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Der Patient bestimmt was gute Medizin ist

Der Patient bestimmt was gute Medizin ist – Value Based Healthcare oder Medizin orientiert sich am Patientennutzen

Jens Deerberg-Wittram

In dem Kinderbuchklassiker „Ich mach’ dich gesund, sagte der Bär“ erzählt der Autor und Illustrator Janosch eine Geschichte von Krankheit und Freundschaft, die gut ausgeht. Der kleine Tiger fühlt sich eines Tages sehr schlapp, er kann nicht mehr gehen und er hat Schmerzen. Sein Freund, der kleine Bär, kümmert sich um ihn, pflegt ihn und kocht ihm seine Lieblingsspeise. „Ich mach’ dich gesund“, verspricht er dem kleinen Tiger. Doch alle Zuwendung des Bären hilft nichts, und so versuchen die anderen Freunde des kleinen Tigers ihr Glück mit allerlei Hausmitteln und gutem Rat. Auch sie versprechen ihn „gesund zu machen“. Als alle ihre Maßnahmen versagen, bringen sie den Tiger schließlich ins Waldkrankenhaus. Dort wird er körperlich untersucht, durchleuchtet und bekommt schließlich die Diagnose „Streifen verrutscht“ gestellt. Der Arzt Doktor Brausefrosch verspricht ihm, wie schon die Freunde des kleinen Tigers, „ich mach’ dich gesund“. Er behandelt ihn mit einer „kleinen Spritze“ und nach einem „blauen Traum“ ist alles wieder gut. Der Tiger kann wieder laufen, er ist froh und munter und nichts tut mehr weh (Janosch 1985).

Diese kleine Geschichte wird gern als Buch verschenkt, wenn Kinder Angst vor einem Krankenhausaufenthalt haben. Aber auch Erwachsene lesen sie vor, denn sie idealisiert unsere Vorstellungen von guter Medizin: Am Anfang steht ein Mensch (oder ein Tiger...) mit einer Einschränkung seiner funktionalen, kognitiven oder mentalen Lebensqualität. Die körperliche Untersuchung, Anamnese und Diagnostik findet die Ursachen für diese Einschränkungen heraus. Die Behandlung hat nur ein Ziel: Den Patienten wieder gesund zu machen damit idealerweise einen Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens wiederherzustellen. So definiert die WHO seit Jahrzehnten Gesundheit. Damit weiß aber der Patient allein, ob die Behandlung wirklich erfolgreich war. Nur er weiß, wie es ihm schließlich geht. Der Patient bestimmt, was gute Medizin ist.

1.1 Die Versorgungsrealität im deutschen Gesundheitswesen

Doch die Realität der medizinischen Versorgung sieht leider oft ganz anders aus. Viele Patienten kommen mit verschiedenen körperlichen und seelischen Beschwerden zum Arzt oder ins Krankenhaus. Dort hat man wenig Zeit für Gespräche, in denen die Alltagsbeschwerden, die Einschränkungen der Lebensqualität oder auch die besonderen Bedürfnisse des Patienten thematisiert werden. Stattdessen arbeitet man eine schnell gestellte Verdachtsdiagnose mit Hilfe technischer Untersuchungen, Labordiagnostik und Bildgebung möglichst zügig ab und führt dann im Idealfall eine leitliniengerechte Behandlung dieser Diagnose durch. Der Patient wird innerhalb des knappen Zeitfensters entlassen, das durch Fallpauschalenkataloge oder andere Abrechnungsinstrumente vorgegeben wird. Und er wird oft nicht wiedergesehen. Ob man ihn tatsächlich „gesund gemacht“ hat, weiß oft nur der Patient selbst. Denn wenn die Behandlung versagt hat, geht der Patient meist zum nächsten Arzt.

Unsere Versorgungsrealitäten sind nicht das Ergebnis von bösem Willen oder Nachlässigkeit der Menschen in den Gesundheitsberufen. Jeder angehende Mediziner, jede Pflegekraft möchte alle Patienten ganz gesund machen oder ihnen zumindest so viel Lebensqualität zurückgeben, wie es die Krankheit jeweils zulässt. Die mangelnde Patientenorientierung unserer Versorgung ist vielmehr Produkt eines Gesundheitssystems voller Fehlsteuerungen und falscher Anreize. Hinter dem Begriff Value-based Health Care (VBHC) verbirgt sich die systemische Antwort auf die vielfältigen Fehlsteuerungen in unserer Versorgungspraxis: Wie müssen wir Patientenversorgung organisieren, damit wir möglichst gute Gesundheitsergebnisse aus Sicht des Patienten regelmäßig erzielen? Und wie müssen die wirtschaftlichen Anreize gestaltet sein, damit wir uns diese Versorgung auch langfristig leisten können?

1.2 Das Konzept "Value" oder "Pateintennutzen"

Das Konzept Value-based Health Care stammt aus den USA, die mehr noch als Deutschland unter einem Gesundheitssystem mit erheblichen Qualitätsschwankungen, hohen Kosten und einem sehr eingeschränkten Zugang gerade für ärmere Bevölkerungsgruppen leiden. Die Ursache für diese Schwächen des US-Gesundheitssystems sahen Michael Porter und Elizabeth Teisberg von der Harvard Business School in der Organisation des Gesundheitswesens, der mangelnden Transparenz über Gesundheitsergebnisse und Kosten sowie in den Vergütungsmodellen, die zwar Leistungsmenge aber nicht Leistungsqualität honorieren (Porter und Teisberg 2006). Die Autoren plädieren für ein Gesundheitssystem, in dem die Versorgungsstrukturen, die Datenerhebung und die Vergütung stets die Steigerung des Patientennutzens (oder value) zum Ziel haben. Value definieren sie dabei als die Gesundheitsergebnisse, die für den Patienten mit seinem konkreten Krankheitsbild wichtig sind, im Verhältnis zu den Kosten, die zur Erzielung der Gesundheitsergebnisse aufgebracht werden müssen. Der Patientennutzen oder Value kann entsprechend gesteigert werden, indem man die Gesundheitsergebnisse verbessert oder indem man (bei ausreichend guten Gesundheitsergebnissen) die Kosten der Leistungserbringung senkt.

Organisation um medizinische Krankheitsbilder und über die gesamte Behandlungskette

In den meisten Industrieländern ist die medizinische Versorgung um die Bedürfnisse von Ärzten herum organisiert. Die Organisationseinheiten von Krankenhäusern werden nach medizinischen Fachrichtungen benannt (z.B. Klinik für Neurochirurgie), auch wenn die betroffenen Patienten mit diesen Begriffen meist wenig anfangen kann. Soll der Rückenschmerzpatient zur Klinik für Neurochirurgie, für Orthopädie, für Wirbelsäulenchirurgie, für Neurologie oder für Schmerzmedizin? Und was wird in den jeweiligen Kliniken dann mit ihm gemacht? Ist die Diagnostik und Behandlung überall dieselbe? Oder gibt es Unterschiede, die für den Patienten relevant sein können? Value-base Health Care schlägt deshalb vor, dass die Medizin um Krankheitsbilder bzw. häufige Patiententypen herum organisiert wird. Rückenschmerzen sollen z.B. in einem Rückenzentrum behandelt werden, in dem Ärzte aller relevanten Fachdisziplinen (Orthopäden, Neurologen, Neurochirurgen etc.) mit anderen Berufsgruppen (spezialisierte Pflege, Physiotherapeuten, Schmerztherapeuten, Psychologen etc.) räumlich eng zusammenarbeiten. Der Patient wird bei Aufnahme zunächst neutral begutachtet und dann dem richtigen Behandlungspfad zugewiesen. Und um eine Fragmentierung der Versorgung zu verhindern, sollen von der ersten ambulanten Diagnostik über die konservative Behandlung, eine etwaige Operation oder Intervention und die stationäre und ambulante Rehabilitation alle Behandlungsschritte eng miteinander verknüpft werden. Ein ähnlicher Versorgungsansatz findet sich heute beispielsweise in zertifizierten Krebszentren, in denen eine multidisziplinäre und integrierte Behandlung über die gesamte Versorgungskette gefordert wird (Rückher 2021). Die Martini-Klinik in Hamburg ist ein weltweit bekanntes Beispiel für ein Krankenhaus, das sich ganz der Versorgung eines Krankheitsbildes widmet und dafür „alles unter einem Dach“ anbietet (Huland 2018).

Messung von Gesundheitsergebnissen und Kosten

„Nur was gemessen wird, wird auch wirklich gemacht“, lautet eine alte Managementweisheit. Wenn das Ziel der medizinischen Versorgung darin besteht, Patienten gesund zu machen, dann müssen Gesundheitsergebnisse gemessen und auch transparent gemacht werden. Value-based Health Care beschäftigt sich deshalb sehr ausführlich mit dem Thema „Messung von Gesundheitsergebnissen“. Gesundheitsergebnisse oder Outcomes sind die Ergebnisse einer medizinischen Behandlung, die aus Sicht des Patienten wirklich wichtig sind. Sie unterscheiden sich deshalb von klinischen Daten, die für die Ärzte wichtig sind und meist auch nur von denen verstanden werden. Laborwerte, das Blutbild oder die Befunde der Pathologie und Bildgebung bleiben für die Erfolgsmessung und die Dokumentation der Behandlung natürlich wichtig. Sie sind für den Patienten aber meist unverständlich, und sie sind oft mit Gesundheitsergebnissen nicht gut korreliert. Denn ein perfekt eingestellter Blutzucker in der Klinik oder eine Röntgenaufnahme, in der die Knochen perfekt zusammengeschraubt sind, helfen dem Patienten wenig, wenn er im Alltag immer wieder Blutzuckerentgleisungen hat oder vor Schmerzen nicht aus dem Bett kommt.

Um den Gesundheitszustand vor, während und nach der Behandlung korrekt erfassen zu können, muss man die Patienten befragen. Dafür werden validierte und standardisierte Fragebögen verwendet, die den allgemeine und die krankheitsbildspezifische Lebensqualität abfragen. Dabei sind einige Domänen der Lebensqualität wie z.B. Schmerz, Depressivität oder Müdigkeit bei fast allen Krankheitsbildern relevant, während andere Aspekte wie die erektile Funktion oder die Kurzatmigkeit nur bei einigen wenigen Krankheitsbildern erfasst werden müssen. Um einen möglichst kompletten Überblick über den aktuellen Gesundheitsstatus vor, während und nach der Behandlung zu erhalten, sollen nach Porter drei Ebenen von Gesundheitsergebnissen erfasst werden: der Gesundheitsstatus, der erreicht oder erhalten wurde, die Komplikationen oder Verzögerungen während des Behandlungsprozesses und die Langfristfolgen der Krankheit bzw. der Behandlung (Porter 2010). Von zentraler Bedeutung sind die Gesundheitsergebnisse, die der Patient selbst berichtet. Diese sogenannten PROs (Patient-reported outcomes) können mit Hilfe von Computern, Smartphones und Tablets heute recht einfach erhoben werden (Steinbeck 2021). Um aussagekräftige Vergleichswerte heranziehen zu können, sollen international akzeptierte Standards bei der Messung von Gesundheitsergebnissen genutzt werden (Porter 2016).

Zusätzlich zu den Gesundheitsergebnissen müssen auch die Kosten der Behandlung eines Krankheitsbildes gemessen werden. Anders als in der traditionellen Kostenbetrachtung der meisten Krankenhäuser sind dabei aber die Kosten aller Ressourcen zu erfassen, die am gesamten Behandlungsprozess – von der ersten Diagnostik bis zur Entlassung aus der Rehabilitation – beteiligt sind (Kaplan 2011). Ressourcen sind neben dem beteiligten klinischen Personal auch Verbrauchsmaterialien, medizinische Geräte, Gebäude und die Verwaltung. Die Kenntnis der Kosten ist eine wichtige Voraussetzung dafür, um z.B. mit Krankenversicherungen innovative, an medizinischen Ergebnissen orientierte Vergütungsverträge verhandeln zu können.

Ergebnisorientierte Vergütung

Das gängige Vergütungsprinzip im deutschen Gesundheitssystem ist an der Menge und der Komplexität von medizinischen Leistungen orientiert. Wer die meisten und die kompliziertesten Eingriffe macht, verdient am meisten Geld. Deshalb werden in Deutschland mehr Herzkathetereingriffe, Wirbelsäulenoperationen oder Gelenkersatzeingriffe gemacht als in den allermeisten Ländern der Welt. Die konservative Behandlung oder gar das vorsichtige Abwarten bei einer Angina pectoris, bei Rückenschmerzen oder bei Arthrose bringen halt keinen Umsatz. Value-based Health Care sieht in den Vergütungssystemen, bei denen wirtschaftlicher Erfolg des Arztes bzw. des Krankenhauses von den Gesundheitsergebnissen der Patienten abgekoppelt sind, den größten Fehler überhaupt. Value-based Health Care schlägt deshalb vor, dass bei jeder Behandlung die Lebensqualität eines Patienten vor und nach der Behandlung gemessen werden soll. Die Vergütung der Leistung soll dann die Verbesserung der Lebensqualität honorieren. Das können entweder Zuschläge für eine besonders gute Gesundheitsverbesserung im Vergleich zu anderen sein, oder es kann auch die kontinuierliche Verbesserung einer Klinik über einen längeren Zeitraum hinweg belohnt werden – egal, ob sie auf unterdurchschnittlichem oder auf Spitzenniveau in den Qualitätswettbewerb einsteigt. Solche Vergütungsmodelle existieren bereits seit einigen Jahren z.B. in Skandinavien oder den Niederlanden. Sie haben gezeigt, dass wirtschaftliche Anreize Krankenhäusern helfen können ihre Patienten tatsächlich gesund zu machen (Katz 2020).

1.3 Value-based Health Care - Traum oder (bald) Wirklichkeit?

In den letzten Monaten haben wir viel über die Möglichkeiten und Grenzen unseres Gesundheitswesens gelernt. Das Coronavirus hat ein System an seine Grenzen geführt, das für die allermeisten von uns als stabil und sicher galt. Wir haben spätestens jetzt verstanden, dass unserer Ressourcen endlich sind und, dass Beatmungsgeräte leichter zu beschaffen sind als motiviertes und gut ausgebildetes Personal. Alle, die im Gesundheitswesen arbeiten, verbindet ein gemeinsamer Wunsch: Sie wollen ihre Patienten gesund machen. Sie wollen dafür belohnt werden, dass Sie lindern und heilen und nicht dafür, dass sie viel dokumentieren und abrechnen. Menschen in Gesundheitsberufen wollen „Klasse und nicht Masse“. Und sie wollen immer besser werden in dem, was sie tun. Ein Gesundheitswesen, das den Patientennutzen in den Mittelpunkt stellt und das medizinische Qualität belohnt, wird auch nach der Corona-Pandemie noch leidenschaftliche, begabte und leistungsbereite Menschen für sich begeistern. Es ist der alte Traum: „Ich mach’ dich gesund“, sagte der Bär...

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Toolbook Ärztin:Arzt" herausgegeben von Jana Luisa Aulenkamp und Dr. med. Thomas Hopfe. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier


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