Missbrauch von Autogenem Training
Autogenes Training und die Möglichkeiten des Missbrauchs
Jede psychohygienisch/ psychotherapeutisch wirksame Methode kann auch missbraucht werden. Ein Missbrauch des A.T. ist dabei durch den Lernenden wie auch durch den Lehrenden möglich.
1. Missbrauch des A.T. durch Lernende
Wenn einzelne Personen das A.T. verwenden wollen, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern, so ist dies zunächst ein zu akzeptierendes Anliegen. Einige jedoch wollen das A.T. als eine Art Dopingmittel, also als Aufputschmittel, verwenden, um über ihre eigentlichen körperlichen und geistigen Grenzen hinaus zu gelangen. Hier ist von einem Versuch des Missbrauchs der Methode zu sprechen. Versuch deshalb, weil das A.T. eine ganz und gar physiologische Methode ist, die lediglich hilft, unser Leistungsvermögen voll auszuschöpfen, die darüber hinaus jedoch keine zusätzlichen Möglichkeiten eröffnet (wie es eine Droge – vorübergehend und mit allen damit verbundenen Risiken – vermag). Wer z.B. das A.T. als Konzentrationshilfe bei Examensvorbereitungen verwendet, was einer typischen Indikation entspricht, wird schließlich, wenn er die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit erreicht hat und evtl. dann noch einmal eine Übung des A.T. macht, um weiterarbeiten zu können, stattdessen lediglich einschlafen. Das A.T. als eine physiologische Methode verhilft den körperlichen Bedürfnissen zu ihrem Recht.
Manche Kursteilnehmer versuchen, das A.T. zu einem „autistischen Rückzug“ aus der Realität zu benutzen. Schultz [1987] berichtet z.B. von einem 26-jährigen Ministerialbeamten, der die Frage stellte, wieweit es möglich sei, mit dem A.T. „lästige sinnliche Anwandlungen abzustellen“. Dass hier eine Klärung in der Gruppe und ggf. weitere Gespräche unter 4 Augen angebracht sind, dürfte sich von selbst verstehen. Für die Vermittlung des A.T. an schizophrene Patienten (außerhalb akuter Erkrankungsschübe) wird immer wieder die Befürchtung geäußert, dass ein autistisches Verhalten sich ausprägen oder verstärken könne. Während Bleuer den „Autismus“ genannten Rückzug des Patienten als eine Grundstörung der Schizophrenie auffasste, die nicht aus anderen Störungen ableitbar sei, erwog Kraepelin die Möglichkeit, dass es sich um eine Reaktion auf die Erkrankung handeln könne; somit könnte dann von einem „sekundären Autismus“ als einem Schutz gegen Reizüberflutung mit der Gefahr der nachfolgenden Dekompensation gesprochen werden. Aus diesen Überlegungen heraus scheint es durchaus möglich zu sein, dass Patienten von einer autistischen Form der Reizabschirmung zu einer differenzierteren, selbst gesteuerten Reizabschirmung mittels des A.T. gelangen [vgl. hierzu Kraft und Schötzau, 1982]. Da bislang jedoch mit dieser Patientengruppe nicht genügend Erfahrungen vorliegen, muss die mögliche Gefährdung einer Forcierung des autistischen Rückzugs aber zumindest diskutiert werden.
Manifeste Störungen sind nicht nur durch das A.T. zu befürchten im Sinne von unerwünschten Nebenwirkungen, sondern können unter bestimmten Umständen natürlich auch bewusst provoziert werden. Dies gilt bei vasolabilen Personen mit Neigung zu vasomotorischen Kopfschmerzen und Migräne im Hinblick auf die Wärme- und Stirnkühleübung; allgemein gilt es insbesondere für die Herzübung. Ein eindrucksvolles Beispiel schildert Thomas: „Ein 23-jähriger Student z.B. erinnerte sich während seines Wehrdienstes 1969 in der Bundesrepublik an diese Warnung und stellte absichtlich falsch seinen Herzschlag langsam ein. 4 Wochen später wurde er mit einer ‚Bradykardie‘ (Puls unter 40 in der min) und einer ‚Anginapectoris‘ ins Lazarett eingeliefert. Von dort schrieb er dem Verfasser einen Brief, in dem es u.a. heißt: ‚Meinem ärgsten Feind wünsche ich die Angstanfälle nicht, unter denen ich seither leide. Er flog dann zu einer kurzen hypnotischen Behandlung nach Berlin und leistete danach seinen Wehrdienst bis zum Ende.“ [1967]
Auch ein halb weltanschaulicher Missbrauch des Verfahrens bzw. auch die Verwendung als eine Art „Religionsersatz“ ist bekannt.
Es ist immer wieder darauf hinzuweisen, dass das Autogene Training lediglich die Beschreibung eines Weges, nicht aber die Definition eines Zieles ist.
Was wir mit der Resonanzdämpfung der Affekte, der Erholung, der Entspannung anfangen, ist und bleibt unserer eigenen Entscheidung überlassen.
2. Missbrauch des A.T. durch Lehrende
Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass nur derjenige eine Methode verwendet, der sie auch beherrscht. Dazu gehört auch, dass der Kursleiter das A.T. selbst vollständig beherrscht und zumindest über ca. ein Jahr ausübt.
Für die offene, analytisch orientierte Form der Vermittlung ist es selbstverständlich Voraussetzung, dass der Therapeut eine entsprechende psychotherapeutische Weiterbildung durchlaufen und mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen umzugehen gelernt hat.
Die scheinbar so einfache, didaktisch straff gegliederte Grundstufe des A.T. verführt möglicherweise manche Kursleiter dazu, die dabei immer wieder auftretenden Schwierigkeiten zu unterschätzen. Es ist ein methodisch-didaktischer Kunstfehler, wenn ein Kursleiter seine Kursteilnehmer mit ihren Fragenwährend des Kurses immer wieder auf die nächste Stunde vertröstet, da er erst nachlesen müsse (erlebt bei einem Volkshochschulkurs). Eine eingehende Kenntnis mit einem entsprechenden Literaturstudium haben jeder praktischen Anwendung selbstverständlich vorauszugehen. So sprach z.B. ein anderer Kursleiter die Formeln stets vor; daraufhin angesprochen stellte sich heraus, dass er es nicht in durchaus möglicher Abwägung des Für und Wider des Vorsprechens getan hatte, sondern, weil er überhaupt nicht wusste, dass das A.T. auch in der Übungsgruppe in vollkommenem Stillschweigen geübt werden solle: „... Vielleicht ist es nicht überflüssig, hier mit größtem Nachdruck zu betonen, dass nur eine Behandlung, bei der die Patienten systematisch angeleitet werden, die 6 Übungen völlig exakt zu übernehmen und in völligem Stillschweigen, besonders auch von Seiten des Arztes, anzuwenden, den Namen A.T. beanspruchen darf. Sobald der Arzt, geschieht dieses auch aus bester Absicht, die Arbeit des Patienten mit guten Reden begleitet, handeltes sich nicht mehr um A.T., sondern um eine suggestiv herbeigeführte hypnotische Umschaltung. Selbstverständlich ist dagegen, was die praktische Anwendung betrifft, nichts einzuwenden, nur muss sich der Arzt darüber klar sein, dass er dann den Bereich des A.T. verlässt und seine Behandlung mit fremdhypnotischen Einwirkungen durchsetzt. Man sollte bei solchen Verfahren aber nicht von einer Modifikation des A.T. sprechen, sondern unumwunden zugeben, dass hier eine Mischung autogener und fremdhypnotischer Behandlung stattfindet. Nur die systematische, selbstständige, im Stillschweigen durchgeführte Übung erreicht autohypnotische Umschaltung und darf als A.T. gelten“ [Schultz, 1966].
Während bei einem gelegentlichen Vorsprechen vielleicht noch von einer „Akzentverschiebung“ vom A.T. zur Hypnose gesprochen werden darf, die in dem einen oder anderen Falle durchaus auch einmal hilfreich sein kann, z.B. bei Patienten mit hirnorganischen Anfallsleiden, [vgl. Binder, 1979], wird der Boden des A.T. vollends verlassen, wenn Kursteilnehmer oder einzelne Patienten in einer Praxis mit Hilfe von Schallplatten oder Kassetten „berieselt“ werden. Für die Autogene Imagination (Oberstufe des A.T.) gilt schließlich, dass ihre Anwendung an eine Ausbildung des Lehrenden als Psychotherapeut oder Psychoanalytiker gebunden sein sollte. Der Umgang mit den auftauchenden Erlebnissen und Bildern bedarf eines Wissens und eines Verständnisses um tiefenpsychologische Zusammenhänge; anderenfalls kann nicht von einem verantwortungsvollen Umgang mit den Patienten und dieser Methode gesprochen werden.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Autogenes Training" herausgegeben von Prof. Dr. Hartmut Kraft. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.