Umfang allgemeines und grundlegendes pflegerisches und medizinischen Fachwissen beinhaltet.

Das Erbringen häuslicher pflegerischer Dienstleistungen setzt eine bestimmte Infrastruktur der Beratung und der Vermittlung von Angebot und Nachfrage voraus. Es ist wichtig, dass die Vermittlung und die initiale Beratung unabhängig von der Dienstleistungserbringung selbst erfolgt. Unabdingbar sind ebenfalls die fachliche Qualifikation und eine gute organisatorische Struktur der Anbieter. Hervorzuheben ist dabei die Verantwortung für die Pflegeplanung, die Koordination der verschiedenen Dienste und den Einsatz und die Führung der Mitarbeiter entsprechend ihrer Qualifikation (Personalmix).

Warum häusliche Versorgung auch für China eine Notwendigkeit darstellt

Die wirtschaftliche und die damit verbundene soziokulturelle Entwicklung erzeugt einen rasch wachsenden Bedarf an ambulanter Versorgung, der analog zu den Entwicklungen in den westlichen Ländern auf den gleichen Faktoren beruht: Veränderung der Altersstruktur, Zunahme chronischer Zivilisationserkrankungen und Veränderungen der Familienstruktur (Zwei-Generationen Familien mit zunehmender Berufstätigkeit der Frauen). Spezifisch für China sind die Folgen der Ein-Kind-Politik zu beachten, die außer mit einer geringen Geburtenrate mit einem Ungleichgewicht der Geburtenzahlen von Jungen und Mädchen (zu Ungunsten der Mädchen) verbunden sind und insgesamt die Reproduktionsfähigkeit der chinesischen Gesellschaft beeinträchtigen. Sowohl das Alter wie auch die Pflege in China werden in höherem Maß „männlich“ sein.

Trotz, oder besser wegen, des enormen wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es in China zahlreiche soziale, ökonomische und ökologische Probleme, deren Lösung ein Großteil der Ressourcen verbraucht und die der sozialen Absicherung der Pflege bzw. der Altenpflege daher nicht zur Verfügung stehen. Hervorzuheben ist hier das Problem der Wanderarbeiter und ihrer Familien(!), die aufwendig in bestehende Systeme der sozialen Sicherung (z.B. offizielle Anmeldung als Stadtbewohner um die Kinder einschulen zu können) aufgenommen werden müssen. Dieses Problem bindet nicht nur viele Ressourcen, die sonst möglicherweise dem Pflegesektor zur Verfügung stünden, sondern es ist zugleich selbst ein Teilproblem der Versorgung. Die in den Metropolen lebenden Wanderarbeiter fehlen auf dem Land zur Aufrechterhaltung einer auf dem Generationenvertrag beruhenden Sicherung familiärer Pflegearrangements und belasten im Falle von Alter und Pflegebedürftigkeit auch das sich entwickelnde soziale Netz Chinas. Die in dem Bildungsprojekt favorisierte Idee, aus den Kreisen ungelernter Wanderarbeiter/‑innen Mitarbeiter für den differenzierten Einsatz in ambulanten Betrieben zu gewinnenund anzuleiten, scheitert neben der fehlenden Infrastruktur (es gibt keine ambulanten Pflegebetriebe) auch an dem Analphabetentum der Zielgruppe.

Trotz der von der Regierung anerkannten Notwendigkeit häuslicher Versorgung ergeben sich daher zahlreiche Zielkonflikte im Fünfjahresplan, der im Bereich der Pflege durch den weiteren Ausbau privater Versorgungsstrukturen gemildert werden soll. Bislang fand dieser aber vorwiegend im stationären Bereich statt, insbesondere im Zusammenhang mit der Immobilienwirtschaft. Durch die damit verbundene Profitorientierung ist die einkommensschwache Masse von dieser Art der pflegerischen Versorgung weitesgehend ausgeschlossen. Die Notwendigkeit zum Aufbau ambulanter Versorgungsstrukturen und der häuslichen Pflege ergeben sich aus dem Ziel, breitere Massen von Pflegebedürftigen mit bezahlbaren (staatlichrefinanzierbaren) Leistungen zu versorgen. Die diesbezüglichen ökonomischen Vorteile ambulanter häuslicher Versorgung ergeben sich kulturunabhängig und unabhängig von der konkreten Ausgestaltung eines Sozialsystems aus folgenden Effekten:

  • Durch häusliche Pflege kann der auch in der chinesischen Gesellschaft ausgeprägte Wunsch, möglichst lange in der eigenen Häuslichkeit zu verbleiben, realisiert werden. Im Unterschied zu in den im Haushalt fest integrierten „Dienstboten“ reduziert sich hier außer der Kosten auch die Gefahr der gegenseitigen Abhängigkeit, was es beiden Seiten erleichtert, ihre Menschenwürde zu behalten.
  • Ein besonders wichtiger Effekt ist darin zu sehen, dass oft kleine Hilfen ausreichen, um eine Pflegesituation so zu stabilisieren (z.B. einkaufen und ärztliche Behandlungen aufsuchen), dass der Verbleib in der Häuslichkeit aufrechterhalten werden kann. Diese Situation finden wir z.B. vor, wenn pflegende Angehörige punktuell aus fachlichen und/oder organisatorischen Gründen (Berufstätigkeit) die Versorgung nicht sicherstellen können.
  • Häusliche Pflege mit einer aufsuchenden Struktur und punktueller, bedarfsgerechter Leistungserbringung stellt einen Rahmen dar, in dem weder eine Überversorgung stattfindet, sofern die vorhandenen Restressourcen des Pflegebedürftigen einbezogen werden, noch findet eine schädliche, in der Folge zusätzliche Kosten generierende Unterversorgung statt, sofern vorhandene und wechselnde Bedarfe durch entsprechend qualifizierte Pflegefachpersonen sach- und zeitgerecht erbracht werden.

Ein in China zumindest von den politischen Eliten betontes Element der häuslichen Pflege ist die Einbeziehung nachbarschaftlicher Hilfen. Eigene Beobachtungen lassen Skepsis aufkommen, da zumindest in den Städten die Wohnung einen abgeschlossenen intimen Bereich darstellt, in den man nicht gern Fremden Einblick gewähren will.

Synopse der aktuellen politischen, strukturellenund soziokulturellen Bedingungen für den Aufbau ambulanter Strukturen

Wie oben angedeutet, ist ein akuter und wachsender Bedarf an pflegerischen Leistungen von der Staatsführung anerkannt und es gibt den politischen Willen, diese auszubauen. Es ist aber davon auszugehen, dass aufgrund bestehender Zielkonflikte sich der Ausbau sozialer Sicherungssysteme für Pflege und Versorgung im Alter nicht im gewünschten Maße und Tempo entwickeln wird. Zudem hegt der Staat ein gewisses Misstrauen gegenüber privaten Leistungserbringern, deren Geschäftstüchtigkeit als mit den Zielen des Sozialsystems schwer vereinbar angesehen wird. Diese Haltung findet nach unseren Beobachtungen insofern Bestätigung, als sich vorwiegend Manager aus der Immobilienwirtschaft im privaten Pflege(heim) Sektor engagieren. Auchausländische Konzerne investieren mit entsprechenden Renditeerwartungen und -zielen vorwiegend im stationären Sektor, bei denen das Wohnen im Vordergrund steht. Betreuung und Versorgung hingegen werden oft nur vermittelt bzw. müssen durch den Mieter/Eigentümer selbst organisiert werden. Hinzu kommt das in China medizinische Leistungen bislang nur im Bereich einer medizinischen Einrichtungen erbracht werden dürfen und für eine pflegerische Tätigkeit die körpernah invasiv in einer Privatwohnung erfolgt, weitgehend Rechtssicherheit fehlt.

Gleichwohl sich der privatwirtschaftliche Bereich im Pflegesektor frei entfalten kann und alle Arbeitgeber, mit denen wir im Projekt Kontakt hatten, betonten, dass es einen sehr hohen Bedarf an ausgebildeten Fachkräften gibt, war es nicht möglich, innerhalb der organisierten privaten Leistungserbringer eine Kooperation für gemeinsame Ausbildungsanstrengungen zu organisieren, da die Betriebe befürchten, dass ausgebildete Mitarbeiter direkt von der Konkurrenz abgeworben würden und so Bildungsinvestitionen (aus betriebswirtschaftlicher Sicht) verloren gingen.

Ein wesentliches strukturelles Hindernis für den Ausbau ambulanter pflegerischer Versorgung ist fehlendes Fachpersonal. Die (akademische) Krankenpflege orientiert sich vorwiegend am amerikanischen Modell und ist sehr stark klinisch-medizinisch orientiert und arbeitet fast ausschließlich in Krankenhäusern. Neben der fehlenden Orientierung an allgemeiner (Grund‑)Pflege bzw. Altenpflege fehlt vor allem auch Managementwissen über das Führen eines ambulanten Betriebs. Auch der für einen tragfähigen Personalmix nötige Unterbau an angelernten und mit einem Dienstleistungsethos ausgebildeten Hilfskräften fehlt. Gleichwohl fehlt es nicht an Menschen, wie z.B. Wanderarbeiter/‑innen. Hinzuweisen ist auf die Dominanz des männlichen Geschlechts als Folge der Ein-Kind-Politik, was dazu führen wird, das die Pflege in China „männlicher“ als z.B. in Deutschland sein wird. Als eine interessante Zielgruppe möglicher Akteure für den Aufbau ambulanter Strukturen haben sich in dem Bildungsprojekt relativ rüstige pensionierte weibliche Kader erwiesen (das Renteneintrittsalter lag nach Auskunft der Teilnehmerinnen bei 55 Jahren), die aufgrund ihrer hohen Qualifikation, ihrer persönlichen Erfahrungen mit der Pflege der eigenen Eltern entsprechende intellektuelle und motivationale Voraussetzungen mitbringen.

Durch die lange Tradition, nach der alte Menschen durch Familienangehörige versorgt werden, ist die Akzeptanz von Leistungen der ambulanten und stationären Pflege ein weiteres Problem. Durch die politischen Wirren der Kulturrevolution in den 60er- und 70er-Jahren gibt es ein generelles Misstrauen gegenüber dem Eindringen von nicht zur Familie gehörenden Personen. Nach unseren Erfahrungen fehlt es wohl an der Offenheit Betroffener, um gezielt einen ambulanten Dienstleister punktuell in Anspruch zu nehmen.


Den gesamten Beitrag finden Sie in "Das Gesundheitswesen in China".

Bild: © fotolia/sharaku1216


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