Organisationale Durchdringung
Je größer eine Organisation desto schwieriger ist es ein Thema zu entwickeln. Das notwendige Know-how in den zentralen Strukturen (zum Beispiel der Klinischen Ethik) muss in die Breite der Organisation getragen werden. Umgekehrt müssen die konkreten Themen, Problematiken sowie die jeweiligen Ressourcen und Best-Practice-Modelle aus den einzelnen Bereichen in den zentralen Strukturen ankommen. Nur so lässt sich ein Thema stringent und zielgerichtet entwickeln (Grossmann u. Lobnig 2013).
Die Ethikarbeit steht vor demselben Problem. Sie will erreichen, dass Ethik in der Organisation Krankenhaus gelebt wird. Dieses erreicht sie, indem sie eine spezifische Form des Umgangs miteinander fördert und so im Rahmen vorgegebener Verantwortlichkeiten, Hierarchien und Entscheidungspfade einen Austausch auf Augenhöhe über ethische Themen unterstützt. Dafürsteht das Aufgabenfeld der organisationalen Durchdringung.
Klinische Ethikarbeit zielt darauf ab, jeden und jede einzelne durch eine günstige Struktur und eine zuträgliche Organisationskultur in einem ethisch verantwortlichen Handeln zu unterstützen. Sie will dazu beitragen, Ethik „ans (Kranken-)Bett“ zu bringen (Pellegrino 1988) oder in anderen Worten: „Alltagsethik“ fördern (Albisser Schleger et al. 2014). Damit ist ein Zustand umschrieben, in dem ethische Fragestellungen für alle Beteiligten zufriedenstellend in alltäglichen Versorgungsprozessen berücksichtigt werden. Das gelingt nicht allein durch das Engagement einzelner oder das Vorhandensein zentraler Ethikstrukturen, wie beispielsweise eines Klinischen Ethik-Komitees. Das sind zwar wesentliche Bestandteile der Ethikarbeit. Noch wichtiger aber ist es, bei der Entwicklung der Klinischen Ethik in einem Krankenhaus sicherzustellen, dass Angebote wie Ethik-Fallberatungen, Fortbildungen und Leitlinien tatsächlich den Mitarbeitenden in der Patientenversorgung zugutekommen. Es reicht nicht, Angebote vorzuhalten. Sie müssen auch von den Mitarbeitenden wahrgenommen und in der konkreten Situation in Anspruch genommen werden.
Fallbeispiel
Herr Teich (70) wird seit über 40 Tagen intensivmedizinisch wegen eines schwelenden chronischen Infekts mit dialysepflichtigem Nierenversagen behandelt. Verschiedene Fachdisziplinen (Intensivmedizin, Chirurgie, Nephrologie) sind an der Behandlung beteiligt. Es kommt mehrfach zu schweren Komplikationen. Herr Teich wird vermutlich dauerhaft dialysepflichtig und stark pflegebedürftig bleiben. Nun scheint es, als könne die Infektion nicht anders als durch eine hohe Beinamputation behandelt werden.Herr Teich war anfänglich orientiert und einwilligungsfähig. Jetzt ist er nicht mehr kontaktierbar. Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht gibt es nicht. Die Ehefrau wurde als Betreuerin benannt. Amputation und Dialysepflichtigkeit waren am Anfang der Therapie kein Thema, entsprechend wurde mit Herrn Teich nicht darüber gesprochen. Es gibt noch eine Tochter und einen Schwiegersohn. Aufgrund der pandemiebedingten Besuchsbeschränkungen steht das Behandlungsteam mit der Familie hauptsächlich telefonisch in Kontakt. Das Familiengefüge ist durch die momentane Situation außerordentlich belastet. Das Behandlungsteam hat den Eindruck, dass die Familie die Situation kaum aushält und ein Ende herbeisehnt. Die Angehörigen scheinen die anstehenden Therapieentscheidungen in ihrer Tragweite nicht zu erfassen.Das gesamte Behandlungsteam ist von Unruhe erfasst. Im Rahmen einer Stationsbesprechung, die durch einen Ethiker begleitet wird, wird das angesprochen. Es fällt der Satz: „Nach einer Amputation – das wäre für Herrn Teich doch kein lebenswertes Leben!“ In der anschließenden Diskussion wird deutlich, dass alle die Situation als ethisch problematisch einschätzen. Viele haben Fragen vor allem zum mutmaßlichen Patientenwillen und auch zur ethischen Bewertung der Amputation. Zur Klärung treffen sich alle beteiligten Fachdisziplinen. In diesem Rahmen lassen sich die Fragen zur Prognose, zu Risiken und realistisch erreichbarem Therapieziel weiter eingrenzen. Vollkommen offen bleibt dagegen die Frage nach den mutmaßlichen Behandlungswünschen des Patienten. Deshalb wird eine Ethik-Fallberatung einberufen. Sie soll die Frage klären, ob eine hohe Beinamputation bei fraglichem Patientenwillen und sehr eingeschränkter Prognose moralisch vertretbar sei. Zur Vorbereitung führt der zuständige Oberarzt im Rahmen einer Telefonkonferenz ein ausführliches Gespräch mit der Familie. Auch die Pflegeleitung der Station nimmt daran teil. Dabei können viele Unsicherheiten aufseiten der Angehörigen aufgelöst werden. Darüber hinaus wird deutlich, dass Herr Teich zeitlebens eine „Kämpfernatur“ war, auch in gesundheitlichen Dingen. Er habe immer zum Ausdruck gebracht, dass auch starke körperliche Einschränkungen für ihn mit Lebensqualität vereinbar seien. Das räumt die bestehende Unsicherheit weitestgehend aus. Die Ethik-Fallberatung ist nicht mehr notwendig und wird abgesagt.
Die Idee, Ethikreflexion in die Regelprozesse des Krankenhausalltages zu integrieren, wird als implizite Ethik bezeichnet. Damit sind die vielen Formen des Austausches gemeint, die nicht primär der Auseinandersetzung mit ethischen Thematiken dienen, in denen ethische Fragen aber mit angemessener analytischer Tiefenschärfe mitgedacht werden – so wie im Fallbeispiel. Andere Beispiele für implizite Ethik sind eine Visite oder ein Tumorboard, in denen Therapieentscheidungen ausdrücklich auch unter ethischen Aspekten erwogen werden. Auch eine Verfahrensanweisung, die auf der Grundlage ethischer Überlegungen entwickelt wurde, oder ein „Flurgespräch“, bei dem unter anderem die ethischen Dimensionen einer Fragestellung verhandelt werden, sind denkbar. Implizite Ethik geschieht nicht in festen Strukturen, sondern ist vielmehr Ausdruck einer spezifischen Kultur, Entscheidungen miteinander auszuhandeln und dem bewussten Umgang mit ethischen Herausforderungen eine hohe Bedeutung beizumessen (Dauwerse et al. 2014).
Die Begriffe explizite und implizite Ethik stehen für die formalen Strukturen Klinischer Ethik auf der einen und die Berücksichtigung ethischer Aspekte im Rahmen der Regelkommunikation sowie der Unternehmenskultur auf der anderen Seite. Beide stehen miteinander in Wechselbeziehung.
Demgegenüber stehen Formate expliziter Ethik. Damit sind die formalisierten Strukturen Klinischer Ethik bezeichnet. Beispiele dafür sind das KlinischeEthik-Komitee, Ethik-Fallberatung, Ethik-Leitlinien et cetera. Sie haben eine klar definierte formale Position und tragen zur Verankerung der Ethik innerhalb der Organisation Krankenhaus bei. Sie unterstützen eine vertiefte Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen und stärken die systematische Berücksichtigung ethischer Aspekte in der Patientenversorgung (Dauwerse et al. 2014).
Explizite und implizite Ethikformate stehen in einer Wechselwirkung zueinander. Explizite Ethikformate dienen im Wesentlichen der Stärkung der impliziten. Das Fallbeispiel gibt hiervon einen Eindruck. Die ethisch begleitete Stationsbesprechung bot ein Umfeld, in dem eine vage moralische Intuition angesprochen werden konnte. Dabei wurde deutlich, dass diese von allen Anwesenden geteilt wird. Durch diesen Austausch konnte mit der Fallbesprechung unter Beteiligung aller Fachdisziplinen ein Vorgehen angeleitet werden, um die offenen Fragen ethisch zu bewerten. Da nicht alle ethisch wichtigen Punkte geklärt werden konnten, griffen die Verantwortlichen auf das Instrument der Ethik-Fallberatung zurück. Eine Maßnahme zur Vorbereitung darauf war die (telefonische) Familienkonferenz. Das Gespräch löste die ethischen Unsicherheiten auf. Die Ethik-Fallberatung war nicht mehr notwendig. Das Beispiel zeigt, wie die formalen Angebote der Klinischen Ethik (ethische begleitete Stationsbesprechung, Ethik-Fallberatung) und Regelkommunikation (interdisziplinäre Fallbesprechung, Familienkonferenz) sich gegenseitig ergänzen. Das bedeutet: Alle Interventionen der Klinischen Ethik besitzen keinen Selbstzweck. Sie dienen im Kern dem übergeordneten Ziel, Ethikreflexion in den Regelprozessen zu intensivieren. Klinische Ethikarbeit ist ausgerichtet auf die vielen Begegnungen, Gespräche, Handlungen und Entscheidungsprozesse, die die Versorgung von Patientinnen und Patienten ausmachen. Formale Strukturen wie Ethikkodizes, Fallberatungen, Schulungen und Leitlinien allein garantieren diese Zielvorstellung nicht, sind aber eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende „Alltagsethik“.
Der Transfer formaler Vorgaben in die gelebte Praxis geschieht nicht automatisch, sondern bedarf einer gezielten Gestaltung. Mehr noch: Wenn die ungeschriebenen Regeln und die Kultur einer Einrichtung einem gelingenden Austausch über ethische Fragestellungen entgegenstehen, bleiben die Bemühungen eines Klinischen Ethik-Komitees, einer Ethik-Fallberatung oder einer Ethik-Fortbildung weitestgehend wirkungslos (Hug 2009). Das bedeutet, dass Klinische Ethik einen Ethiktransfer nicht nur mitdenken, sondern gezielt planen und anleiten muss. Dafür steht das Arbeitsfeld organisationale Durchdringung. Dessen zentrale Aufgabe besteht darin, denEthiktransfer bewusst zu gestalten – und zwar angepasst an die Gegebenheitendes jeweiligen Krankhauses. Konkret bedeutet das beispielsweise, die Festlegungen einer Ethik-Leitlinie durch gezielte Maßnahmen vom Papier in das tägliche Handeln zu überführen, die Inhalte einer Ethik-Fallberatung im weiteren Behandlungsverlauf verfügbar zu machen und den Praxistransfer in der Konzeption von Schulungen zu berücksichtigen. Ethiktransfer bedeutet auch, die Verbindung zwischen formalen Ethikstrukturen und Krankenhausalltag bewusst zu gestalten und eine niedrigschwellige Ansprechbarkeit zu ermöglichen. Das betrifft die Kultur des Miteinander-Aushandelns sowie das Einüben eines respektvollen Miteinanders – auch und gerade angesichts ethischer Differenzen (Baumann-Hölzle u. Arn 2009; Arn u. Hug 2009).
Organisationale Durchdringung zielt auf die Verbindung formaler Ethikstrukturen mit der Organisation Krankenhaus und der dort vorherrschenden Kultur. Es geht um den Transfer der jeweils geltenden ethischen Normen und Rahmenbedingungen in den Krankenhausalltag, um die Gestaltung von Spielräumen für ethisch verantwortliches Entscheiden und Handeln und somit um die Förderung einer ethischen Unternehmenskultur.
Organisationale Durchdringung als Aufgabenfeld der Klinischen Ethik lässt sich in sehr unterschiedlichem Umfang einrichten. Die Bandbreite reicht von einzelnen, niedrigschwelligen und einfachen Interventionen bis hin zur Integration der Klinischen Ethik in zentrale Entscheidungsprozesse des Krankenhausmanagements (Wehkamp u. Wehkamp 2017; Hellmann 2015). Die konkrete Ausgestaltung der organisationalen Durchdringung orientiert sich immer an der jeweiligen Verankerung der Klinischen Ethik in einem Haus, dem damit verbundenen Auftrag sowie den realistisch verfügbaren Ressourcen. Nützlich ist es in jedem Fall, den Ethiktransfer bei allen Projekten der Klinischen Ethik mitzudenken.
Eine vergleichsweise komplexe Variante des Ethiktransfers ist das Konzept der „Embedded Ethicits“. Dabei handelt es sich um ethisch geschulte Mitarbeitende, die als Ansprechpartner für ethische Fragestellungen in bestimmten Bereichen des Krankenhauses fest eingebunden sind, zum Beispiel in einer regelmäßig stattfindenden Besprechung (Visiten, Transplantationskonferenz et cetera). Sie haben die Aufgabe, in diesen Runden einen besonderen Blick auf ethische Aspekte zu werfen. Bei Bedarf sprechen sie ethische Fragen proaktiv an, fungieren als Ansprechpartner für ethische Themen und fördern so kontinuierlich den Austausch über die Dimension Ethik. Dieses Vorgehen ist komplex, weil die beteiligten Ethiker und Ethikerinnen ethische Qualifikation, ein gewisses Maß an Feldkompetenz und zeitliche Verfügbarkeit benötigen (Bruce et al. 2014a). Damit ähnelt das Konzept der Embedded Ethicists dem der Ethikvisite, die in diesem Buch als Beispiel präventiver Ethik-Fallberatung vorgestellt wird (s. Kap. 3.5.3 Präventive Ethik-Fallberatung). Sie ist zugleich eine Intervention im Sinne des Ethiktransfers. Ihr erklärtes Ziel besteht darin, Ethikreflexion in der Regelkommunikation zu stärken, etwa in der Visite (Richter 2007). An diesem Beispiel wird deutlich, dass sich die vier Arbeitsfelder der Klinischen Ethik nicht eindeutig voneinander trennen lassen: Eine Schulung und eine Fallberatung beispielsweise haben im besten Fall immer auch einen Einfluss auf die ethische Wachheit und die Kultur des Miteinander-Aushandelns.
Es gibt aber auch deutlich niedrigschwellige Varianten, die organisationale Durchdringung umzusetzen. Das Format Ethik-Café ist ein vielerorts praktiziertes Beispiel: Es basiert auf der Grundannahme, dass eine bewusst gestaltete Umgebung, die sich an die Atmosphäre in einem Café anlehnt, einen Austausch auf Augenhöhe über ethisch sensible Fragestellungen erleichtert. Zu den Kennzeichen eines Ethik-Cafés gehört, ein Thema vorzugeben, niedrigschwellig zu moderieren, die Adressaten klar zu benennen, die Veranstaltung entsprechend bekanntzumachen und die Atmosphäre zu gestalten, zum Beispiel durch eine aufgelockerte Sitzordnung oder eine einfache Bewirtung. In einem Ethik-Café werden keine fallbezogenen ethischen Fragestellungen bearbeitet. Neben der Vermittlung von ethischem Fachwissen geht es vor allem darum, die Teilnehmenden allgemein für moralische Dilemmata zu sensibilisieren und eine Gesprächskultur mit ihnen einzuüben, die einen guten Austausch über ethisch komplexe Fragestellungen erlaubt (Maier u. Kälin 2016). Ein kreatives Beispiel zur niedrig-schwelligen Förderung der organisationalen Durchdringung ist die Idee der„Exkursionen“, die die Mitglieder des KEK der Medizinischen Hochschule Hannover in ausgewählte Bereiche der Klinik unternommen haben. Dadurch gewannen sie ein Bild der jeweiligen ethischen Herausforderungen und des Umgangs mit ihnen (Neitzke 2009a).
Einen umfassenderen Ansatz bietet das Ethik-Management beziehungsweise Werte-Management. Es erhebt die Gestaltung der ethischen Kultur in einer Einrichtung zur zentralen Managementaufgabe. Darunter fällt unter anderem, einen für das Haus geltenden normativen Rahmen vorzugeben und systematisch zu ermöglichen, diesem zu folgen. Existiert ein solcher Rahmen, dann sollte dessen Umsetzung erfasst und bei Bedarf nachgesteuert werden. Dieser Ansatz ist somit von der Idee getragen, dass die sorgfältige Auseinandersetzung mit ethischen Sachverhalten in der Patientenversorgung von der obersten Leitung eines Krankenhauses nicht nur gewünscht, sondern darüber hinaus auch konsequent gefördert wird. Dazu können die Verantwortlichen Ethikgrundsätze formulieren, verbunden mit sich davon ableitenden Umsetzungskonzepten. Auch die Durchführung von Ethikaudits, die Erfassung des ethischen Klimas durch Mitarbeiterbefragungen oder die Aufnahme von Ethiktrainings in den Kanon der Pflichtschulungen sind Maßnahmen im Sinne eines konsequenten Ethik-Managements (Schuchter et al. 2020; Hellmann 2015; Wehkamp 2015; Marckmannu. Maschmann 2014; Frolic et al. 2013a; Frolic et al. 2013b; Foglia et al. 2012). Organisationale Durchdringung lässt sich somit mit ganz unterschiedlichen Methoden und in verschiedenem Umfang gestalten. Die verbindende Idee dieses Aufgabenfeldes besteht darin, alle Projekte, Maßnahmen und Ideen der Klinischen Ethik darauf auszurichten, dass sie die Regelprozesse der Patientenversorgung möglichst nachhaltig erreichen. Dahinter steht der Anspruch, mit der Förderung impliziter Ethikstrukturen zugleich der Entwicklung von Moral Distress vorzubeugen.
Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Werk Praxisfeld Klinische Ethik herausgegeben von Katharina Woellert, Burkhard Göke, Joachim Prölß und Philipp Osten.