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3 Fragen an...

Frank Häßler studierte Humanmedizin an der Pomorska Akademia Medyczna in Szczecin/Polen und der Universität Rostock. Zudem schloss er zwei Qualifikationen als „Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie“ und „Facharzt für Neurologie und Psychiatrie“ ab. Häßler hat seinen Schwerpunkt auf den Bereich der Forensischen Psychiatrie gelegt. Seit Oktober 2016 leitet er als Chefarzt den kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich der GGP-Gruppe in Rostock.

Norbert Nedopil arbeitet sowohl in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig Maximilians Universität München als auch im Klinikum Innenstadt der Universität München.

Manuela Dudeck habilitierte 2012 in Greifswald. Seit 01. Mai 2013 ist sie Lehrstuhlinhaberin für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Ulm und ärztliche Direktorin der gleichnamigen Klinik der Bezirkskliniken Schwaben.


1. Die Neuauflage des Praxishandbuches Forensische Psychiatrie wirft einen Blick über die deutschen Grenzen – wie unterscheidet sich die Disziplin in den verschiedenen Ländern?

Frank Häßler: Das Strafmündigkeitsalter, d.h. das Alter, ab dem man für Straftaten juristisch belangt/verurteilt werden kann, schwankt innerhalb Europas erheblich.

Einige Beispiele sind hier: England, Wales 8 – 13 Jahre; Schweiz 10 Jahre; Frankreich 13 Jahre; Griechenland 8 – 13 Jahre; Irland, Ungarn, Belgien, Niederlande 12 Jahre; Österreich, Deutschland 14 – 16 Jahre; Italien 14 Jahre; Dänemark,Finnland, Schweden 15 Jahre; Niederlande, Portugal 16 Jahre; Belgien 18 Jahre; Luxemburg 16-18 Jahre; Spanien 18 Jahre

Ein weiterer Aspekt der Unterschiede ist das Konstrukt der Schuldfähigkeit, welches mehr oder minder unterschiedlich in den europäischen Ländern gestaffelt ist, meistens in schuldfähig, vermindert schuldfähig und schuldunfähig. Die verminderte und aufgehobene Schuldfähigkeit sind meistens die Eingangskriterien in eine forensische Klinik. In einigen Ländern ist es auch die Behandlungsbedürftigkeit, die ethische Fragen, siehe long stay Einrichtungen in den Niederlanden, aufwirft, da sich nicht alle psychischen Störungen erfolgreich im Sinne von Vollremission oder Recovery behandeln lassen.

In Polen bedarf es bei der forensischen Begutachtung immer zweier Gutachter. Darüber hinaus existiert in Polen ein nach der Eingangsstraftat und der Gefährlichkeit gestaffelter Maßregelvollzug (MV), während die Sicherheitsstandards in Deutschland nahezu einheitlich auf einem sehr hohen Niveau sind, unabhängig davon, ob Brandstifter oder ein „Mörder“ untergebracht werden. Die Sicherheitsstandards unterscheiden sich auch nicht, zumindest in MV, ob es sich um eine Forensische Klinik nach §63 StGB oder eine Entziehungsanstalt nach §64 StGB handelt. In Italien sind die großenforensischen Kliniken 2018 zugunsten kleiner gemeindenaher Einrichtungen aufgelöst worden, nicht ohne Probleme.

Manuela Dudeck: Zudem sind grundsätzlich alle Länder auf der Erde dem Völkerrecht verpflichtet, deren gemeinsamer Nenner die Menschrechte sind und dieses regelt die Beziehung der Staaten untereinander und der internationale Gerichtshof ist das Hauptsprecherorgan. Unabhängig davon entwickelt ein jeder Staat in Abhängigkeit von der Staatsform eine Gesetzgebung d.h. er schafft Rechtsnormen, die verbindlich sind. Darin spiegeln sich die Werte, ethische Normen und die Frage nach dem Vorrang von Rechtem und Gutem des einzelnen Staates wider. So entstehen z.B. Beispiel Unterschiede in der Altersgrenze der Strafmündigkeit oder deutliche Sanktionsunterschiede bei Straftaten wie Mord und Totschlag. Relativ gleich sind die medizinischen und insbesondere die psychiatrischen Grundlagen einer Begutachtung, da internationale Klassifikationssysteme die Definitionen von Krankheiten vorgeben. Die Unterschiede sind also insbesondere durch die unterschiedlichen Rechtsysteme bedingt, die unterschiedliche Rechtsnormen vorgeben.

Norbert Nedopil: Wie bereits erwähnt unterscheidet sich der praktische Umgang mit psychisch gestörten Rechtsbrechern im Detail von Staat zu Staat, trotz gemeinsamer, verbindlicher Grundsätze die in den Menschenrechts- und den Behindertenrechtskonventionen der UN, sowie in den europäischen Menschenrechtskonventionen festgeschrieben sind und z.B. vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und anderen Organen überwacht werden, erheblich. In Österreich gibt es z.B. keine verminderte Schuldfähigkeit und in Großbritannien gibt es sie nur bei Tötungsdelikten, in der Schweiz hingegen gibt es unterschiedliche Grade der Verminderung der Schuldfähigkeit. In verschiedenen Ländern ist die strafrechtliche Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus abhängig von der Beeinträchtigung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit wie in Deutschland, in anderen Ländern, z.B Großbritannien, Schweiz, z.T. in Skandinavien, von der Notwendigkeit und der Prognose einer stationären Behandlung. In anderen Staaten werden psychisch gestörte Straftäter nahezu ausschließlich in Gefängnissen behandelt (z.B. Spanien, Portugal und überwiegend in Frankreich) während es in den meisten Ländern spezielle Krankenhäuser gibt, die allerdings wiederum unterschiedlich strukturiert sind. Auch die Aufenthalte dauern und das Entlassungsprocedere unterscheidet sich wieder von Land zu Land. Tatsächlich unterscheiden sich die Wege eines Straftäters von der Tat bis zu der Entlassung aus einer Einrichtung erheblich und es gibt verschiedene Darstellungen der „Pathways through the Forensic Institutions“. Darüber hinaus gibt es eine unterschiedliche Etablierung der forensischen Professionalisierung mit anerkannter Fortbildung und geschützten Titeln verschiedenen Staaten, während andere Staaten einer solchen Spezialisierung und Professionalisierung eher skeptisch gegenüberstehen (z.B. Dänemark).

2. Inwiefern unterscheidet sich die Evaluierung von Kindern und Jugendlichen zu der von Erwachsenen in der forensischen Psychiatrie?

Frank Häßler: Bei Jugendlichen und Jungerwachsenen (bis 21 Jahre) geht es vordergründig um den Erziehungsgedanken bei der Strafzumessung. Deshalb gibt es auch die §§3 (14-17; 11 Jährige) und 105JGG (18-21 Jährige), die in der Regel durch die Gerichte, in Ausnahmen durch Gutachter gewürdigt werden.

Manuela Dudeck: Außerdem unterschiedet sich die Begutachtung von Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen sehr und ist von den einzelnen psychologischen Entwicklungsschritten abhängig, die ein Mensch durchmacht. Man wird also z.B. einem 14-Jährigen nicht die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung geben können, weil sich seine Persönlichkeit noch in der Entwicklung befindet. Das sieht bei einem 25-Jährigen ganz anders aus. Verantwortlichkeiten für eigenes Tun sind abhängig vom Alter d.h. von der Strafmündigkeit und es muss geschaut werden, was man wem in welchem Umfang zuschreiben kann.

Norbert Nedopil: Allerdings liegt der Unterschied zwischen der Begutachtung und Behandlung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen (Kinder kommen mit dem Strafrecht nicht in Berührung) nicht nur an den Reifungsprozessen, die bei Jugendlichen von großer Bedeutung sind und auch der damit verbundenen Diagnostik, sondern auch von den unterschiedlichen Grundsätzen, die in den Gesetzen verankert sind. So wird das Jugendrecht vom Erziehungs- und (Nach)reifungsprinzip beherrscht, während das allgemeine Strafrecht dem Rechtsausgleich, der Spezial- und Generalprävention dient. Daraus resultieren auch praktische Unterschiede, die von den forensischen Fachleuten berücksichtigt werden müssen. Die Frage im Jugendrecht lautet: Mit welcher Sanktion oder Maßnahme wird die Entwicklung des Betroffenen am besten gefördert und Schaden für die Gesellschaft und die Rechtsordnung vermieden. So mag die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung bei einer auffälligen Persönlichkeit des Täters, der sich noch in der Entwicklung befindet nicht die beste Lösung sein, wenn dadurch Beschulung und Berufsausbildung behindert werden, diese aber in einer anderen Einrichtung möglich wären. Auch mag eine allzu großzügige Entlastung von Verantwortung pädagogischen Intentionen im Weg stehen. Insofern hat der Fachmann, der Jugendliche begutachtet oder therapeutische Verantwortung für sie übernimmt, ein breiteres Spektrum an Bedingungsgefügen für die Normüberschreitungen zu berücksichtigen wie auch ein breites Spektrum an Optionen und Sanktionen zu berücksichtigen als der Erwachsenenpsychiater.

3. Welche neurobiologischen Aspekte spielen bei der Entwicklung und Behandlung der Delinquenz eine Rolle?

Manuela Dudeck: Sicherlich spielen neurobiologische Aspekte eine sehr große Rolle. Mit der rasant fortschreitenden Entwicklung von diagnostischen Möglichkeiten finden sich immer neue Befunde, die eingeordnet werden müssen. Es ist ein Puzzlespiel, dass sich zusammensetzt. Dennoch darf die Verantwortlichkeit d.h. die Autorenschaft einer Handlung nicht allein davon abhängig gemacht werden, da es dafür Gründe gibt, die eben nicht messbar sind. Daher sind die neurobiologischen Befunde zum jetzigen Zeitpunkt für die Begutachtung nur marginal von Bedeutung. In der Behandlung sieht das anders aus. Wenn man weiß, dass die genetische Ausstattung eines Straftäters mit der Ausprägung der appetitiven Aggressionsbereitschaft zusammenhängt, können Psychoedukation und gezielt Trainingsprogramme helfen und eingesetzt werden.

Norbert Nedopil: Neurobiologische Aspekte spielen auch in der Beurteilung (die auf die Entwicklung Bezug nimmt) und Behandlung von Straftätern eine zunehmende Rolle. Man bedenke nur die dramatische Zunahme neurologischer Entwicklungsstörungen (neurodevelopmental disorders), wie Autismus-Spektrum-Störungen, ADHS bei Jugendlichen und Erwachsenen, häufig übersehene genetische Störungen, z.B. Klinefelter-Syndrom etc. Aber auch hirnorganische Störungen und deren differenzierte Diagnostik sollten nicht aus dem Blick geraten. Zweifelsohne bleibt für die Schuldfähigkeitsbeurteilung die Psychopathologie der Grundpfeiler psychiatrischer Überlegungen. Verminderte und aufgehobene Steuerungsfähigkeit und Einsichtsunfähigkeit sind Folgen psychopathologischer Auffälligkeiten, und neurobiologische Besonderheiten oder Krankheiten, die keine psychopathologischen Entsprechungen aufweisen, sind für die Beurteilung der Schuldfähigkeit weitgehend irrelevant. Andererseits sind psychopathologische Auffälligkeiten, die auf neurobiologische Veränderungen zurückzuführen sind, von weitaus anderem Gewicht als solche ohne eine solche Grundlage. Dies wirkt sich dann auch auf die Risikoeinschätzung, die Behandelbarkeit, den therapeutischen Umgang und anderes mehr aus. Insofern ist forensische Psychiatrie auch nicht einfach durch eine Psychologie ohne Medizin zu ersetzen.

Das Praxishandbuch Forensische Psychiatrie (herausgegeben von Frank Häßler, Norbert Nedopil und Manuela Dudeck) befasst sich mit rechtsmedizinischen und rechtspsychologischen Erörterungen.


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