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Wie Mobile Health die Versorgung verbessert

MARKUS MÜSCHENICH

Mobile Health wird die Gesundheitsversorgung in einem Maße verändern, das in der Geschichte seinesgleichen sucht. Dabei werden Paradigmen in der Struktur unseres Gesundheitswesens ebenso fallen, wie in der Art und Weise, wie heute die medizinische Versorgung den Patienten erreicht. Am Ende der Entwicklung wird aus dem Gesundheitswesen Bismarck’scher Prägung ein Gesundheitssystem geworden sein, das den Regeln der digitalen Welt folgt. Die Zerstörung traditioneller Strukturen und Prozesse wird getrieben von den Möglichkeiten, die Gesundheitsversorgung zu jeder Zeit und an jedem Ort sicherzustellen. Diese Disruption hat einen Namen: Mobile Health.

Wer die Relevanz von Mobile Health für die Versorgung kennenlernen, verstehen und strategisch nutzen will, muss einen großen Bogen schlagen. Ein Eintauchen in die Medizingeschichte ist, ebenso wie ein Abstecher in die Sozialversicherungssysteme angebracht. Vor allem aber gehört eine große Portion Entwicklungsgeschichte digitaler Produkte und deren Geschäftsmodelle zwingend dazu.

Hätte man Otto von Bismarck während seiner Überlegungen zur Planung unseres Sozialversicherungssystems ein Smartphone mit den heute verfügbaren Apps in die Hand gedrückt, er hätte vermutlich nichts anders gemacht. Denn die Probleme, die es damals hinsichtlich der Krankheitslast der Bevölkerung zu lösen galt, waren ganz andere als die, mit denen wir es heute zu tun haben. Die großen Probleme der Gesundheitsversorgung hießen am Ende des 19 Jahrhunderts Unterernährung, Infektionskrankheiten und Arbeitsunfälle. Apps zur Behandlung von übergewichtigen Diabetikern, Patienten, die unter Ohrgeräuschen leiden und selbst die wunderbaren Anwendungen zur Behandlung von Depressionen hätten nicht ihren Markt gefunden. Die Antwort auf die Probleme dieser Zeit waren richtigerweise strukturelle Veränderungen als Grundstein für den Aufbau eines der unbestritten besten Gesundheitssysteme der Welt. Es galt, Strukturen aufzubauen und die Finanzierung zu sichern – und genau das passierte mit der politischen, ethischen und planerischen Genialität. Vielleicht muss man deshalb auch nachsichtig sein mit der Tatsache, dass die damals unverzichtbare Selbstverwaltung hundert Jahre später das Desaster einer Gematik maßgeblich mit verursachte. Bismarck war seiner Zeit weit voraus, doch haben sich seine politischen Erben nicht früh genug daran gemacht, dieses Erbe in die neue – digitale – Welt zu transformieren.

Die Zeit ist reif für eine Veränderung. Nicht etwa, weil Innovation zum Selbstzweck geworden ist, die Gesundheitswirtschaft gespeist werden muss oder wir der Faszination digitaler Technologien erlegen sind. Vielmehr benötigen wir neue Antworten auf den Wandel im Spektrum der Krankheiten. Nicht mehr Hun­ger, Tuberkulose und höchst gefährliche Arbeitsbedingungen prägen heute den Alltag von Bürgern, Versicherten und Patienten. In den letzten 100 Jahren entstanden mit den Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems, mit Diabetes und psychischen Erkrankungen neuemultimorbide Krankheitskonstellatio­nen mit neuen Versorgungsnotwendigkeiten. Dazu verschärft der glückliche Umstand einer stetig steigenden Lebenserwartung diese Situation in quanti­tativer Hinsicht noch erheblich.

Beschreibt man die aus der Sicht der Versorgungsplanung heute relevanten Erkrankungen jenseits der klassischen medizinischen Terminologie und auf einem etwas höheren Abstraktionsniveau, dann werden Menschen nicht mehr durch plötzliche Ereignisse, wie eine Infektionskrankheit oder einen Arbeitsunfall, krank, sondern im Rahmen von chronischen und im Alltag stattfindenden Prozessen. Auch die Therapie dieser „neuen“ Krankheitskonstellationen ist langwierig und nicht selten lebenslang notwendig. Nicht der Besuch beim Arzt oder eine Operation im Krankenhaus ist der abschließend kritische Erfolgsfaktor, sondern die medizinische Intervention im Alltag des Patienten. Genauso, wie viele Menschen in ihrem Alltag krank werden, müssen sie auch in ihrem Alltag versorgt werden um Heilung oder Linderung zu erfahren. Dies betrifft natürlich auch die Prävention von Krankheiten.

Weder Ärzte noch Gesundheitspolitiker haben wirkungsvolle und nachhaltige Antwortstrategien entwickelt. Der Alltag als entscheidende Größe der Gesundheitsversorgung entzieht sich bislang weitgehend der planenden Gesundheits- versorgung. Die sektorale Trennung zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung ist dabei nicht die einzige Sollbruchstelle im System. Selbst wenn Krankenhaus und Hausarzt perfekt miteinander kommunizieren und weitere Therapeuten sowie der Bereich der Heil- und Hilfsmittel nebst Apotheken in einem paradiesähnlichen Zustand verbunden wären, so entzögen sich trotzdem Zeit und Raum jenseits der genannten traditionellen Strukturen unseres Gesundheitswesens vollständig dem Zugriff der Versorgung. Oder anders formuliert: Der Patient ist weit mehr als 99% seiner Lebenszeit voll- ständig auf sich allein gestellt. Die Begleitung erfolgt – wenn überhaupt – durch verhallende Ratschläge des Hausarztes oder durch Beipackzettel in Schriftgröße 10 und dem Potenzial, dauerhafte Panikattacken ob der beschriebenen Nebenwirkungen auszulösen. Digital im Alltag war bislang bestenfalls der Hausnotruf. Und genau in diesem Vakuum befindet sich die Einflugschneise, über die sich Mobile Health gerade unserem Gesundheitssystem nähert.

Mobile Health ist ohne einen Meilenstein nicht denkbar, der zunächst nicht mit der Gesundheitsversorgung zu tun hatte: Am 9. Januar 2007 stellte Steve Jobs auf der Macworld Conference & Expo in San Francisco das erste iPhone vor und öffnet damit das Tor zu einer neuen Art der vernetzten Kommunikation. Die App wurde zum neuen Vertriebswerkzeug für alles, was das Internet zu bieten hat – vollständig losgelöst vom stationären Computerterminal und perfekt massen- tauglich. Der Siegeszug der mobilen Kommunikation war fortan nicht mehr aufzuhalten. Schnell wurde aus Healthcare Mobile Health und die ersten Gesundheits-Apps zeigten sich im Appstore. Irgendwann stieg dann Apple selbst in den Gesundheitsmarkt ein und bot mit dem Apple Health Kit eine erste kostenlose elektronische Patientenakte an. Einen ersten Hinweis auf die Kraft von Mobile Health zeigte die Mayo Clinic, die konsequent plante, ihr Krankenhausinformationssystem mit Apples mobiler Krankenakte zu verbinden. Der Effekt dieser Kooperation sollte gigantisch sein – so plante die Mayo Clinic ab 2020 mit jährlich 200 Millionen Patienten. Eine Steigerung der Patientenzahlen um mehr als das Hundertfache. Damit wurde Apple endgültig zum Treiber und Player in der Gesundheitswirtschaft. 2015 kürte das Wirtschaftsmagazin Forbes Apple zum wichtigsten Gesundheitsunternehmen der Welt. 

Auch wenn die technischen Voraussetzungen für eine flächendeckende Anwendung von Mobile Health-Applikationen ab 2007 scheinbar perfekt vorlagen, tat sich die traditionelle Gesundheitswirtschaft schwer, auf diesen Zug aufzuspringen. Mangelnde digitale Kompetenz, Sattheit und Ignoranz bei den Leistungserbringern verhinderten einen Siegeszug, wie er vergleichbar in anderen Branchen stattfand. E-Commerce, Gaming, Banking – alles wurde „mobile“. Was fehlte, um diese Erfolgsgeschichten in die Gesundheitswirtschaft zu bringen, waren passende Geschäftsmodelle. Relevante Umsätze ließen sich mit digitalen Gesundheits-Applikationen nicht erzielen.

Diese Pioniere in Sachen Mobile Health hatten es nicht nur deshalb schwer, weil der einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) für die Abrechnung kassenärztlicher Leistungen oder die Gebührenordnung für Ärzte keine Abrechnungsziffern für die Anwendung mobiler Gesundheitsdienstleistungen aufwiesen und Ärzte sich ohne pekuniären Anreiz oft genug (und bis heute) außerstande sahen, ihre Patienten auch Mobile Health-Anwendungen zu empfehlen.

Als eines der ersten deutschen Digital Health-Start-ups mit dem Namen goderma mit einer vergleichsweise simplen Idee den digitalen Gesundheitsmarkt von Berlin aus in Angriff nahm, schrieb man in Deutschland mittlerweile das Jahr 2013. Patienten mit unklaren Hauterscheinungen – von Hautrötungen bis zu Muttermalen – sollten Fotos der betroffenen Hautpartien über eine App versenden und, nach der Begutachtung durch einen Facharzt für Hautkrankheiten, eine Diagnose nebst Therapieempfehlung bekommen. Die App war ein zertifiziertes Medizinprodukt, eine dezidierte Anamnese des Einsenders war vorgesehen und bezahlt werden sollte per Kreditkarte. Der Preis betrug 29 Euro. Untermauert wurde die Seriosität und Qualität dieser neuen Art der Versorgung durch fremde und eigene klinische Studien, die die Sicherheit des Vorgehens belegen sollten. Einen Strich durch die Rechnung machte goderma letztendlich der Paragraph 6 der Ärztlichen Berufsordnung, der umgangssprachlich als „Fernbehandlungsverbot“ bezeichnet wird und Ärzten untersagt, Patienten, die sie vorher nicht persönlich kennengelernt haben, ausschließlich über Kommunikationsmedien zu versorgen. Obschon die Berliner Ärztekammer drohte, gegen die beteiligten Hautärzte ein Verfahren einzuleiten und eine erste Abmahnung ins Haus flatterte, standen die Investoren, die goderma finanzieren weiter hinter dem Start-up und stellten Gelder bereit. Dies allerdings unter der Bedingung, dass goderma Deutschland verlassen sollte um in den USA diese Geschäftsidee zu realisieren. Und so verlor Deutschland sein erstes vielversprechendes Mobile Health-Start-up. Erst im Mai 2017 – zehn Jahre nach der Präsentation des ersten iPhones – hob schließlich die Bundesärztekammer das Fernbehandlungsverbot auf. 

Mit der digitalen Medizingeschichte verbunden ist auch das Start-up mySugr aus Wien. Gegründet wurde es 2012 von drei Diabetikern. Ziel der Gründer war es, ein mobiles Diabetesmanagement-System zu entwickeln mit dem Diabetiker ihre Erkrankung im Alltag managen können und so unabhängiger werden von den Besuchen beim Diabetologen. Da mySugr nicht den Anspruch hatte, ärztliche Leistungen zu ersetzen, spielte das Fernbehandlungsverbot keine Rolle und so konnten sich die Gründer darauf konzentrieren, Blutzuckermessgeräte an ihre App anzudocken, sodass die Nutzer nicht mehr ihre Blutzuckerwerte manuell eintragen müssen. mySugr trainiert die Nutzer per App im Umgang mit Insulin, Blutzuckerwerten und Broteinheiten und erreicht so, dass der HbA1C-Wert als Maß für die Güte der Diabetes-Einstellung bei den Nutzern der mySugr-App günstig beeinflusst wird. Die Nutzerfreundlichkeit der App wird so weit in den Vordergrund gestellt, dass Verbesserungsvorschläge von Nutzern in wöchentlichen Updates eingespielt werden und mySugr vornehmlich Diabetiker anstellt, wenn es um den Support bei Anfragen geht. Von Österreich ging es nach Deutschland und in die USA. Um die Versorgung der Diabetiker weiter zu verbessern, wurde ein mobiles Coaching-Programm entwickelt und der Nachschub an Blutzuckerteststreifen konnte ebenfalls über die App geordert werden. Nachdem mySugr die Millionengrenze an Nutzern geknackt hatte, kaufte das Pharmaunternehmen Roche das Start-up. Heute hat mySugr fast 2 Millionen registrierte Nutzer und kann dank einiger Milliarden Datenpunkte und dem Einsatz intelligenter Algorithmen vorhersagen, welcher Nutzer im Risiko steht, mit einem entgleisten Diabetes auf der Intensivstation eines Krankenhauses zu landen. Diese Vorhersagekompetenz und das darauf ausgerichtete präventive Diabetes-Coaching sind heute ein Teil des Geschäftsmodells von mySugr. In der Weiterentwicklung plant mySugr den Aufbau einer virtuellen Diabetes-Klinik. 

Das Beispiel von mySugr zeigt nicht nur, was die Eigeninitiative von Patienten zu leisten vermag. Es zeigt vielmehr die Kraft, die hinter Mobile Health-Anwendungen steht. Millionen Patienten werden auf globaler Ebene versorgt und die Menge an generierten Daten kann genutzt werden, um präzise Voraussagen zu Krankheitsverläufen zu machen. All das auf der Basis einer Anwendung, die den Nutzer genau da erreicht, wo er die Unterstützung benötigt: in seinem Alltag.

Wie die Entwicklung von Mobile Health Companions weiter geht, zeigt mit m-Sense eine App für Patienten, die unter Migräne leiden. Hier scharte ein Wissenschaftler mit zwanzigjähriger Erfahrung in Migräneforschung ein Team von Computerspezialisten, Neurowissenschaftlern und Designern um sich mit dem Ziel, dem Geheimnis der individuellen Auslösefaktoren für Migräneattacken auf die Spur zu kommen. Wissenschaftlich bewiesen sind heute mehr als 20 Auslösefaktoren, die hochindividuell für Migräneattacken verantwortlich gemacht werden können. Dazu gehören u.a. die Länge des Schlafs, die Menge an Alkohol oder Kaffee, die ein Betroffener zu sich genommen hat. Die Vorhersage von Migräneattacken erscheint so als Gleichung mit potenziell mehr als 20 Unbekannten und bleibt somit der Rechenkapazität des menschlichen Gehirns nachvollziehbar entzogen. Wo die menschliche Intelligenz nicht ausreicht, setzt m-Sense auf Algorithmen. So dokumentieren Nutzer zunächst einige ihrer Kopfschmerzattacken und beschreiben dabei auch die mit dem Ereignis verbundenen Rahmenbedingungen als potenzielle Auslösefaktoren. Als erstes wird daraufhin analysiert, ob es sich tatsächlich um Migräne oder beispielsweise um Spannungskopfschmerzen handelt. Für den Fall einer Migräne wird mithilfe komplexer Algorithmen jede Attacke individuell mit den grundsätzlich bekannten Auslösefaktoren abgeglichen. Nach der initialen Analysephase können Patienten, die die m-Sense App nutzen, heute beinahe auf Knopfdruck erfahren, ob eine Migräneattacke droht und was zu tun ist, um diese zu verhindern. M-Sense verfolgt das Ziel 50% der Migräneattacken zu verhindern und steht heute mit einer 30-prozentigen Vermeidungswahrscheinlichkeit schon ganz passabel da. Kommt es tatsächlich zu einer Migräneattacke, bietet m-Sense therapeutischen Optionen an. Zu diesen gehören heute u.a. Übungen zur Muskelentspannung, doch ist perspektivisch als letzte Option auch die Empfehlung pharmakologischer Therapien geplant.

Die Beispiele zu Mobile Health-Anwendungen ließen sich beliebig fortsetzen: Es gibt kaum eine Erkrankung, für die heute nicht mobile digitale Helfer existieren. Von A wie Asthma bis Z wie Zwangsstörung. Solche digitalen Applikationen sind längst als Medizinprodukte zertifiziert, in Studien validiert und datensicher.

Die zentrale Frage ist, wie und an welchen Stellen Mobile Health unser Gesundheitswesen verändern wird. Zweifelsfrei werden Mobile Health-Anwendungen zur Verbesserung der Versorgung beitragen, denn solche Anwendungen schließen zwei große Lücken in der Versorgung.


Zum einen verbinden sie die bislang getrennten Sektoren der ambulanten und der stationären Versorgung. Mobile Health Companions, die einzelne Krankheitsarten betreffen und natürlich die zukünftig allen Patienten zur Verfügung stehende elektronische Patientenakte werden dafür sorgen, dass alle für die optimale Versorgung eines Patienten notwendigen Informationen stets bereit stehen. Informationsdefizite, die zu falschen Therapieentscheidungen oder unnötigen Mehrfachuntersuchungen führen werden der Vergangenheit angehören. 

Gleichzeitig wird der Patient in seinem Alltag nicht mehr allein auf sich gestellt sein, wenn es um Fragen der aktiven Begleitung in Sachen Diagnostik oder Therapie geht. So hängt die Qualität der Versorgung zukünftig nicht länger davon ab, ob ein Arzt in erreichbarer Nähe ist und wann dieser bereit und in der Lage ist, einen Termin zu vergeben. Mobile Health Companions werden den Patienten jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehen. Die Qualität wird zukünftig ebenso gesichert werden, wie die von Medikamenten oder traditionell anspruchsvoller Medizintechnik. Damit übernehmen Mobile Health-Anwendungen zwangsläufig auch Dienstleistungen, die bislang exklusiv durch die Ärzteschaft abgedeckt waren. Und sie werden es in einem relevanten Umfang und mit einer potenziell höheren Qualität und Effektivität tun. Wir leben in einem Zeitalter, in dem das Wissen von menschlichen Experten nicht nur digitalisiert werden kann, sondern die Daten und Informationen, die zur Weiterentwicklung des Wissens notwendig sind auch nicht mehr von diesen Experten selber generiert und kuratiert werden. 

Der Arztberuf wird seine Exklusivität im Gesundheitssystem verlieren und damit gleichzeitig in den Wettbewerb mit digitalen Werkzeugen eintreten. Dieser Wettbewerb wird unter verschiedenen Aspekten ausgetragen werden. In der Frage, ob in Zukunft noch ein Arzt oder ein Algorithmus Patienten behandelt, spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. 

Am interessantesten wird natürlich die Frage sein, wer die bessere Qualität liefert. Ist es beispielsweise der Diabetologe, der – vorausgesetzt er arbeitet in einer großen Diabetes-Schwerpunktpraxis – einige tausend Patienten pro Jahr betreut und diese möglicherweise sogar monatlich zur Sprechstunde trifft, die vermutlich nicht länger als 15 Minuten dauert? Oder die Diabetesmanagement-Plattform mit weit mehr als einer Million Nutzern und einem praktisch ununterbrochenen Kontakt? Natürlich kann heute kein Diabetologe und auch keine noch so große diabetologische Fachklinik einen 24-Stunden-Service sicherstellen und genau so wenig die ungeheuren Datenmengen so generieren und auswerten, wie die weltweiten aktiven digitalen Diabetes-Management-Plattformen. Diese Datenmengen und die daraus abgeleiteten individuellen Empfehlungen für die Patienten werden im Wettbewerb allerdings das Pendant zur Facharztreife, zum Erfahrungshorizont und letztendlich auch zu dem, was gern als das„Bauchgefühl“ sehr erfahrener Ärzte bezeichnet wird werden. Natürlich ist nicht jede ärztliche Fachdisziplin so umfänglich datengetrieben, wie die Diabetologie, die damit als Prototyp für die Substitution ärztlicher Dienstleistungen durch digitale Anwendungen dienen wird. Doch die Entwicklungen rundum Spracherkennung, Sensorik und algorithmische Empathie werden ein erhebliches Substitutionspotenzial auf der gesamten Breite der ärztlichen Leistungsskala realisieren lassen.

Ist die Frage der Qualitätssicherung gelöst, folgt natürlich der Wettbewerb um den besten Preis. Auch hier darf angenommen werden, dass die aufgerufenen Preise für digitale Lösungen durchaus wettbewerbsfähig sein werden. Für die Ärzteschaft wird dies zwei gravierende Auswirkungen haben. Zum einen dürften Preisverhandlungen mit den Vertretern der Kostenträger deutlich schwieriger werden und der Preisverfall ärztlicher Leistungen dürfte vorgezeichnet sein. Darüber hinaus wird aber auch zu klären sein, aus welchen Budgets die neuen digitalen Leistungen ausgegliedert und bezahlt werden. Man braucht wenig Phantasie um festzustellen, dass das Vergütungssystem der Ärzteschaft nicht zukunftsgesichert ist und im Zeitalter digitaler Lösungen einer Neukonfiguration bedarf. Zu dieser Neukonfiguration wird sicherlich auch die erfolgsbasierte Vergütung gehören, die Dank der Transparenz und Umfänglichkeit digital unterstützter Versorgung vergleichsweise einfach zu realisieren sein wird.

Die umfassende Gesundheitsversorgung via Mobile Health steht vor der Tür eines Gesundheitswesens, das sich zu Recht rühmen darf, eines der besten der Welt zu sein. Nicht zuletzt mit dem Einsatz von Mobile Health-Technologien können wir es schaffen, dass unser Gesundheitswesen diesen Status weiter behält.

Dr. Markus Müschenich ist Kinderarzt und war mehr als 10 Jahre Vorstand frei-gemeinnütziger und privater Krankenhauskonzerne. 2012 gründete er FlyingHealth, das führende Ökosystem für Next Generation Healthcare – made of bitsand bytes. Das Unternehmen bietet Unternehmen aus der Gesundheitswirtschaft und Industrie sowie Digital Health-Start-ups ein exklusives Umfeld, um digitale Diagnose- und Therapieanwendungen zur Marktreife zu bringen sowie neue Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle zu entwickeln. Markus Müschenich ist Gründungsmitglied und Vorstand des Bundesverbands Internetmedizin. Er gilt als Spezialist für die Zukunft der Medizin.

Gekürzte Version - der originale Beitrag stammt aus Zukunft der Gesundheit (hrsg. von Jens Baas).


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