3 Fragen an...
Dr. Thomas Müller ist Junior Partner bei McKinsey in Zürich. Der promovierte Mathematiker mit Schwerpunkt Computational Mathematics hat sich als berufliches Ziel gesetzt, die vielfältigen Möglichkeiten von digitalen Technologien für Patient:innen und Gesundheitspersonal nutzbar zu machen. Mit Life-Science- und E-Health-Unternehmen, Krankenversicherungen sowie öffentlichen Einrichtungen und Non-Profit-Organisationen arbeitet er rund um das Thema Digital Health. Thomas Müller ist zudem Co-Leiter des globalen „Health Tech Network“ von McKinsey.
1. Der E-Health Monitor 2022 gibt einen Überblick über den Stand der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems. Welche Entwicklungen sind dieses Jahr besonders hervorzuheben?
Über die vergangenen 12 Monaten erkennen wir an einigen Stellen einen Wachstumstrend: Zum Beispiel stehen den Bürger:innen in Deutschland in Summe mehr digitale Gesundheits-Services zur Verfügung als imletzten Jahr. Dazu gehören Gesundheitsportale oder Apps zur Prävention, Diagnose und Therapie von Krankheiten und Online-Apotheken-Services. Der Anteilder Nutzer:innen von Online-Gesundheitskursen – mittlerweile eines der beliebtestendigitalen Angebote – hat sich im vergangenen Jahr auf 31% nahezu verdoppelt. Die Anzahl der abgehaltenen Videosprechstunden hat sich von 2020 auf 2021 umweitere 29% erhöht, auf 3,5 Millionen. Auf der Seite der Leistungserbringerwaren im zweiten Quartal 2022 gut 96% der Hausarztpraxen und 99% der Apotheken an die Telematikinfrastruktur (TI) angeschlossen. Sie bildet die technologische Basis und soll das Zusammenwirken von Patient:innen, Arztpraxen, Krankenhäusern, Apotheken und Krankenkassen vereinfachen und verbessern. Der Anteil der digitalen Kommunikation zwischen Artzpraxen und Krankenhäusern hat sich verdreifacht, von 4% auf 12%.
Wir müssen aber auch klar festhalten: Das Wachstum findet auf niedrigem Niveau statt und das Potenzial ist bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Nehmen wir etwa den Digitalisierungsstand von deutschen Krankenhäusern: Im DigitalRadar wurde ihre digitaler Reife im Durchschnitt mit lediglich 33 von 100 Punkten bewertet. Außerdem haben Ärzt:innennoch Bedenken in Bezug auf die Digitalisierung: Zwar zeigt sich laut Umfrage der KBV jede zweite Arztpraxis offen für digitale Innovationen. Doch hinterfragen auch zwei von drei niedergelassenen Ärzt:innen (65%) das Kosten-Nutzenverhältnis der Digitalisierung. Wenn etwa die Hälfte der Arztpraxen, die an die TI angeschlossen sind, wöchentlich technische Fehler beklagt, ist das vielleicht auch nicht ganz verwunderlich. Vor allen, wenn der Wert im Vorjahr noch bei 36% lag. Eine aus meiner Sicht sehr wichtige Beobachtung ist die Befürchtung von jede:r zweiten Ärzt:in, dass die Digitalisierung die Beziehung zu den Patient:innen verschlechtert. Insgesamt attestieren nur 14% der befragten Ärzt:innen digitalen Services das Potenzial, den Therapieerfolg zu verbessern. Hier herrscht nicht nur technologisch, sondern auch kommunikativ Nachbesserungsbedarf.
2. Der Fokus des diesjährigen E-Health Monitor liegt auf der elektronischen Patientenakte (ePA). In Deutschland wird sie bisher nur selten genutzt – wie steht es um die ePA und was können wir hier von anderen Ländern lernen?
Die ePA ist das zentrale Element einer vernetzten Gesundheitsversorgung. Sie kann die Behandlung von Patient:innen durch eine verbesserte, schnellere und idealerweise vollständige Bereitstellung von relevanten Patienteninformationen unterstützen. In ihrer Rolle als Enabler-Technologie macht sie mit rund 7 Mrd. EUR den Bärenanteil des 42 Mrd. EUR großen Digitalisierungspotenzials im Gesundheitswesen aus.
Seit Januar 2021 bieten alle GKVen ihren Versicherten eine ePA an. Die Versicherten besitzen dabei die „Datenhoheit“ über ihre ePA, können Befunde, Therapiemaßnahmen oder Behandlungsberichte hochladen und Leistungserbringer:innen Zugriffsberechtigungen erteilen. Bislang ist die Nutzung für Versicherte freiwillig (Opt-in). Aktuell nutzen weniger als 1% der gesetzlich Versicherten die ePA. Um die Nutzung zu skalieren, hat die Gesundheitsministerkonferenz im Juni 2022 beschlossen, ein Opt-out Verfahren zu prüfen. Die Gesellschafterversammlung der gematik hat Anfang November dann die Opt-out-ePA beschlossen. Versicherten wird so standardmäßig eine ePA eingerichtet. Nur wer aktiv widerspricht, bekommt keine digitale Akte. In Ländern wie Australien oder Dänemark hat sich die Opt-out-Lösung in Kombination mit nutzerzentrierter Ausgestaltung in der Alltagspraxis längst bewährt. Wichtig ist im nächsten Schritt, die richtigen Anreize zu setzen, damit die ePA im Alltag auch wirklich genutzt wird. Entscheidend ist für uns, dass der Gebrauch so einfach und intuitiv wie möglich gestaltet werden muss. Schweden ist hier ein gutes Beispiel, da sie Nutzerfreundlichkeit und einfache Handhabung bei der Entwicklung stets im Blick hatten.
Durch die höhere Nutzung erhöht sich wiederum, in einer Art Netzwerkeffekt, der Gesamtnutzen des „ePA-Systems“ und damit die Anzahl der Nutzenden und deren Nutzung. Entscheidend wird sein, ob es gelingt, die in der ePA gespeicherten Daten möglichst nutzbar zu machen – für Patient:innen und Leistungserbringer:innen, aber auch darüber hinaus. So werden beispielsweise inIsrael alle Daten in anonymisierter Form wissenschaftlichen Institutionen und medizinischen Einrichtungen zugänglich gemacht. Die Schnittstellen zu Israels ePA sind offen. So kann ein starkes Innovationsumfeld geschehen, dass die ePA und deren Nutzung kontinuierlich weiterentwickelt.
3. Hat sich der seit letztem Jahr abzeichnende Erfolg der Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGa) auch in diesem Jahr fortgesetzt?
Die Anzahl der von den GKVen erstattungsfähigen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) stieg im DiGA-Verzeichnis bis Anfang November 2022 auf 33 DiGA für 10 Therapiegebiete. Im Gros ist die Resonanz der DiGA-Nutzer:innen bisher auch positiv: 63% sehen einen positiven Versorgungseffekt und 86% würden bei einer erneuten Erkrankung wieder eine DiGA nutzen.
Allerdings befindet sich die Skalierung der DiGA noch am Anfang: Im vergangenen Jahr war nur eine von 9.000 Verordnungen eine DiGa – 4% der Ärztinnen haben sie verschrieben. Aber wir beobachten einen Auswärtstrend: Konservativ gerechnet werden bis Ende des Jahres circa 125 000 DiGA-Verordnungen verschrieben. Das sind knapp dreimal so viele im Vorjahr. Wir erkennen also eine gewisse Dynamik und Nachfrage der Patient:innen.
Der E-Health Monitor 2022 (Hrsg.: McKinsey & Company, Dr. Thomas Müller, Prikka Padmanabhan, Laura Richter und Dr. Tobias Silberzahn) zeigt, wie es um die Digitalisierung unseres Gesundheitswesens in Deutschland steht.