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Ethische Aspekte in der Notaufnahme

Jochen Dutzmann

Das ärztliche Personal Zentraler Notaufnahmen in Deutschland generiert sich nicht selten aus ärztlichem Nachwuchs, der im Rahmen der Weiterbildungszeit in der Inneren Medizin oder Chirurgie die geforderten sechs „Pflichtmonate“ absolviert sowie ein bis zwei supervidierenden Fach- oder Oberärzt:innen. Während die Personalstärke in den letzten Jahren weitestgehend unverändert blieb, beschreibt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen in seinem 2018 veröffentlichten Gutachten eine stetige und deutliche Zunahme der Patientenkontakte in Notaufnahmen (1). Die daraus resultierende spürbare Arbeitsverdichtung einerseits sowie die defizitäre medizinethische und -juristische Aus- und Weiterbildung junger Ärzt:innen sowie deren häufig geringe Berufs- und Lebenserfahrung andererseits bilden die Rahmenbedingungen für Entscheidungen enormer Tragweite. Neben der Qualität der Entscheidungen wird hierdurch in besonderem Maße die psychische Belastung von Weiterbildungsassistenten beeinflusst („moral distress“), was nicht selten Ursache für einen Berufswechsel darstellt (2). Zur ethischen Ad-hoc-Entscheidungsfindung in der Notaufnahme hat die Sektion Ethik der DIVI in diesem Jahr eine praxisnahe Orientierungshilfe veröffentlicht (3).

1. Juristische Aspekte

Zwar mag nicht jeder/jede Patient:in in der Notaufnahme auch Notfallpatient:in sein, dennoch gelten selbst bei akuter Zeitnot die allgemeinen arztrechtlichen Grundsätze der sowohl ärztlichen (Indikation) als auch patientenseitigen Legitimation (Einverständnis) diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. In tatsächlichen Notfallsituationen gelten diese allerdings unter teils modifizierten Anforderungen: In akuter Entscheidungsnot kann und darf nicht zugewartet werden, bis letzte Klarheit über den Patientenwillen besteht. Vielmehr verlieren die auf begrenzter Informationsbasis durchgeführten Behandlungen auch dann ihre Berechtigung nicht, wenn sich im Nachhinein – auf breiterer Informations- und Faktenlage – ein abweichender Patientenwillen offenbaren sollte. 

Dennoch muss selbst in solcher Situation kritisch geprüft werden, ob in der konkreten Entscheidungssituation ein unbedingter Überlebenswille („in dubio pro vita“) unterstellt werden darf oder ob triftige gegenteilige Anhaltspunkte vorliegen (5). Der aktuell geäußerte oder mutmaßliche Wille des/der konkreten Patient:in ist gegenüber allgemeinen Mutmaßungen stets vorrangig (6).

Die Verantwortung für die Beachtung von Indikation, (mutmaßlichem) Patientenwillen und fachgerechter Versorgung sowie letztendlich die Organisationsverantwortung für eine sachgerechte Auswahl, Instruktion und Beaufsichtigung des nachgeordneten ärztlichen Personals trägt die ärztliche Leitungsebene der Notaufnahme. Selbst sogenannte „patientenferne Entscheider:innen“ sind, selbst wenn ihnen allein kaufmännische Angelegenheiten obliegen, in Bezug auf die Festlegung von personellen und technischen Rahmenbedingungen im Schadensfall keineswegs von rechtlicher – selbst strafrechtlicher – Verantwortung ausgenommen (7)!

2. Entscheidungsfindung

2.1 Ethical team time out (STOP)

Analog zum team time out in der operativen Versorgung von Patient:innen empfiehlt die Orientierungshilfe der Sektion Ethik der DIVI auch in der Notfallmedizin ein gemeinsames Innehalten im Sinne eines ethical team time outs, ähnlich wie es auch im Crisis Resource Management (CRM) das „10-Sekunden-für-10-Minuten-Prinzip“ – kurz: „10-für-10“ – macht, in dem eine bewusste kurze gemeinsame Pause der Status quo und die nächsten Planungsschritte des Teams besprochen werden sollen (8). Dieses Innehalten soll die Aufmerksamkeit des Teams auf die Einschätzung und Bewertung des Therapieziels unter Einbezug des Patientenwillens lenken.

Analog zum Recht auf das Einfordern eines „10-für-10“, das im CRM jedem Teammitglied zusteht, haben die Autor:innen der Orientierungshilfe das Akronym STOP formuliert, bei dem laut (Say it loud!) die Frage nach dem Therapieziel (Therapeutic goal) und dem Patientenwillen (Order of the patient) gestellt wird und jedes Teammitglied dazu aufgefordert ist, sich einzubringen (Participate), um eine multiprofessionelle Teamentscheidung herbeizuführen (9; 3).

Ethical team time out (STOP)

  • S ay it out loud!
  • T herapeutic goal
  • O rder of the patient
  • P articipate

Eine Teamkultur, die „das Wohl der Patient:in als ihre primäre berufliche Verantwortung“ (code of ethics) begreift und das Ritual eines ethical team time outs standardisiert anwendet, verbessert sowohl die partizipative Entscheidungsfindung als auch die Transparenz der getroffenen Entscheidungen und stärkt somit die Patientenautonomie. 

2.2 Evaluation der Teamentscheidung

Zwei Säulen bilden die Voraussetzung medizinischen Handelns: Behandlungs-indikation und Patientenwille. Dabei ist gerade in der häufig von algorithmisch aufgebauten Handlungsempfehlungen geprägten Notfallmedizin zu beachten, dass die Indikationsstellung nicht auf das medizinisch Machbare reduziert werden darf, sondern stets überlegt werden muss, ob die einzelne Maßnahme im individuellen Fall angemessen ist (10; 11). Hierzu ist eine offene Diskussion mit dem/der Patient:in über alle sinnvollen Behandlungsoptionen einschließlich der sich daraus ergebenden Prognosen sowie auch die Möglichkeit palliativmedizinischer Therapieoptionen nötig.

Bei einwilligungsfähigen Patient:innen gilt stets der aktuell erklärte Wille, während bei nicht einwilligungsfähigen Patient:innen eine eventuell vorhandene Patientenverfügung (vorausverfügter Wille) beachtet werden muss, nachdem die Gültigkeit für die entsprechende Situation durch den/die Gesundheitsbevollmächtigte:n oder der/die Betreuer:in, subsidiär in unaufschiebbaren Notfällen durch das Behandlungsteam geprüft worden ist. Sollte keine (wirksame) Patientenverfügung vorliegen, ist der mutmaßliche Wille des/der Patient:in maßgeblich, den der/die juristische Vertreter:in aus früheren Äußerungen und Wertvorstellungen (ethische und religiöse Überzeugungen) ermittelt. Je dringlicher eine Maßnahme und je bedeutsamer mögliche Schäden bei Unter-lassen der Maßnahme, desto weniger ist dem/der Ärzt:in eine umfangreiche „Ermittlungspflicht“, z.B. durch Angehörigenbefragung, aufzuerlegen.

Die Orientierungshilfe der Sektion Ethik der DIVI (3) stellt mögliche Behandlungsentscheidungen als Ampel dar. Die Ampel steht auf „Grün“ (mittelgrau), wenn Maßnahmen medizinisch indiziert und von der/dem Patient:in gewollt sind. Sind Maßnahme nicht indiziert oder nicht von dem/der Patient:in gewollt, steht die Ampel auf Rot (dunkelgrau). Schwierig ist die Situation, wenn Maßnahmen nur fraglich sinnvoll und/oder von dem/der Patient:in nur fraglich gewollt sind. In diesen Fällen ist es hilfreich, weitere Expert:innenim Rahmen einer Ad-hoc-Ethikberatung hinzuzuziehen (s. Abb. 1).

Abb. 1 Behandlungsentscheidungen in Form einer Ampel (3, mit freundlicher Genehmigung)

Das Expertenteam für die Ad-hoc-Ethikberatung sollte anhand der lokalen Strukturen und in Abhängigkeit von der Versorgungsstufe und Größe des Krankenhauses etabliert werden. Eine solche Beratung sollte stets nach dem Mehr-Augen-Prinzip, d.h. unter Beteiligung akutmedizinisch erfahrener Pflegekräfte und Ärzt:innen, idealerweise mit der Zusatzbezeichnung „Intensivmedizin“ oder „Klinische Akut- und Notfallmedizin“ sowie möglicherweise Klinikseelsorgern interdisziplinär und interprofessionell erfolgen. Mitglieder des Teams sollten medizinethisch geschult sein und regelmäßig (das Orientierungspapier empfiehlt mindestens einmal jährlich) an medizinethischen Fortbildungen teilnehmen. Eine Weiterqualifizierung von in Notaufnahmen tätiger Ärzt:innen kann mitunter auf Basis des durch die Bundesärztekammer verabschiedeten „Curriculums Medizinethik“ mittelfristig erworben und langfristig vorgehalten werden (4). Die Entscheidungsgrundlagen sollen in der Krankenakte klar und nachvollziehbar dokumentiert werden (12).

2.3 Unsicherheiten und Lücken

Insbesondere in Situationen zeitlicher und informativer Knappheit, wie sie in Notaufnahmen regelhaft vorkommen, besteht mitunter die Notwendigkeit, verbliebene „Lücken“ in der Bewertung der beiden Säulen „Indikation“ und „Patientenwille“ zu schließen. Die in der Orientierungshilfe der Sektion Ethik der DIVI formulierte Merkhilfe soll dabei niederschwellig unterstützen („Mind the GAPs!“; s. Abb. 2):

Indikation (GAP 1)

  • Bewertung der Symptome bzw. der Diagnose(n) („Grund benennen“)
  • Abwägen von Nutzen und Risiken der Therapieoption(en) unter Beachtung der Akuität,
  • Abschätzen der Prognose aller Behandlungsoptionen einschließlich möglicher palliativer Maßnahmen.

Abb. 2 Die Akronyme GAP können im Sinne eines „Mind the GAPs“ helfen, Lücken im Rahmen der Bewertung von medizinischer Indikation und Patientenwillen zur identifizieren und zu schließen (3, mit freundlicher Genehmigung).

Patientenwille (GAP 2)

  • Ermittlung des Patientenwillens nach sorgfältiger Feststellung der Einwilligungsfähigkeit durch ein strukturiertes persönliches Gespräch, soweit die Patient:in trotz des akuten Zustands noch einsichts- und urteilsfähig ist.
  • Bei einwilligungsunfähigen Patient:innen Einholung von Auskünften über den Patientenwillen bei der primär zuständigen Betreuer:in/Bevollmächtigen, soweit erreichbar, hilfsweise eigene Einschätzung des mutmaßlichen Patientenwillens, ggf. auch durch Befragung der Angehörigen und sonst nahestehender Personen.
  • Obligate Befolgung einer Patientenverfügung, wenn sie auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft.

Take home messages:

Trotz der besonderen Umstände in der klinischen Akut- und Notfallmedizin, die mitunter von Zeitdruck und hoher Arbeitsbelastung geprägt ist, gilt, dass jede Maßnahme sowohl einer ärztlichen als auch einer patientenseitigen Legitimation bedarf. Die organisatorische Verantwortung für die Beachtung von Indikation und (mutmaßlichem) Patientenwillen unterliegt der ärztlichen Leitungsebene der Notaufnahme. Die Sektion Ethik der DIVI hat eine Orientierungshilfe erarbeitet, die ein „ethical team time out“ empfiehlt, das zur Bewusstmachung von medizinischer Indikation und Patientenwillen dient, die unter Berücksichtigung möglicher Lücken (gaps) ermittelt werden können. Wenn eine Maßnahme nur fraglich sinnvoll und/oder fraglich von der/dem Patient:in gewollt ist, sollte eine Ad-hoc-Ethikberatung durchgeführt werden.

Dieser Beitrag ist ein gekürzter Auszug aus dem Buch "DIVI Jahrbuch 2022/23" herausgegeben von Stefan Kluge, Matthias Heringlake, Gernot Marx und Sebastian Brenner. Alle Informationen zum Titel erhalten Sie hier.


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