Berühmte Personen mit Tourette-Syndrom
Berühmte Persönlichkeiten und bekannte Zeitgenossen mit Tourette-Syndrom
Kirsten Müller-Vahl
Selbstverständlich kann wegen der ärztlichen Schweigepflicht hier nur über Menschen berichtet werden, die nicht nur gegenüber ihrem behandelnden Arzt über die bei ihnen bestehende Tic-Störung gesprochen haben, sondern dies auch in der Öffentlichkeit taten. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich in der Tourette-Sprechstunde der Medizinischen Hochschule Hannover in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit Tourette-Syndrom aus praktisch allen Berufsfeldern vorgestellt haben – vom Ingenieur bis zum Musiker, vom Arzt bis zum Finanzbeamten, vom Koch und Konditor bis hin zum Lehrer. Nicht nur über Zeitgenossen, sondern auch über verschiedene historische Persönlichkeiten existieren unterschiedlich gut begründete Vermutungen, dass bei ihnen Tics bzw. ein Tourette-Syndrom bestanden haben könnten. Hierzu zählen neben dem römischen Imperator Claudius Peter der Große, Molière und Napoleon. Allerdings lassen die verfügbaren Quellen nur vage Vermutungen zu. Letztlich scheint es wenig wahrscheinlich, dass bei den vorgenannten Personen wirklich Tics oder ein Tourette-Syndrom bestanden (Krämer 2006).
1. Hatte Mozart ein Tourette- Syndrom?
Die Hypothese, dass zumindest manche der sonderbaren Verhaltensweisen des Genies Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) durch ein Tourette- Syndrom erklärt werden könnten, wurde erstmals von dem dänischen Neurologen und Psychiater Rasmus Fog formuliert (Fog u. Regeur 1983, Fog 1995). Seither haben sich verschiedene Biographen und Medizinhistoriker mit dieser Frage befasst (Simkin 1992, Aterman 1994).Diese Vermutung erhielt im Jahr 2006 neuen Auftrieb, als der englische Komponist James McConnel, bei dem selbst ein Tourette- Syndrom besteht, in einem vom TV-Sender ARTE ausgestrahlten Beitrag über sich berichtete, dass, wenn er Musik von Mozart höre, alle seine Tics verschwunden seien. Dies sei hingegen beim Hören der Musik von anderen Komponisten wie Beethoven, Brahms oder Strawinsky nicht der Fall (Der Mozart-Test, ARTE, 13.01.06). Von dieser Beobachtung ausgehend stellte McConnel die Hypothese auf, dass auch bei Mozart ein Tourette-Syndrom bestanden habe, das dieser – in Analogie zu seiner Erfahrung – durch das Musizieren selbst therapiert habe: Mozart behandelte seine eigene Krankheit, musikalisches Beispiel nennt McConnel eine Passage aus dem Duett von Papageno und Papagena aus Mozarts Oper Die Zauberflöte und bewertet die darin enthaltene Silbenwiederholung Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Pa-Papagena als komplexen vokalen Tic im Sinne einer Palilalie .Diese durchaus interessante Ansicht McConnels dürfte einer kritischen Beurteilung allerdings kaum standhalten. Die wissenschaftliche Diskussion über die Hypothese, bei Mozart habe ein Tourette-Syndrom bestanden, stützt sich in erster Linie auf verschiedene Zitate aus den sogenannten Bäsle-Briefen, der zwischen 1771 und 1781 entstandenen Korrespondenz zwischen Mozart und seiner Cousine Maria Anna Thekla Mozart. [...]
Immer wieder hat man sich bemüht, Erklärungen für Mozarts auffälliges Verhalten zu finden. So kam der Mozart-Biograph Hildesheimer zu dem Schluss, es handele sich dabei um einen durch geistige Überleistung bedingten Kontaktverlust, der sich anderweitig kompensiert und zwar für die Mitwelt an unerwarteten und unerwünschten Stellen. Der Schriftsteller Stefan Zweig hingegen, der eine Reihe von Mozart-Briefen besaß, deutete in seiner Korrespondenz mit Sigmund Freud Mozarts Neigung zur Koprolalie als merkwürdige Variante der Erotik eines bedeutenden Menschen und ließ Freud wissen, dass er den Inhalt der Briefe nur einem ganz engen Kreis vermittele, weil eine Veranlagung dieser Art nicht Jeden von uns zu interessieren hat. Dem gegenüber steht die Hypothese, die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten könnten statt einer neurologischen oder psychiatrischen Erkrankung lediglich Mozarts einzigartiger Persönlichkeit, seinem genialen Talent und den enormen Ansprüchen des Vaters und der Gesellschaft zugeschrieben werden (Ashoori u. Jankovic 2007). Anhand der verfügbaren Quellen wird heute wohl nicht mehr vollständig zu klären sein, ob bei Mozart ein Tourette- Syndrom bestand. Einerseits könnten die überlieferten Verhaltensauffälligkeiten in der Tatals motorische und vokale Tics sowie als Koprophänomene mit Koprolalie (Aussprechen von Schimpfwörtern) und Koprographie (Schreiben von Schimpfwörtern) interpretiert werden. Seine musikalische Genialität spricht gewiss nicht gegen diese Einschätzung, denn es sind andere hochtalentierte Musiker bekannt, bei denen ein Tourette- Syndrom vorliegt. Andererseits kommt eine Koprographie nur selten bei dieser Erkrankung vor. Zudem liegen nur spärliche Belege für motorische Tics vor, die als Kernsymptom des Tourette-Syndroms anzusehen sind (Kammer 2007).
2. Prominente Personen mit Tourette- Syndrom
2.1 Historische Persönlichkeiten mit Tourette-Syndrom
Der Tourette-Experte Andrea Cavanna mutmaßt, dass bei König Christian VII von Dänemark (1749–1808) – statt der bisher angenommenen Diagnoseeiner Schizophrenie – möglicherweise ein Tourette-Syndrom bestanden haben könnte (Cavanna u. Cavanna 2014). In historischen Schriften werden neben verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten mit Impulsivität, Aggressivität und Autoaggressionen auch Bewegungen beschrieben, die durchaus mit dem Bestehen motorischer Tics im Einklang stehen könnten.
2.2 Musiker mit Tourette-Syndrom
Von nicht wenigen Musikern und Komponisten ist bekannt, dass bei ihnen ein Tourette-Syndrom vorliegt. Dies führte immer wieder zu Spekulationen, ob Menschen mit Tourette-Syndrom besondere künstlerische und musikalische Begabungen haben. Auch wird von vielen Künstlern, aber auch zahlreichen Patienten berichtet, dass das Spielen eines Instruments oder Singen zu einer deutlichen Reduktion der Tics führe. In einer kleinen Studie konnte tatsächlich nachgewiesen werden, dass das (passive) Hören von Musik und viel mehr noch das (aktive) Musizieren zu einer Tic-Verminderung führt (Bodecket al. 2015). Offen bleibt derzeit aber die Frage, ob es sich hierbei um einen spezifischen Effekt infolge des Musizierens handelt oder „lediglich“ die Konzentration auf eine Tätigkeit entscheidend ist, wie es auch von anderen Tätigkeiten bekannt ist, die ein hohes Maß an Konzentration erfordern.
Der bekannte amerikanische Jazzpianist und Komponist Michael Wolff (Jahrgang 1954) machte seine Tourette-Erkrankung unter anderem dadurch der Öffentlichkeit bekannt, dass er viele Jahre dem Vorstand der amerikanischen Tourette-Gesellschaft (Tourette Association America, Inc., TAA) angehörte und sich um Kinder mit Tourette-Syndrom kümmerte. Wolff arbeitete als Bandleader, musikalischer Leiter verschiedener Shows (The Arsenio Hall Show, The Naked Brothers Band) und Komponist von Filmmusiken. So schrieb er auch die Filmmusik zu dem Film The Tic Code, der von der Freundschaft zweier Musiker mit Tourette-Syndrom erzählt und an seine eigene Biografie angelehnt ist. Der 1967 in London geborene britische Klassik-Pianist Nick van Bloss legte wegen seines Tourette-Syndroms vom 26. bis 41. Lebensjahr eine Konzertpause ein, obwohl er in Fachkreisen zuvor bereits als Jahrhundertgenie gefeiert wurde. Bereits im Alter von 15 Jahren war er als Juniorstudent am Londoner Royal College of Music eingeschrieben. Die Diagnose eines Tourette- Syndroms wurde allerdings erst im Alter von 21 Jahren gestellt, 14 Jahre nach Symptombeginn. Im Jahre 2006 veröffentlichte van Bloss ein autobiographisches Buch (Busy Body – My Life With Tourette's Syndrome), in dem er sein Leben mit dem Tourette-Syndrom beschreibt. Mittlerweile sagt er von sich, dass er gelernt habe, ein Leben mit dem Tourette-Syndrom anzunehmen (van Bloss 2006): Daraufhin feierte er am 28.04.2009 mit dem English Chamber Orchestra in der Londoner Cadogan Hall vor 900 Zuhörern ein viel bejubeltes Comeback.
Der amerikanische Komponist Tobias Picker (1954 in New York geboren) begann bereits mit acht Jahren zu komponieren, studierte an verschiedenen renommierten Hochschulen und erhielt zahlreiche bedeutende Auszeichnungen. Er komponierte Opern, Symphonien, Konzerte für Klavier und andere Instrumente, Lieder, Streichquartette und Kammermusik. Seine Symphonien wurden von vielen bedeutenden Orchestern aufgeführt wie den New Yorker Philharmonikern, dem Chicago Symphonie Orchester, den Münchener Philharmonikern und dem Tonhalle-Orchester Zürich. Picker selbst sagt über seine Musik, dass diese auch tourettic elements enthalte. In der britischen Fernsehdokumentation Mad But Glad aus dem Jahre 2007 wird über die Tourette-Erkrankung sowohl von Nick van Bloss als auch von Tobias Picker berichtet. In einem Interview mit dem bekannten englischen Neurologen Oliver Sacks äußert van Bloss, dass seine Tics während des Klavierspielens praktisch verschwunden seien. Sacks diskutiert in dem Beitrag die interessante Frage, inwiefern ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Tourette-Syndrom und der außergewöhnlichen Kreativität von van Bloss und Picker besteht.
In seinem Buch Der einarmige Pianist beschreibt Oliver Sacks nicht nur die Lebensgeschichte von van Bloss und Picker, sondern auch die des jungen amerikanischen Schlagzeugers Matt Giordano (Jahrgang 1982). Nach Oliver Sacks Einschätzung besteht bei Giordano ein schweres Tourette-Syndrom. Giordano sagt von sich, dass seine Tics während des Schlagzeugspielens zurückgingen und dabei Rhythmus und Tic synchron verliefen und in Einklang stünden (www.tourette.org/real-people-real-progress-webinar/,Sacks 2008).Bei dem schwedischen Musiker, Produzenten und Diskjockey Jonas Altberg (Jahrgang 1984), besser unter seinem Künstlernamen Basshunter bekannt, besteht ebenso ein Tourette-Syndrom wie bei dem britischen Popsänger und Songschreiber Nick Tatham (Jahrgang 1983). Tatham spielt sowohl Gitarre als auch Klavier auf hohem Niveau. Dies ist besonders bemerkenswert, weil er nie Unterricht nahm. Tatham stellt in dem 2004 erschienenen Film Live for the Moment von Richard Booth den Tourette betroffenen Sänger Miles Anderson dar, der mit Hilfe eines befreundeten Arztes lernt, mit dem Tourette-Syndrom zu leben. Auch Tatham beschreibt, dass seine Tics während des Singens verschwänden und er eine andere Person würde.
Kurt Cobain (1967–1994), Komponist und Leadsänger der Rockband Nirvana, suizidierte sich 2014 im Alter von 27 Jahren. Bei ihm wurde in der Kindheit die Diagnose einer ADHS gestellt. Später kamen eine Zwangsstörung, Alkohol- und Drogenabhängigkeit sowie Depressionen hinzu. Etwa mit neun Jahren sollen erstmals motorische Tics mit Augenblinzeln aufgetreten sein. Im Erwachsenenalter wurden in Interviews und bei Aufregung einfache motorische und vokale Tics beobachtet. Dokumente, in denen offiziell die Diagnose eines Tourette-Syndroms gestellt wurde, sind nicht bekannt. Neben der wahrscheinlichsten Diagnose eines Tourette-Syndroms wurde alternativ spekuliert, dass Cobains Tics Folge von Drogenkonsum und der Einnahme zahlreicher Medikamente gewesen sein könnten (Camargou. Bronzini 2015). Interessanterweise schrieb Cobain 1993 den Text für einen Song namens Tourette’s.
Jamie Grace, geboren 1991, ist eine junge amerikanische Sängerin, die 2012 für den Grammy nominiert wurde und im selben Jahr den Dove Award for New Artist in the Year erhielt. Sie sagt über sich, dass das Tourette-Syndrom zwar keine lebensbedrohliche Erkrankung sei, aber eine Erkrankung, die das Leben verändere. Der Sänger James Durbin (Jahrgang 1989) gewann 2011 den 4. Platz bei American Idol. Kurz nach dem Tod seines Vaters wurden bei ihm im Alter von neun Jahren ein Tourette-Syndrom und ein Asperger-Syndrom diagnostiziert. Der Jazz-Schlagzeuger, Komponist und Autor David R. Aldridge beschreibt in seinem 2014 erschienenen Buch Tourette Syndrome and Music: Discovering Peace Through Rhythm and Tone sein Leben mit dem Tourette-Syndrom. Er empfand das Spielen von Instrumenten wie Schlagzeug, Gitarre, Bass und Keyboard während seiner Kindheit als wichtigen Ausgleich und eine Art Selbsttherapie. Um Kinder und Jugendliche mit Tourette-Syndrom zu unterstützen, hält er seit 2010 in den USA und Großbritannien Drum-Circle- und Drum-Set-Demonstrationen ab. Er sagte über sich: „Der Drang zu spielen und der Wunsch, die endlose Anspannung des Tourette-Syndroms abzubauen, nähren sich gegenseitig wie Öl das Feuer.“ (Sacks 2007).
Auch der professionelle Bariton-Opernsänger Jason Duika (Jahrgang 1983) machte öffentlich, dass bei ihm seit dem sechsten Lebensjahr stark ausgeprägte Tics bestanden. Früh bemerkte er, dass er während des Singens kaum Tics hatte. Dies half ihm trotz Hänseleien in der Kindheit, seinen Weg als Musiker zu gehen. Der Komponist und Pianist Luke Parkin (Jahrgang1979) gilt als besonders vielseitiger und produktiver Künstler, der in seiner Musik verschiedene Genres vermischt. Im Jahre 2006 stellte er sich für eine Werbekampagne der Amerikanischen Tourette-Gesellschaft TAA zur Verfügung. Jim Couchenour, Keyboarder und Komponist, machte sein Tourette-Syndrom unter anderem dadurch öffentlich, dass er 2004 einen Song mit dem Titel „Tourette’s Tribute“ einspielte. Beim Eurovision Song Contest 2021 trat für Norwegen Andreas Andresen Haukeland an, besser bekannt unter seinem Künstlernamen „TIX“. Bereits im Vorfeld machte er öffentlich, dass bei ihm ein Tourette-Syndrom bestehe. Er habe sich bewusst für den Künstlernamen TIX entschieden, da er als Kind immer mit dem Namen „Tics“ gehänselt worden sei. Bei der Betrachtung der öffentlich zugänglichen Videos und Interviews kommen allerdings Zweifel auf, ob tatsächlich alle Symptome als Tics einzustufen sind. Vielmehr besteht der Eindruck, dass neben tatsächlichen Tics zusätzlich auch funktionelle „Tic ähnliche“ Bewegungen bestehen.
Die aktuell weltweit sicherlich bekannteste Künstlerin mit Tourette-Syndrom ist die amerikanische Singer-Songwriterin Billie Eilish (Jahrgang 2001). Sie zählte 2019 zu den meistgestreamten weiblichen Künstlerinnen auf der Plattform Spotify und gewann 2020 alle vier Hauptkategorien bei den Grammy Awards. Erst 2018 sprach sie offen darüber, dass bei ihr in der Kindheit die Diagnose Tourette-Syndrom gestellt worden war. Zuvor hatte sie dies vermieden, um nicht auf ihre Erkrankung reduziert zu werden.
2.3 Schauspieler mit Tourette-Syndrom
Harald Schmidt (Jahrgang 1957) wurde in Deutschland durch seine von 1995 bis 2014 im TV ausgestrahlten Late-Night-Shows einem Millionenpublikum bekannt. Schmidt war aber nicht nur Entertainer und Kabarettist, sondern arbeitete auch als Schauspieler, Kolumnist, Schriftsteller und Fernsehmoderator. Verfolgt man die zahllosen Fernsehauftritte, so kann man zweifelsohne immer wieder eindeutige motorische und vokale Tics beobachten, die Schmidt oft aber gekonnt überspielte. Nur in wenigen Interviews äußerte er sich offen über die bei ihm bestehenden Tics, derentwegen er in der Jugend von seinen Eltern in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt worden sei. In der 1.018. Folge der „Harald Schmidt Show“ im TV-Sender SAT1 vom 19.12.2001 spricht er ausführlich über seine Tics, lässt aber offen, ob diese bis heute bei ihm bestehen. Der kanadische Schauspieler, Drehbuchautor, Sänger und Komiker Dan Aykroyd (Jahrgang 1952) berichtet, dass bei ihm in der Jugend ein mildes Tourette-Syndrom sowie zusätzlich ein Asperger-Syndrom diagnostiziert worden seien. Etwa mit 14 Jahren seien die Tics bei ihm vollständig zurückgegangen.
2.4 Politiker mit Tourette-Syndrom
Bijan Kaffenberger (Jahrgang 1989) gilt als der erste deutsche Berufspolitiker mit Tourette-Syndrom. Er wurde 2018 als jüngster Abgeordneter der SPD in den hessischen Landtag gewählt. In zahlreichen Dokumentationen, TV- und Videoformaten spricht er offen über seine Erkrankung. Die Tics sind bei Kaffenberger allerdings auch so stark ausgeprägt, dass sie der Öffentlichkeit bei keinem Auftritt verborgen bleiben. Auf seinem YouTube-Kanal Tourettikette informiert er zu zahlreichen Themen, darunter auch zum Tourette-Syndrom. Kaffenberger spielt auch im Theaterstück Chinchilla Arschloch, was was mit.
2.5 Schriftsteller mit Tourette-Syndrom
Als gut gesichert gilt heute, dass der bedeutende englische Gelehrte, Lexikograf, Schriftsteller, Dichterund Kritiker Samuel Johnson (1709–1784) am Tourette-Syndrom erkrankt war (Murray 1979, Pearce 1994). Er galt im 18. Jahrhundert als wichtigste Person im literarischen Leben Englands. Es liegen zahlreiche Beschreibungen vor, in denen Symptome geschildert werden, die rückblickend als motorische und vokale Tics und sogar als Koprolalie eingestuft werden müssen (Pearce 1994). Johnson nahm kaum Bezug auf seine Erkrankung – weder in der Öffentlichkeit noch in seinem umfangreichen schriftstellerischen Werk. Während er selbst an eine psychogene Ursache seiner Tics glaubte und diese als schlechte Angewohnheit bezeichnete, stellten die Ärzte seiner Zeit die Diagnose einer Chorea Sydenham. In einem Porträt von Reynold aus dem Jahre 1769 ist eine ungewöhnliche Haltung der Hände abgebildet, die vermutlich der Darstellung von Hand-Tics entspricht.
Auch bei dem französischen Schriftsteller und Politiker André Malraux (1901–1976) bestand zweifellos seit der Jugend ein Tourette-Syndrom. In zahlreichen zeitgenössischen Beschreibungen werden Gesichtszuckungen und auffällige Handbewegungen, aber auch ungewöhnliche Geräusche wie Kehllaute und Schnüffeln erwähnt. Ihm wird auch eine Persönlichkeitsstruktur mit zahlreichen Zwangssymptomen zugeschrieben. Malraux war aber wohl nur wenig durch das Tourette-Syndrom beeinträchtigt. Ab 1920 publizierte er mehrere bedeutende Artikel über moderne Literatur und Kunst. Zwischen 1928 und 1937 veröffentlichte er seine vier wichtigsten Romane. Unter de Gaulle arbeitete er sogar als Staatsminister und bereiste als Repräsentant Frankreichs die Welt (www.wiki.bildungsserver.de/weltliteratur/index.php/André_Malraux).Quim Monzó (geboren 1952 in Barcelona) gilt als bedeutender katalanischer Autor und wurde mehrfach für seine Romane, Essays und Erzählungen ausgezeichnet. Neben seiner literarischen Tätigkeit arbeitet Monzó als Comiczeichner, Grafikdesigner, Drehbuchautor, Übersetzer und Songwriter. Auch bei Monzó ist ein Tourette-Syndrom bekannt.
2.6 Erfolgreiche Sportler mit Tourette-Syndrom
Im Jahre 1994 wurde durch einen Bericht in der Sendung Der Sportspiegel im deutschen Fernsehen der amerikanische Basketballprofi Mahmoud Abdul-Raouf auch hierzulande einem breiteren Publikum bekannt. Trotz eines deutlich ausgeprägten Tourette- Syndroms spielte er von 1990–1998 sehr erfolgreich in der 1. amerikanischen Basketballliga NBA. In dem Fernsehbeitrag wurden seinerzeit die Einschränkungen des Sportmillionärs durch das Tourette-Syndrom dargestellt, aber auch positive Folgen der Erkrankung beschrieben: Abdul-Raouf kam oft zu spät zum Training, da er wieder und wieder die Autotür kontrollieren oder seine Schnürsenkel zubinden musste, bis sich ein Genau-richtig-Gefühl einstellte. Andererseits führte sein Zwang, den Ball beim Training so lange durch den Basketballkorb zuwerfen, bis sich eben dieses Genau-richtig-Gefühl einstellte und der Ball mit der richtigen Geschwindigkeit, der richtigen Flugbahn und dem richtigen Geräusch durch den Korb flog, dazu, dass er seinerzeit der treffsicherste Freiwurfschütze der NBA war mit einer Trefferquote von 96%.
Er selbst beschrieb diesen Zwang folgendermaßen: Ja, man ist ein Perfektionist, man muß bestimmte Sachen immer wieder machen. Wenn ich zum Beispiel eine Kanne berühre und sie sich nicht richtig anfühlt, muß ich sie immer wieder anfassen, bis alles genau richtig ist. Das gleiche beim Lesen. Manche Sätze muß ich immer wieder lesen, wenn die einzelnen Wörter nicht richtig über meine Lippen kommen, wenn ich nicht die genaue Bedeutung des einzelnen Wortes verstehe. Sogar beim Basketballspielen ist das so, wie ihr gesehen habt. Wenn der Ball nicht so in den Korb fällt, wie ich das will, dann muß ich immer weiter werfen. Es ist ein Kampf, aber das ist gut so. [...] Wenn die Schnürsenkel nicht richtig über meine Finger gleiten, muß ich es immer wieder versuchen. Für andere ist das unbedeutend, aber wenn es nicht richtig ist, muß ich wieder von vorne anfangen. Es muß eben genau richtig sein. Es ist schwierig, sich so seine Schuhe zu binden, es ist ein Kampf, wenn es nicht genau so läuft, wie ich es will, muß ich es immer wieder machen. (zit. n. Hartung1995)
James Michael (Jim) Eisenreich, geboren 1959,spielte in den Jahren von 1982–1984 und 1987–1998 trotz seines Tourette-Syndroms überaus erfolgreich als Profi in der ersten amerikanischen Baseball-Liga, der Major League Baseball. Im Anschluss an seine Sportlerkarriere gründete Eisenreich die Jim Eisenreich Foundation for Children with Tourette’s Syndrome, die sich für Kinder mit Tourette-Syndrom einsetzt. Nach Eisenreich war Michael Charles (Mike) Johnston (Jahrgang 1979) der zweite amerikanische Profi mit Tourette-Syndrom, der in der Major League Baseball spielte. Er stand von 2004–2006 bei den Pittsburgh Pirates unter Vertrag. Eric Bernotas (geboren 1971) wurde trotz des bei ihm bestehenden Tourette-Syndroms mehrfacher amerikanischer Meister im Skeleton, einer Rennschlittenart. Zudem errang er bei Weltmeisterschaften Silber- und Bronzemedaillen. Timothy Matthew (Tim) Howard (1979 in New Jersey geboren) ist erfolgreicher Fußballspieler. Er spielte von 2003–2006 als Torhüter in der 1. englischen Fußball-Liga bei Manchester United und später bei anderen englischen Vereinen wie dem FC Everton, bevor er 2016 wieder in die USA zurückkehrte. Nachdem er 2019 bereits sein Karriereende bekanntgegeben hatte, unterschrieb er 2020 erneut einen Vertrag bei einem amerikanischen Verein, bei dem er auch Miteigentümer und Sportdirektor ist.
Howard feierte zudem zahlreiche Erfolge mit der amerikanischen Fußball-Nationalmannschaft. Als er 2001 in der 1. amerikanischen Fußball-Liga bei den MetroStars spielte, wurde ihm für seine Arbeit mit Kindern mit Tourette-Syndrom der MLS (= Major League Soccer) Humanitarian of the Year Award verliehen, eine Auszeichnung, die seit 1999 einmal jährlich an Fußballspieler verliehen wird, die nicht nur erfolgreich in der 1. amerikanischen Liga (MLS) spielen, sondern sich auch durch soziales Engagement hervorgetan haben.
Auch in der 1. Bundesliga in Deutschland spielte mit Lars Ricken (Jahrgang 1976) über viele Jahre erfolgreich ein Fußballspieler, der sich während seiner aktiven Zeit auf seiner Homepage offen zu seinem Tourette-Syndrom bekannte. Ricken spielte von 1993–2007 als Profi bei Borussia Dortmund und stand sechzehn mal im Team der Deutschen Nationalmannschaft. Der Amerikaner Jeremy Stenberg (Jahrgang 1981) fährt seit seinem 16. Lebensjahr Freestyle-Motocrossrennen. Er gilt als einer der talentiertesten Fahrer dieser Sportart. Im Alter von 5 Jahren wurde bei ihm die Diagnose Tourette-Syndrom gestellt. Dies brachte ihm den bis heute gebrauchten Spitznamen Twitch (zu Deutsch: Zuckung) ein. Auch der Amerikaner Steve Wallace (geboren 1987) ist trotz eines Tourette-Syndroms professioneller Motorsportler. Der aus einer Rennfahrerfamilie stammende Wallace fährt seit 2005 erfolgreich StockCar Rennen (www.en.wikipedia.org/wiki/Steve_Wallace_(racing_driver)). Die Tatsache, dass sowohl Stenberg als auch Wallace als Rennfahrer erfolgreich sind, verdeutlicht, dass das Tourette-Syndrom keinesfalls die Fahrtauglichkeit beeinträchtigen muss.
Der Profigolfer und Golfcoach Robin Smiciklas (Jahrgang 1992) spricht erst seit Kurzem öffentlich über das bei ihm seit der Kindheit bestehende Tourette-Syndrom und möchte damit Vorbild für andere Profisportler mit Tourette-Syndrom sein. Anstoß war ein Treffen mit dem Schauspieler Florian David Fitz, der 2010 im Kinofilm Vincent will Meer einen Tourette-Betroffenen spielte. Bei dem amerikanischen Profiboxer Zack Rice (Jahrgang 1995) wurde bereits im Alter von zehn Jahren die Diagnose Tourette-Syndrom gestellt. Rice, der sich den Ringnamen „TicNTimebomb“ gab, sagt über sich: „Boxen hat mir körperlich geholfen – ich bin in der besten Form meines Lebens – und mental, denn wenn ich boxe, ist das so ziemlich die einzige Zeit, in der mich das Tourette-Syndrom nicht wirklich beeinträchtigt und ich kaum Symptome habe“ (www.altoonamirror.com/sports/local-sports/2021/08/professional-boxer-deals-daily-with-tourettes-syndrome/).
2.7 Tourette-Syndrom im Kino
Der im Jahre 1998 in Englisch produzierte Film The Tic Code von Polly Draper kam 2001 auch in die deutschen Kinos. In diesem in New York spielenden Film wird über die Freundschaft zweier Musiker mit Tourette-Syndrom berichtet, den erst 12 Jahre alten Pianisten Miles und den Jazzsaxophonisten Tyrone Pike. The Tic Code verdankt seine Authentizität sicherlich auch dem Umstand, dass der amerikanische Musiker Michael Wolff, bei dem selbst ein Tourette-Syndrom besteht, die Filmmusik schrieb, und dass die Produzentin und Hauptdarstellerin Polly Draper Wolffs Ehefrau ist. So überrascht es nicht, dass der Film autobiographische Erlebnisse aus dem Leben des Jazzpianisten Wolff beschreibt.
Auch der englische Film Dirty Filthy Love, der amerikanische Film Live for the Moment und der schwedische Film Outside Your Door erzählen jeweils die Lebensgeschichten junger Männer mit Tourette-Syndrom. Unter der Regie von Ralf Huettner startete im April 2010 in den deutschen Kinos der Film Vincent will Meer. Darin spielt der Drehbuchautor Florian David Fitz selbst den Tourette-kranken Protagonisten Vincent. Der Film erzählt, wie Vincent sein Leben trotz und mit Tourette-Syndrom zu meistern versucht. Im Jahr 2011 kam mit Ein Tick anders ein weiterer Film in die deutschen Kinos, der sich dem Thema Tourette-Syndrom widmet. Jasna Fritzi Bauer spielt darin die 17-jährige Eva, die wegen ihrer starken Tics die Schule abbricht und die Einsamkeit sucht. Der Dokumentarfilm Kopfleuchten aus dem Jahr 1998 beschäftigt sich mit verschiedenen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen, darunter dem Tourette-Syndrom. Der von der Kritik gelobte Film wurde 2000 mit dem Adolf-Grimme-Preis in der Kategorie Information und Kultur ausgezeichnet.
In dem deutschen Dokumentarfilm DOCH aus dem Jahr 2006 werden sechs Menschen mit Tourette-Syndrom porträtiert, darunter Christian Hempel. Hempel ist auch einer der Darsteller in dem Theaterstück Chinchilla Arschloch, was was. Im Jahr 2020 produzierte die sogenannte „Agentur für Überschüsse“ in Kooperation mit Rainville &Oswald den Dokumentarfilm TICS. Dargestellt wird die Reise von drei Tourette-Betroffenen an Orte in Europa, die als wichtige Zentren in Zusammenhang mit der Erforschung des Tourette-Syndroms gelten wie Köln, Hannover und Lübeck sowie die berühmte Klinik Salpêtrière in Paris, in der die Pioniere des Tourette-Syndroms Gilles de la Tourette und Charcot lehrten und arbeiteten. Komplettiert wird die Reisedurch einen Aufenthalt in Lappland, um die Reaktion der dortigen Bevölkerung in einem anderen sozialen Kontext zu untersuchen.
2.8 Tourette-Syndrom im Theater
Der von dem Tourette-Experte Alexander Münchau 2007 in Hamburg gegründete Verein N.E.MO. (Förderverein für die Erforschung der Neurophysiologie und Entwicklung des Motorischen Systems und die Erforschung und Behandlung von Bewegungsstörungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen e.V.) unterstützte die Produktion von Theaterprojekten zum Thema Tourette-Syndrom wie Neurovisions – eine gesamteuropäische Touretterie, SCHWICS und das Theater der Infamen Menschen. Im April 2019 wurde das Theaterstück Chinchilla Arschloch, was was uraufgeführt, in dem drei Tourette-Betroffene das Leben mit der Erkrankung darstellen. Mitwirkende sind neben dem Politiker Bijan Kaffenberger der Mediengestalter Christian Hempel sowie der Musiker und Altenpfleger Benjamin Jürgens. Das Stück wurde mittlerweile in zahlreichen Städten und Festivals aufgeführt. Dem Publikum bleibt es dabei überlassen zu entscheiden, welche der dargestellten Symptome tatsächlich als Tics im Rahmen des Tourette-Syndroms einzustufen sind. Das gleichnamige Hörspiel gewann 2019 den Deutschen Hörspielpreis der ARD.
2.9 Tourette- Syndrom in Fernsehserien
Neben Kinofilmen wurden in den letzten Jahren auch im TV Serien mit Personen mit Tourette-Syndrom ausgestrahlt. So lief im Jahre 2002 auf SAT1 die Krankenhausserie Die Anstalt, in der in manchen Folgen ein Patient mit Tourette-Syndrom im Mittelpunkt stand. Die US-amerikanische Schauspielerin Anne Heche spielte in der amerikanischen Serie Ally McBeal eine Frau mit Tourette-Syndrom. Seit 2019 ist die Zahl der tatsächlichen oder vermeintlichen Darstellungen Tourette-Betroffener sprunghaft angestiegen. Offenkundig hat es aktuell für viele Menscheneinen besonderen Reiz, Charaktere zu sehen, deren Verhaltensweisen wegen eines „Tourette-Syndroms“ keine Grenzen gesetzt sind.
Interessanterweise wurde das Thema Tourette-Syndrom auch bereits in der amerikanischen Animationsserie South Park aufgegriffen, die seit 1997 läuft und auch in Deutschland ausgestrahlt wurde. Zu der erstmals 2007 ausgestrahlten Staffel 11 in Folge 8 heißt es: „Cartman entdeckt die Vorzüge des Tourette-Syndroms, bei dem die Betroffenen unkontrolliert Fluchen“ (Text: MTV). Unter der Vorgabe, am Tourette-Syndrom zu leiden, beginnt er in der Schule alle möglichen Schimpfwörter auszurufen, die er sonst nie sagen würde. Mit diesem berauschenden Gefühl, alles sagen zu können, was er will, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, tritt er im Fernsehen auf und genießt sein neues Leben„ ohne Filter“.
2.10 Tourette-Syndrom in den sozialen Medien
In jüngster Zeit hat die Zahl der Videos in den sozialen Medien, die sich mit dem Tourette-Syndrom beschäftigen, sprunghaft zugenommen. Einer der wenigen gelungenen Beiträge wurde 2015 von der belgischen Tourette-Selbsthilfegruppe Iktic Tourettevereniging België – Jetique association Tourette anlässlich des Europäischen Tourette Syndrome Awareness Day am 7. Juni produziert (www.youtube.com/watch?v=KOoCEQW5Gvc).In dem sehr kurzen Video ist ein junger Tänzer mit Tourette-Syndrom zu sehen, wobei Tics und rhythmische Tanzbewegungen verschmelzen. Die überwiegende Mehrzahl der aktuell auf sozialen Medien wie YouTube, TikTok und Instagram zu findenden Videos ist dadurch gekennzeichnet, dass die Personen, die dort über das bei ihnen vermeintlich bestehende Tourette-Syndrom berichten, für jeden Experten eindeutig ersichtlich gar nicht am Tourette-Syndrom erkrankt sind oder zumindest die meisten der dargebotenen Symptome nicht dieser Erkrankung zuzuordnen sind. In Deutschland war es vermutlich Michelle, die als erste Person in der Sendung taff auf ProSieben in zahlreichen Staffeln über Ein Leben mit Tourette berichtet hat und dies später auf ihrem YouTube-Kanal Taff Tourette: Best of Michelle fortsetzt. Da die von Michelle dargebotenen bizarren Verhaltensweisen inklusive zahlloser obszöner Handlungen und Ausrufe, die allerdings nur sehr entfernt an das Tourette-Syndrom erinnern und zweifelsfrei als funktionell einzustufen sind, offenbar einem breiteren Publikum gefallen, wurde in der Sendung Akte auf SAT.1 die Sendung Tour de Tourette: Ein Urlaub mit Tourette-Erkrankten ausgestrahlt, in der Michelle neben zwei weiteren vermeintlich Tourette betroffenen Frauen mitwirkt.
Der aktuell bekannteste YouTube-Kanal in Deutschland zum Tourette-Syndrom ist sicherlich Gewitter im Kopf mit Jan Zimmermann. Der seit Februar 2019 in dieser Form bestehende Kanal hat (Stand 1/2023) 2,1 Millionen Abonnenten. Zusätzlich wird der Kanal von einem intensiven Merchandising-Konzept begleitet inklusive Fan-Shop, App, Buch und Theaterstück. Auch wenn die Diagnose des Tourette-Syndroms von Jan Zimmermann nicht grundsätzlich in Zweifel zu ziehen ist, so sind sich zahlreiche Experten einig, dass die vordergründig dargebotenen und stark vom situativen Kontext abhängigen Symptome mit Ausrufen zahlloser Wörter, Schimpfwörter und Beleidigungen, bizarren und zum Teil sozial unpassenden Handlungen und komplexen Bewegungen zweifelsfrei als funktionell einzustufen sind. Der Tourette-Experte Alexander Münchau geht sogar einen Schritt weiter und spricht nicht von einer funktionellen (dissoziativen) Störung, sondern von Simulation (Münchau 2019). Auch die Selbsthilfegruppen TGD e.V. und IVTS e.V. haben sich bereits in öffentlichen Stellungnahmen von dem YouTube-Kanal distanziert und darauf aufmerksam gemacht, dass die überwiegend unsachliche Darstellung und zum Teil falschen Beschreibungen des Tourette-Syndroms eine Diskriminierung der tatsächlich von der Erkrankung Betroffenen darstellt.
Fatal ist, dass nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit ein völliges falsches Bild von der Erkrankung entsteht und manche Tourette-Betroffene es daher vorziehen, ihre Diagnose in der Öffentlichkeit nun gar nicht mehr zu nennen, sondern dass sich – im Sinne einer Massenkrankheit – in Deutschland zunehmend Jugendliche und jungen Erwachsene in Tourette-Zentren mit zum Teil identischen Symptomen vorstellen. Allzu oft wird die korrekte Diagnose einer funktionellen Störung verpasst und unter der Fehldiagnose Tourette-Syndrom eine falsche Therapie eingeleitet. Bemerkenswerterweise ist aktuell eine ähnliche Entwicklung in zahlreichen anderen Ländern zu erkennen. So ist die englischsprachige 20-jährige Evie Meg unter ihrem Künstlernamen This Trippy Hippie mittlerweile eine YouTube- und TikTok-Berühmtheit mit Millionen von Followern. Auch sie behauptet, am Tourette-Syndrom zu leiden und teilt unzählige Videos über ihr Leben mit Tics, Anfällen und Krämpfen. Analog zur Situation in Deutschland im Zusammenhang mit Jan Zimmermann werden seither in Tourette-Zentren etwa in England und Kanada zahlreiche, überwiegend weibliche junge Patienten vorstellig, deren Symptome augenfällig denjenigen von Evie Meg ähneln. Es wurde spekuliert, ob bei diesen meist abrupt beginnenden Symptomen die COVID-19-Pandemie entscheidenden ursächlichen Anteil haben könnte (Pringsheim et al. 2021).
Auch in anderen Ländern finden sich ähnliche Beispiele für das massenhafte Auftreten „Touretteähnlicher“ Symptome bei überwiegend weiblichen Jugendlichen in Zusammenhang mit der Präsentation vermeintlich Tourette-Betroffener im Internet. So erfreuen sich in Dänemark die YouTube-Videos von Stine Sarah einer großen Fangemeinde. Seither stellen sich in den dortigen Tourette-Ambulanzen junge Erwachsene mit praktisch identischen Symptomen vor, oft ebenfalls mit abruptem Beginn. Wegen der immensen Popularität und des – auch finanziellen – Erfolges dieser YouTuber und TikToker wurden in jüngster Zeit zahlreiche ähnliche Kanäle gestartet, auf denen Personen beschreiben, dass bei ihnen „über Nacht“ ein Tourette-Syndrom aufgetreten sei und sie nun die Fangemeinde darüber informieren oder gar zum Lachen bringen möchten. [...]
2.11 Tourette-Syndrom aus der Sicht von Betroffenen
In den vergangenen Jahren wurden zahlreiche autobiographische Bücher von Betroffenen oder Angehörigen herausgegeben. Darin werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln Lebenswege von Personen mit Tourette-Syndrom beschrieben. Sowohl für Eltern eines betroffenen Kindes als auch für Betroffene selbst können solche Biographien eine wichtige Ergänzung zu anderen Informationsquellen darstellen und Mut für ein Leben mit Tourette-Syndrom geben. Ein aktueller Überblick findet sich auf den Internetseiten der Selbsthilfegruppen.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus "Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen im Kindes- und Erwachsenenalter" herausgegeben von Kirsten R. Müller-Vahl. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.