
Arbeitsplatzattraktivität
Arbeitsplatzattraktivität: Rekrutierung und nachhaltige Bindung von Arbeitskräften am Beispiel Pflege
Christine Vogler
1. Vision
Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen.“ (Bergmann 2004)
Wir schreiben das Jahr 2034 im Juni. Es ist 13.00 Uhr mittags. Im Stationsbereich für Akutkranke trifft sich das interdisziplinäre Team zur gemeinsamen Tagesbesprechung. Der helle Tagungsraum besteht aus den unterschiedlichsten Sitz- und Liegemöbeln und ermöglicht allen, die Bildschirme und Informationstafeln auf den Wänden zu sehen. Alle Kolleg:innen setzen beim Ankommen ihren Barometerstein auf die Tagesskala und können so am Ende ablesen, wie zufrieden jede/jeder Einzelne mit der eigenen Arbeit war.
Fällt der Wert unter drei, wird noch in der Tagesbesprechung gemeinsam überlegt, was dazu geführt hat und entsprechende Überlegungen zur Änderung in die Umsetzungsbox gesprochen, die am nächsten Morgen die Ideen auf die TeamApp einspielen wird. Pflegefachperson Younsung nimmt sich ein Getränk aus der Kühltheke und öffnet dann über ihr Smartphone die digitalen Patientenakten auf den Bildschirmen. Alle Pflegenden, Ärzt:innen und Therapeut:innen bewerten nun gemeinsam patientenbezogen die durch die KI-Dokumentation prognostizierte Versorgungssituation und beurteilen sie mit der jeweiligen Kompetenz der Profession. Dabei wird der/die Patient:in zugeschaltet. Die individuelle Bedarfssituation jeder/jedes Patient:in wird gemeinsam bewertet und bestätigt oder angepasst.
Nach der Patientenrunde berichtet Pascale, dass ab sofort der Dienstplan für alle Professionen für das nächste Jahr über die TeamApp abgerufen werden kann. Alle vorab gemeldeten Urlaube und Wünsche wurden berücksichtigt. Später kommende Änderungswünsche können ab sofort selbstständig eingegeben werden und lösen automatisch eine Meldung an den interdisziplinären Pool aus. Auf dem Bildschirm wird das Stationsbudget mit Dringlichkeit angezeigt. Obwohl November ist, sind noch 30% der Fortbildungsbudgets offen. Kim berichtet, dass die Abrechnungen für die Transformationsbegleitung noch nicht abgeschlossen sind und sich das dann ausgleichen wird. Turkan berichtet von der Einarbeitung der neuen Auszubildenden Jamille und spricht auch die Innenausstattung der Kommunikationsbox an, in der jeder/jede Kolleg:in per automatischem Generator und strukturiertem Gesprächsprotokoll zwei wöchentlich in einem Zweiergespräch inter- und intraprofessionellen Wissens- und Ideenaustausch betreiben kann.
Nachdem sich alle für die gemeinsame Schicht bedankt haben, holt Pascale ihre bei der Küche bestellten Tageseinkäufe aus dem „Rundumsorglosraum“ (wie ihn die Mitarbeitenden getauft haben) ab und Jamille nimmt mit ihrer Mitarbeitendenkarte mittels Barcodes eine neue Schere aus dem Materialschrank, da ihre kaputtgegangen ist. To be continued …
2. New Work als Wegbereiter
Kann so die zukünftige Arbeitswelt der Pflegenden aussehen? Interdisziplinär, digital, an Patient:innen und Pflegebedürftigen orientiert, Krankenhaus ohne Hierarchien und mit Orientierung am Können der Berufsgruppen und sich stets selbst evaluierend? Ja, es kann gehen. Die Veränderung der Arbeitswelt in den letzten Jahren unterliegt einem massiven Wandel. Klassische Karrierewege gibt es kaum noch. Eine Balancezwischen Freizeit und Arbeit wird für viele immer wichtiger und bei manchen rückt Arbeiten zugunsten der Sinnfrage und des Lebens in den Hintergrund. Einflüsse der Digitalisierung, der Globalisierung, des demografischen Wandels, der Komplexität unserer Systeme und des Klimawandels fordern einen neuen Blick auf Arbeit und Leben. (Schermuly 2021). Der Begriff des „New Work“ prägt bereits seiteinigen Jahren die Diskussionen zu künftigen Arbeits-und Lebenswelten. Am 10.08.2023 zeigt Google 3.530.000 Mio. Ergebnisse bei Eingabe von „New Work im Gesundheitswesen“.
Bei „New Work“ werden gar 22,5 Milliarden Treffer angezeigt. Als Frithjof Bergmann und sein Team zu Beginn der 80er-Jahreim Rahmen der großen Umbrüche in der Autoindustriebegannen, neue Arbeitsmodelle zu entwickeln, ahnten sie vielleicht nicht, wie sehr ihre New-Work-Modelle, die dazu dienen sollten, der drohenden Massenarbeitslosigkeit zu begegnen, die Arbeitsweltverändern sollte. Die Idee? Arbeit sollte anders verteilt werden, dem Menschen dienen, fördern und ihn unterstützen – ein Teil des Lebens werden (Bergmann 2004).Fast 40 Jahre später hat sich der New-Work-Begriff weiterentwickelt. Wir finden verschiedenste Perspektiven, Definitionen und Interpretationen des Begriffes New Work. New Work ist im Managementangekommen. Dämon et al. 2023 beschreiben es mit den Worten:
„New Work zwischen Selbstverwirklichung, Kundenzentrierung und Performance“ (Dämon et al. 2023, S. 28).
So unterschiedlich wie die Arbeits- und Lebensweltensind, so unterschiedlich ist auch die Interpretation und Umsetzung des „New Work“. Aber wir finden in allen Weiterentwicklungen gleichbleibende Kern- „aussagen (Dämon et al. 2023):
- Abflachung der Hierarchien,
- moderne partizipative und transformationale Führungskulturen,
- umfangreiche und selbstverständliche Mitarbeiterbeteiligung.
Denn am Ende soll das Prinzip des New Work dazu dienen, im Rahmen des globalen Fachkräftemangels Mitarbeitende zu finden und zu halten: Arbeit als Teil eines guten und erfüllten Lebens.
Wie aber finden diese aus dem Produktions- und Industriebereich entstandenen Arbeitstheorienihren Weg in das Gesundheitssystem? Richten wir den Blick auf die heutige professionelle Pflege im Krankenhaus, finden wir von all diesen Entwicklungen in der modernen Arbeitswelt wenig. Die Abflachung der Hierarchien scheitert bereits an den eingeschränkten Handlungskompetenzen der verschiedenen Berufsgruppen, Führungskulturen in Krankenhäusern sind sehr traditionell und orientieren sich an klassischen Werteschemata von Führen und Folgen und nicht von Partizipation – Mitarbeiterbeteiligung erfolgt nur punktuell und selten in Grundsatzfragen. Und trotzdem beginnen sich die Dinge zu bewegen und es gibt bereits heute genügend Hinweise, die uns helfen, den Arbeitsplatz der Pflege der Zukunft zu beschreiben und vor allem auch die Wege dorthin zu ebnen.
3. Perspektiven, die zeigen, wo es hingehen kann
In der Studie „Ich Pflege wieder, wenn …“ der Arbeitnehmerkammer Bremen (Auffenberg 2022) wurden Pflegefachpersonen, die in Teilzeit arbeiteten bzw. ganz ausgeschieden waren, befragt, was die wesentlichen Faktoren für eine evtl. Arbeitszeiterhöhung bzw. Rückkehr in den Beruf wären. Die Antworten auf den ersten drei Plätzen waren
1. einen fairen Umgang unter Kolleg:innen zu erleben,
2. wertschätzende und respektvolle Vorgesetzte und
3. ausreichend Zeit für die Patientenbetreuung.
Die Cluster „Organisation und Führung und Berufliches Selbstverständnis und Anerkennung“ lagen dabei deutlich vor den Clustern „Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und Weiterbildung und Karriere“. Damit treffen diese Aussagen genau die Inhalte des New Work.
Und ein weiteres Modell zeigt uns die Möglichkeiten neuer Arbeitswelten für Pflegende in Kliniken auf. Die Magnetkrankenhäuser. Das Modell entstand in den USA in den 80er-Jahren und identifizierte Kliniken, die ausreichend Personal, gute Outcomes und wenig Fluktuation besaßen. In einer wissenschaftlichen Studie der Akademie of Nursing (AAN) wurden Schlüsselkomponenten definiert, die diese Kliniken vorwiesen. Dazu gehören (Müller-Dümke 2020):
- Transformationaler Führungsstil: Gelebter transformationaler Führungsstil, indem (Pflegedienst‑) Leitungen durch Partizipation, Präsenz und Wertschätzung auffallen und die Selbstinitiative und Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden fördern und fordern.
- Strukturelle Befähigung: Im Rahmen der strukturellenBefähigung verfügen Magnetkrankenhäuserüber interprofessionelle Kommunikation aufAugenhöhe. Die Organisationsstrukturen sindso gestaltet, dass hierarchische Strukturen zwischenden Professionen aufgelöst werden. GezielteEntwicklungsprogramme unterstützen dieProfessionalisierung der Pflege und Leistungsbereitschaft,Bildung und Weiterentwicklung in derPflege werden aktiv gefördert.
- Professionelle Pflegepraxis: Das bedeutet Eigenverantwortung und Selbstständigkeit der Pflegenden. Es gibt Spezialisierungen in der pflegerischen Versorgung, kontinuierlichen Austausch und pflegerisches Expertentum.
- Neues Wissen, Innovationen und Verbesserungen: Sie helfen, Pflegende aktiv am Qualitäts‑, Fehler und Beschwerdemanagement zu beteiligen. Um dies zu unterstützen, werden pflegewissenschaftliche Strukturen und evidenzbasiertes Arbeiten unterstützt und ermöglicht.
- Empirische Ergebnisse: Magnetkrankenhäuser stehen im qualitativen Benchmark mit anderen Kliniken Empirische Ergebnisse der Pflege werden konstant und regelmäßig ermittelt. Es findet ein regelmäßiger Verbesserungsprozess statt.
Im Rahmen der europaweiten Studie Magnet4Europewird momentan Übertragbarkeit, Implementierung, Skalierung und Wirksamkeit des Magnet-Konzepts im europäischen Kontext bewertet. Bereits nach drei Jahren zeigen sich die ersten Erfolge im Bereich der Etablierung der transformationalen Führung, Empowerment und in der Akademisierung der Pflege (Kleine et al. 2023).
Und noch eine weitere Perspektive: Im Rahmender Studie WeCare4Us wurden Elemente der Zukunftsforschung verwandt und u.a. Interviews mit Pflegepersonal geführt, indem alternative Biografien imaginiert wurden. In den Ergebnissen spiegeln sich die bereits beschriebenen Kernelemente des New Work wider.
Die Einbindung der Pflege in Innovationsprozesse, Entscheidungen und Krankenhauskommunikation; gemeinsame Gestaltung von Klinikkultur; Kollaboration und Bildung; gute Einbindung des Nachwuchses und Wertschätzung durch Professionalisierung werden als zwingend formuliert, um beruflich Pflegende im Beruf zu halten und zu gewinnen. Und es braucht gesunde Arbeitsbedingungen wie sicheres Schichtmanagement, regelmäßiges Empowerment, neue Klinikarchitektur und differenzierte Berufsbilder mit klarer Kompetenz- und Rollenverteilung (Druyen et al. 2022).
4. Wege zur attraktiven Arbeitsstelle im Krankenhaus
Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse: Wie also kann der Arbeitsplatz für Pflegende in der Zukunft aussehen? Wie kommen wir aus dem heutigen Dilemma der hohen Arbeitsbelastung, der niedrigen Arbeitszufriedenheit und geringen Verweildauer im Beruf (Rennert et al. 2022)? Die Antworten kann das Krankenhaus der Zukunft nicht allein lösen. Neben der Verantwortung der Kliniken auf der Organisations-und Prozessebene braucht es Entwicklung im Bereich der Digitalisierung, Empowerment für alle Mitarbeitenden, gesellschaftliche und politische Anpassungsleistung.
Thesen für die Gestaltung attraktiver Arbeitsplätze(aus der Perspektive von Pflegefachpersonen)
- New Work (weiter) im Gesundheitswesen etablieren: New Work mit seinen Kernelementen Abflachung der Hierarchien, moderne partizipative und transformationale Führungskulturen und eine umfangreiche und selbstverständliche Mitarbeiterbeteiligung ist eine aktuelle und an der Erwartung der Menschen orientierte Arbeits- und Managementhaltung.
- Professionalisierung und Pflegefachlichkeit wertschätzen – Bildung ausbauen und garantieren: Damit Pflegefachpersonen in allen Positionenkompetent und konstruktiv im Rahmen der Führung,Partizipation und Innovation mitwirkenkönnen, braucht es ausreichende, kontinuierlicheund selbstverständliche Aus‑, Fort- und Weiterbildungs-sowie Studienmöglichkeiten.
- Digitalisierung vernünftig umsetzen: Digitalisierunghilft und wird in Zukunft für attraktiveArbeitsplätze gebraucht. Digitalisierung kannKommunikationswege zwischen den Teams,unterschiedlichen Professionen, fachlichen Kollaborationenetc. ermöglichen, erleichtern undvertiefen. Ideen- und Innovationsplattformen,Termin- und Schichtmanagement bis hin zu KIgesteuertenVersorgungstools können die Arbeiterleichtern und Mehrfachbelastungen sowieDoppelarbeiten verhindern. Voraussetzung ist,dass die Entwicklung der digitalen Tools mit denBerufsgruppen gemeinsam und an deren Bedürfnissenorientiert geschieht und von Beginn anzuverlässig angewendet werden kann.
- Teamentwicklung und Nachwuchssicherung als elementares Kernelement im Berufsverständnisetablieren: Ankommenskultur erzeugt Wertschätzung innerhalb der Profession. Das Einarbeiten, Begleiten und Entwickeln neuer Kolleg:innen und Auszubildender braucht ein neues Selbstverständnis und ausreichend Zeit und Methodenwissen.Dabei ist bereits bei der Personalauswahl darauf zu achten, dass Auszubildende und Studierendeden für sie richtigen Beruf ergreifen und Pflegefachpersonen sich in die künftigen Teams mit Qualifikation und Softskills einfügen können. Teamentwicklung muss generationenübergreifende Selbstverständlichkeit sein.
- Hierarchien zugunsten Kompetenzen abbauen: Die Kompetenzen im Gesundheitswesen müssen neu sortiert werden. Die momentan den Ärzt:innen vorbehaltene Heilkunde und Leistungs- und sozialrechtliche Verantwortung muss nach Kompetenzen auf die Gesundheitsfachberufe übertragen werden. So können alle patientenzentriert und in einem gleichwertigen interprofessionellen Dialog Patientenversorgung sichern und Krankenhausgemeinsam gestalten.
Darüber hinaus geht es auch darum, die berufsständische Vertretung in Deutschland weiter zu entwickeln. Dazu muss der Gesetzgeber entsprechende Maßnahmen auf den Weg bringen. Berufe, die sich selbst entwickeln und gestalten, erzeugen einen höheren Berufsstolz sowie Attraktivitätsfaktor und sichern Gesundheitsversorgung. Dieses gilt auch für bundeseinheitliche Bildungswege und Veränderung des Sozial- und Leistungsrechtes. Wie schon angedeutet: Ganz allein schaffen es die Krankenhäuser der Zukunft nicht, die Arbeitsplatzattraktivität zu erhöhen. Aber viele der beschriebenen Wege können bereits heute beschritten werden und werden ihre Wirkung auf das System entfalten. Begonnen werden muss heute. Wenn die Pflege durch alle Maßnahmen in Zukunft ein mitbestimmender, souveräner, karrierefördernder, gut bezahlter und lebenserfüllender Beruf wird – werden Recruitingmaßnahmen überflüssig.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Das Krankenhaus der Zukunft - Herausforderungen, Chancen, Innovation", herausgegeben von Dr. rer. pol. Gerald Gaß, Prof. Dr. Henriette Neumeyer und Ingo Morell. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.