Digitale Gesundheit
Digitale Gesundheit: Wie digitale Anwendungen die Medizin verändern werden – Oder nicht?
Sven Meister
Die Digitalisierung denkt in Nullen und Einsen und nunmehr soll auch Gesundheit digital funktionieren? Schon der Versuch einer binären Unterscheidung zwischen Gesundheit und Krankheit ist nicht trivial, sind die Übergänge doch fließend. Hinzu kommt ein Gesundheitssystem, welches maßgeblich durch Krankenkassen finanziert wird. Digitalisierung bzw. genauer gesprochen der digitalen Transformation wird das Potenzial zugesprochen in diesem System mit seinen systemischen Bedingungen die Effizienz und Effektivität der Versorgung (Produktion, Konstruktion und Organisation von Krankheit und Gesundheit) zu verbessern.
1. Der Transformationsprozess der Digitalisierung im Gesundheitswesen
Ob „Individualisierte Medizin“, „Digital Health“, „Mobile Health“, „E-Health“ oder auch „Telemedizin“, allen Ansätzen gemein ist der Wunsch, Ärzte und Patienten über räumliche und zeitliche Grenzen hinweg mithilfe von digitalen Medien zu verbinden (Meister et al. 2017). Die historische Entwicklung zeigt Abbildung 1.
Es wird schnell ersichtlich, dass technisch-digitale Entwicklungen im Gesundheitswesen bereits in den 80er-Jahren stattfanden. Heutzutage ist die Gesundheitsversorgung durchzogen von virtuellen Coachingprogrammen, Gesundheits-Apps und digitalen Gesundheitsanwendungen oder smarten Wearables. Digitale Lösungen sollen uns – Bürger – in der Gesunderhaltung unterstützen, Krankheiten vermeiden oder uns therapeutisch bzw. rehabilitativ begleiten (Meister 2018).
Das Ende der Fahnenstange ist jedoch noch lange nicht erreicht, hat die Entwicklung der digitalen Transformation in Deutschland noch nicht einmal den Status quo anderer Länder eingeholt. An dieser Stelle sei auf die detaillierten Übersichtsarbeiten zum Digital-Health-Index verwiesen, welcher Deutschland bei 17 zur Verfügung stehenden Plätzen auf Platz 16 wertete (Bertelsmann Stiftung 2018).
Es sollte jedoch angeführt werden, dass seitdem verschiedenste Gesetze wie das Digitale-Versorgung-Gesetz (2019), das Patientendaten-Schutz-Gesetz (2020), das Krankenhauszukunftsgesetz (2020) und zuletzt das Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz versuchen, neue Grundlagen zu schaffen. Diese forcieren den Einsatz verschiedener Technologien als Treiber der digitalen Transformation.
2. Digitale Transformation: Technologie als Treiber oder Getriebene durch Technologie
Eine der am meisten postulierten Plattitüden dieser Zeit lautet: Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Unklar bleibt jedoch, ob Technologie den Menschen treibt oder der Mensch die Technologie. Bezogen auf den Transformationsprozess im Gesundheitswesen wird die Wahrnehmung eher für die Getriebenheit des Menschen sprechen. Dies zeigt sich auch anhand von Untersuchungen zur Digitalisierungsbereitschaft der Mediziner, denn Mehrwerte sind zumeist nicht erkennbar (Burmann et al. 2021). Welche „Trend-Technologie“ in welcher Form Einsatz findet, ist nachfolgend beschrieben.
2.1 Künstliche Intelligenz
Daten, sie sind für viele das „neue Öl“. Ein hinkender Vergleich, gehört Öl nunmehr nicht mehr zu den zukunftsweisenden Rohstoffen, auch aufgrund seiner Endlichkeit. Daten wiederum entstehen in faktisch unendlicher Menge, denn schon heute werden hiervon über ein Zettabyte produziert. Des Weiteren haben Daten im Gegensatz zu anderen Gütern den Vorteil, dass sie sich faktisch nicht abnutzen. Sie können beliebig häufig genutzt und mit anderen Daten kombiniert werden. Es ist unumstritten, dass gerade in medizinisch komplexen Situationen die Verarbeitung von Daten – hier wird heute gern von Künstlicher Intelligenz gesprochen – die Versorgenden unterstützen kann. Ob eine P4-Medizin (präventiv, prädiktiv, partizipativ, personalisiert) oder eine 4D-Gesundheitsforschung (Drugs, Diagnostics, Devices und Data), Daten und digitale Technologien spielen hierbei die entscheidende Behandlungsgrundlage. Die Verknüpfung von Daten und Algorithmen sowie die Sicherstellung von Qualitätsvorgaben (klinische Validierung) schafft „Digitale Biomarker“ als Entscheidungsgrundlage für die Gesundheitsversorgung (Meister et al. 2020b).
2.2 Mobile Applikationen
Mobile Apps etablierten das Denken einer vollkommen neuen Klasse von Anwendungen: Klein, smart, einfach bedienbar und Informationen immer auf den Punkt gebracht. Die weite Verbreitung mobiler Technologien in Form von Smartphones und Apps wird im Gesundheitswesen auch „Mobile Health“ (mHealth) genannt. Die World Health Organization definiert mHealth (World Health Organization 2011; European Commission 2014) als medizinische und gesundheitsfördernde Anwendungen, unterstützt durch mobile Endgeräte z.B. Smartphones, drahtlose Endgeräte bzw. Patientenüberwachungssysteme. Neuerdings wurde auf diese Entwicklung reagiert, indem das Konzept der Digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) eingeführt wurde, sowie zukünftig auch Digitale Pflegeanwendungen (DiPA) unterstützen könnten. Auch wenn DiGA und DiPA nicht zwingend die Mobilität der Anwendung voraussetzen, so zeigt sich ein klarer Trend, wie schon durch die „Quantified-Self-Bewegung“ vor einem Jahrzehnt postuliert wurde.
2.3 Augmented Reality und Virtual Reality
Die Möglichkeit des Erlebens und Interagierens wird durch neue Technologien zur Visualisierung maßgeblich verändert. Digitale Objekte wie zum Beispiel Daten sind ein sog. „nicht tangibles Gut“ – es kann also u.a. nicht angefasst werden. In den letzten Jahren wurde deshalb eine Vielzahl von Innovationen zur Erweiterung der Realität hervorgebracht – man spricht von Virtual Reality (VR), Augmented Reality (AR) und Mixed Reality (MR).
Im Bereich AR zeigte Pokémon Go, dass digitale Spiele mit spannender Technologie ein großer Motivator vor allem auch zur physischen Aktivierung sind. Diese Aktivierung macht eben solche Technologien für die Gesundheitsversorgung interessant, sowohl für die Versorgung wie aber auch für die Ausbildung. Es bestehen Möglichkeiten des Setzens kognitiver Anreize zum Beispiel bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Krankheitsbilder der Demenz. Ebenso können Konzentrationsstörungen oder Angstzustände adressiert werden. Durch die Virtualisierung ganzer Welten besteht ebenso die Möglichkeit, Lehr-/Lernumgebungen umzusetzen.
2.4 Sprachassistenz
Während klassische Web-Interfaces, mobile Applikationen und Augmented sowie Virtual Reality auf die Visualisierung von Daten und Informationen setzen, gehen sog. Sprachassistenzsysteme einen anderen Weg. Kommerzielle Sprachassistenzsysteme wie Amazon Echo und Google Home bieten eine zugängliche Lösung, Interaktionen auf eine neue Weise zu gestalten. Aus der wissenschaftlichen Sicht der Mensch-Technik-Interaktion spricht man hier von sog. „Voice User Interfaces“ (VUI). Im Fokus stehen hierbei Sprachbefehle, über welche mit dem System interagiert werden kann. Sprache ist ein für den Menschen natürliches Kommunikationsmittel und eine Gewohnheit. Sie ist ortsunabhängig und bedarf keiner visuellen sowie motorischen Fähigkeiten und kann somit Nutzern das Gefühl von Kontrolle und Selbstbestimmung zurückgeben.
3. Der „Faktor Mensch“ im Veränderungsprozess der digitalen Transformation
Als Mensch können wir im Zusammenspiel mit dem Gesundheitswesen verschiedene Rollen einnehmen: Wir sind selbst Patienten, als Versorgende betreuen wir diese oder als Inhaber bzw. Geschäftsführer verantworten wir Strategien sowie das operative Geschäft. In einer sicher stärker digitalisierenden Welt zeichnen sich „Konkurrenten“ ab: Künstliche Intelligenz übertrifft die Entscheidungsprozesse des Menschen und robotische Systeme verrichten unermüdlich physische Arbeiten. Die breite Darstellung in den Medien ist auf Konkurrenz ausgelegt, ohne den Schritt kollaborativer, kooperativer oder co-existenzieller wagen zu wollen, wie schon Onnasch und Kollegen es vorschlugen (Onnasch et al. 2019).
Eigene Erhebungen zeigen die hohe Diversität im Umgang mit Mitarbeitenden im Rahmen der Digitalisierung sowie der Bereitschaft zur Nutzung von Digitalisierung. Gemeinsam mit der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen wurde eine Erhebung (n = 184/354) bei den Krankenhaus-Geschäftsführungen zum aktuellen digitalen Entwicklungsstand, den Herausforderungen und Hemmnissen in Bezug auf die Weiterentwicklung hinsichtlich Digitalisierung und das Stimmungsbild zum damit einhergehenden Wandel durchgeführt (Fischer et al. 2019). Es zeigte sich, dass Geschäftsführung, IT, Medizintechnik oder ein Steuerungsgremium maßgebliche Treiber für Digitalisierungsinitiativen waren, wobei die finale Entscheidung in der Verantwortung der Geschäftsführung lag. Die Beteiligung von Mitarbeitenden am digital-transformatorischen Prozess erfolgt zumeist lediglich über Schulungen.
In Kooperation mit dem „Bündnis Junge Ärzte“ erfolgte darüber hinaus eine Erhebung der Digitalisierungsbereitschaft der Mediziner (Burmann et al. 2021), insbesondere mit Blick auf das Alter. Die 1.274 Teilnehmenden zeigten eine hohe Affinität zum Thema der Digitalisierung, gaben jedoch an, dass durch die derzeitigen digitalen Strukturen keine Zeitersparnisse bemerkbar sind. Die größten Chancen wurden im besseren Zugang sowie der Strukturierung von Wissen gesehen. Die Gruppe der bis 45-Jährigen nahm im Vergleich zu der Gruppe der über 45-Jährigen höhere Potenziale an. Jedoch konnte auch gezeigt werden, dass die Auseinandersetzung mit Änderungen der Gesetzgebung (DVG, PDSG etc.) bei der Gruppe der über 45-Jährigen höher gewesen ist. Auch wenn dies nicht untersucht wurde, mag man die Hypothese aufstellen wollen, dass die stärkere Auseinandersetzung zu einer kritischeren Reflexion der Potenziale führen könnte.
Der Faktor Mensch und die digitale Transformation befinden sich somit in einem ambivalenten Verhältnis. Stärken und Schwächen zeigen sich nicht in gleichem Umfang bei den Akteuren des Gesundheitswesens, da die Mehrwerte der Digitalisierung noch nicht in vollem Umfang spürbar sind.
Es zeigt sich, dass sich Deutschland auch weiterhin in einer frühen Phase der digitalen Transformation des Gesundheitswesens befindet. Gerade im europäischen Vergleich unterliegt Deutschland Ländern wie Spanien, Estland oder Dänemark. Der Faktor Mensch fremdelt zwar gesellschaftlich nicht mit Digitalisierung, jedoch ist die Wahrnehmung der digitalen Transformation im Gesundheitswesen eher verhalten. Andererseits erscheint es evident, dass durch den stärker werdenden Einsatz digitaler Gesundheitslösungen auch verstärkt gesundheitsbezogene Daten entstehen. Digitale Biomarker haben das Potenzial, Versorgung durch validierte Entscheidungen zu unterstützen.
Die oben geschilderte Kontroverse gilt es aufzulösen, Veränderungen zu ermöglichen und den Faktor Mensch in den Fokus zu rücken. Dies bedeutet:
- Partizipation fördern: Dänemark hat mithilfe seiner Umsetzung des Zielbilds zur digital unterstützen Gesundheitsversorgung gezeigt, dass eine Beteiligung des Menschen an Entscheidungsprozessen zwingend notwendig ist. Menschen sind hierbei nicht nur Patienten, sondern ebenso die im Gesundheitswesen Tätigen. Digitalisierung ermöglich auch im Gesundheitswesen das Denken von Konzepten des „New Work“ und somit einer höheren Flexibilisierung mit einhergehender Steigerung der Lebensqualität. Telemedizin oder Telekonsil entkoppeln den Ort der Leistungserbringung von Patienten
- Kompetenz ausbauen: Leistungserbringer wie auch Patienten müssen in der Lage sein, Chancen wie auch Risiken zu verstehen sowie sich selbstbestimmt in einem digital unterstützten Gesundheitssystem bewegen zu können. Dieser Aufbau darf sich nicht nur auf die Erstausbildung beziehen, sondern muss ebenso die Fort- und Weiterbildung mit inkludieren. Übergreifend abgestimmte Curricula, ob für die Berufsausbildung oder das Studium, bestehen nicht. Ebenso gibt es kein gemeinsames Verständnis, was digitale Kompetenzen auszeichnet
- Veränderungen eine Struktur gegeben: Das Veränderungsmanagement (Change-Management) erlaubt es uns, gezielt auf die Veränderung von Organisationen, Prozessen und anderen Einheiten zu reagieren. So gibt das Krankenhauszukunftsgesetz lediglich einen finanziellen Rahmen zur Beschaffung technisch-digitaler Innovationen. Es muss jedoch bedacht werden, dass deren Einführung strategisch geplant werden muss. Dies gilt auch für das gesamte Gesundheitswesen, weshalb kritisiert werden muss, dass es keine explizite Digitalstrategie gibt.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Die digitale Intensivstation" herausgegeben von Univ.-Prof. Dr. med. Gernot Marx und Prof. Dr. Sven Meister. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.