Roehrssen_Leadership_Ib_normal_165x240_zumDruck_V02.iDie Evolution der Krankenhausorganisation in den letzten 30 Jahren
THOMAS RÖHRßEN UND DIETMAR STEPHAN
Roehrssen_Leadership_Ib_normal_165x240_zumDruck_V02.iIn den letzten 30 Jahren hat sich ein dramatischer Wandel in der Organisation von Kliniken vollzogen, den wir in 4 Phasen unterteilen können (vgl. Röhrßen u.Wohlmeiner 2021):
1. Das personenzentrierte Krankenhaus 1.0: „Chefkultur und Charisma“ In dieser Phase dominierte eine stark personengebundene Expertenorganisation mit autoritärer Führung in Medizin, Pflege und Verwaltung. Chefärztinnen und Chefärzte, Pflegedirektor*innen und Verwaltungsleiter*innen verzichteten auf definierte Strategien, Strukturen und Prozesse. Sie führten qua Autorität oder mit persönlichem Charisma. Es galt eine „rule of man“, mit personenabhängigen Werten, Zielen und Regeln. Die Übertragung von Aufgaben und Verantwortung erfolgte durch die Chefin bzw. den Chef und sie/er allein konnte diese jederzeit wieder entziehen. In einigen Kliniken finden wir auch heute immernoch Relikte aus dieser Zeit. Das Problem dieser Struktur liegt in der starken Personenabhängigkeit und Willkür.
2. Das verantwortungsstrukturierte Krankenhaus 2.0: „Management by Objectives and Delegation“ In diesem Stadium setzen sich die Prinzipien der Zielvereinbarung („Management by Objectives“) und der Delegation („Management by Delegation“) von der Unternehmensspitze über die einzelnen Führungsebenen nach unten durch. In Deutschland wurden erste Ansätze dieses Systems in der Wirtschaft bereits in den 50er- und 60er-Jahren unter dem Namen Harzburger Modell bekannt. In den Kliniken kam diese Entwicklung zeitlich später an. Mit Delegationsbereichen, Stellenbeschreibungen und Zielvereinbarungen wurden die einzelnen Funktionen und Verantwortungsbereiche im klinischen Betrieb klar positioniert. Die Phase der „Rule of Man“ ging nun über in die Phase der „Rule of Law“. Nun standen die normativen Strukturen und Regeln selbst über der persönlichen Autorität einzelner Führungskräfte. In diesem Stadium verlagerte sich die Verantwortung zunehmend auch in die zweite und dritte Führungsebene. Das mittlere Management wurde als Leistungs- und Erfolgsfaktor entdeckt. Bereichs‑, Abteilungs‑, Stations‑, Funktions‑, Team- und Gruppenleitungen in Pflege und Verwaltung sowie Sektionsleiter*innen sowie Oberärzt*innen im ärztlichen Dienst erhielten eigene Delegations- und Kompetenzbereiche, die respektiert werden mussten. Führung war in dieser Phase nicht mehr Autorität qua Amt, sondern musste sich im Alltag erst bewähren. Die Führungsauswahl und die Führungsqualifizierung orientierten sich nicht mehr nur an der Fachkompetenz, sondern ergänzend auch an klar beschriebenen Führungs- und Managementkompetenzen. Das Problem des verantwortungsstrukturierten Krankenhauses lag allerdings in der Inflexibilität der Strukturen. Führungsorganisationen, Stellenprofile und Kompetenzregelungen mussten in immer kürzeren Intervallen verändert werden. Die Prozesse, die Positionen und Aufgaben sinnvoll verbinden und eine gemeinsame Patientenorientierung fördern, wurden in dieser Phase noch nicht definiert.
3. Das prozessorientierte Krankenhaus 3.0: „Zertifizierte Qualität und klinisches Prozessmanagement“ In dieser Phase wurden erstmals die gesetzlichen, wirtschaftlichen und fachlichen Anforderungen sowie die Ansprüche von Patienten, Einweisern, Gesetzgeber und Kostenträgern als prägende Faktoren der klinischen Organisation in den Vordergrund gestellt. Kliniken entwickelten in dieser Phase zertifizierte Qualitätsmanagementsysteme nach internationalen Organisationsstandards (z.B. ISO oder EFQM), nach speziellen Krankenhauszertifizierungssystemen (z.B. KTQ) oder nach Vorgaben einzelner Fachgesellschaften (z.B. OnkoZert). Die klinische Arbeit wurde zunehmend an externen Regelwerken und Normen ausgerichtet. In den letzten Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt von den normativen QM-Systemen (Phase 3.1) hin zu einem klinischen Prozessmanagement (Phase 3.2). In Krankenhäusern wurden für einzelne Bereiche Prozesslandkarten erstellt; klinische Prozesse wurden analysiert, optimiert, auditiert und evaluiert. Neue Berufsbilder und Funktionen wie z.B. „Prozessmanager“, „Case-Manager“ und „Klinik-Koordinatoren“ ergänzen inzwischen die bisherige Strukturorganisation.
4. Das postmoderne Krankenhaus 4.0 „Hybrid-Organisation und agile Teams“ Zurzeit befinden sich Krankenhausorganisationen erneut in einem radikalen Umbruch. Mit der Komplexität der klinischen Organisation entwickeln sich fast unüberschaubare Prozesslandkarten mit zahlreichen Schnittstellen. Wir kennen Kliniken, die fast 1.500 Prozessdokumente erstellt haben. Das Tempo der Veränderung nimmt dabei ständig zu: Ein Prozess, der gerade neu beschrieben worden ist, muss in kurzer Zeit aufgrund von neuen Anforderungen schon wieder infrage gestellt werden. Die digitale Prozessbürokratie in den Intranets der Kliniken führt zu einem Kollaps der Übersteuerung. Diese „chronische Prozessitis“ frustriert die Menschen – vor allem die neuen Generationen Y (etwa Jahrgänge 1980–1995) und Z (etwa Jahrgänge ab 1996), die sich in dem engen Korsett der klassischen Führungs‑, Struktur- und Prozessansätze nicht mehr wohl fühlen. Im Krankenhaus 4.0 werden in der Struktur eher flexible Rollen und in den Abläufen nur noch einige wenige Trigger-Prozesse identifiziert. Ein neuer Teamspirit entsteht. Im oberen und mittleren Führungsbereich wird sich ein werteorientierter Führungsstil mit flacher Hierarchie und hoher Partizipation durchsetzen. An der Basis entwickelt sich eine neue Selbstorganisation teilautonomer Teams. Diese Hybrid-Organisation setzt auf partizipative Führung von oben und Selbstorganisation von unten.
Frederic Laloux hat nach einer Analyse mehrerer erfolgreicher Unternehmensorganisationen der postmodernen Ära die neuen Prinzipien dargelegt:
„Postmoderne Organisationen behalten die leitungsorientierten hierarchischen Strukturen moderner Organisationen bei, geben aber die Mehrheit der Entscheidungen an die Arbeiter und Angestellten weiter, die so weitreichende Entscheidungen treffen können, ohne sich die Genehmigung des Managements einzuholen. Die Menschen, die direkt mit den Anforderungen der täglichen Arbeit zu tun haben, kennen die unzähligen kleinen Probleme im Arbeitsablauf am besten. Deshalb sollte ihnen das Vertrauen entgegengebracht werden, dass sie bessere Lösungen finden können als Experten, die aus weiter Ferne auf die Situation schauen. […] Dezentralisierung und Empowerment in einer großen Organisation zu implementieren ist schwierig. Das leitende und mittlere Management muss seine Macht mit allen Mitarbeitern teilen und einen Teil seiner Kontrolle aufgeben. […] Den Mitarbeitern wird das Vertrauen entgegengebracht, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen, wobei sie sich an einer Reihe gemeinsamer Werte orientieren, statt an dicken Regelbeschreibungen und Absprachen.“ (Laloux 2015, S. 32f.)
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Buch "Leadership Performance Krankenhaus" herausgegeben von Thomas Röhrßen und Dietmar Stephan . Alle Informationen zum Titel finden sie hier.