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Ethische Aspekte der Beatmungsmedizin

THOMAS BEIN

Die Beatmungstherapie hat in den letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte erzielt, sie ist ein wichtiger Pfeiler im Gesamtkonzept der Intensivmedizin. Als ausgeprägte Form einer Organersatztherapie ermöglicht die maschinelle Beatmung die Überbrückung von Zuständen, die ohne diesen Einsatz unweigerlich den Tod nach sich ziehen würden. Insofern trägt die künstliche Beatmung bei vielen Situationen von kritischer Erkrankung erheblich zum Überleben bei. Auf der anderen Seite ist die künstliche Beatmung mit verschiedenen unerwünschten oder nachteiligen (Neben)-Wirkungen verknüpft, und Beatmung kann einen besonderen Leidensdruck bedeuten. Darüber hinaus kann unter bestimmten Bedingungen die Durchführung einer längerdauernden Beatmung den Blick dafür verstellen, ob durch diese Maßnahme eine gerechtfertigte Erholung des Betroffenen besteht, oder ob durch einen künstlichen Ersatz von Lunge und Atempumpe ein (nicht aufzuhaltender) Sterbeprozess ungerechtfertigt verzögert wird. Es ist daher einsichtig, dass im Zusammenhang mit der modernen Beatmungstherapie zunehmend ethische Fragestellungen über das ‚richtige‘ Tun entstanden sind.

Medizinethische Prinzipien

Die Medizinethik ist ein Teilbereich der Ethik, diese wiederum ist ein Zweig der Philosophie, der sich mit Fragen der Bewertungen und Vorschriften beschäftigt, die sich auf den richtigen und den falschen Umgang mit anderen Menschen beziehen. Die Medizinethik befasst sich im Besonderen mit Fragen nach dem moralisch Erlaubten, Gesollten oder Zulässigen im Umgang mit menschlicher Gesundheit und Krankheit. Diese Berufsethik hat in den letzten Jahren eine enorme Beachtung erfahren, da mit zunehmender Technisierung der Medizin auch eine zunehmende Unsicherheit über das ‚richtige‘ Handeln im Rahmen von enormen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten entstanden ist. 

Eine klar formulierte ‚Fundamentalethik‘ für den Bereich der Medizin ist bisher nicht entwickelt. Philosophisch-normativ begründete Ethikmodelle, deren Anwendung für das alltägliche Leben kontrovers diskutiert werden, lassen sich nicht ohne weiteres auf ethische Fragen im Bereich von Gesundheit und Krankheit übertragen: Weder der Pflichten-ethische Ansatz von Immanuel Kant (Deontologie), noch die auf Aristoteles zurückgehende Tugendethik (Der gute Arzt) oder die Vorgehensweise einer ausschließlichen Betrachtung oder Bewertung von Handlungen anhand der Konsequenzen (Bei-spiel: Utilitarismus) sind geeignet, praxisnah ethische Dilemmata am Krankenbett zu lösen. Als einigermaßen praxistauglich hat sich die Anwendung der Prinzipienethik nach Beauchamp & Childress (Principles of Biomedical Ethics) erwiesen, da hier nicht normative Grundkonzepte moralischen Handelns zur Dikussion stehen, sondern allgemein anerkannte Prinzipien, die größtenteils auf Hippokrates zurückgehen. Diese vier Prinzipien sind:

  • Wohltun: Es soll das Wohlbefinden des Patienten gesteigert und/oder der Zustand verbessert werden. Wohltun orientiert sich an allgemeinen moralischen Wertvorstellungen und dem persönlichen Lebensentwurf des Patienten.
  • Nicht-Schaden: Vermeidung einer Handlung, die Schaden zufügt. Bei jeder Maßnahme müssen möglicher Schaden und erwarteter Nutzen abgewogen werden.
  • Respekt vor Autonomie: Diesem Prinzip wird ein besonders hoher Stellenwert zugeordnet. Medizinische Maßnahmen müssen mit dem persönlichen Wunsch und den Wertevorstellungen des Patienten in Einklang gebracht werden.
  • Gerechtigkeit: Ein weites und unscharf gefasstes Prinzip, das weniger in der individuellen Behandlung, als vielmehr auf der Ebene gesundheitspolitischer oder gesetzgeberischer Aktivitäten angewendet wird.

Diese Prinzipienethik nach Beauchamp & Childress wird von vielen Medizinethikern empfohlen, sie findet häufig bei Ethikkonsilen oder Klinischen Ethikkomitees Anwendung, da sie praxisrelevant und ohne Spezialausbildung eingesetzt werden kann. Sie erlaubt es, fallorientiert auf dem Boden einer Prinzipienstruktur ethische Fragestellungen zu bearbeiten.

Medizinethik beschäftigt sich mit Fragen des moralisch Vertretbaren, des Sinnvollen und Erlaubten im Zusammenhang von Gesundheit und Krankheit. Die Prinzipienethik mit den 4 grundlegenden Prinzipien: Wohl-tun, Nicht-Schaden, Autonomie und Gerechtigkeit erlaubt einen strukturierten und praxisnahen Umgang mit ethischen Problemen.

Ethische Fragen im Zusammenhang mit Beatmung

Die künstliche Beatmung unterliegt – wie jede andere Form eines (maschinellen) Organersatzes – besonderen Anforderungen an die Indikationsstellung, die wiederum mit der Zustimmung des (autonomen) Patienten in Übereinklang gebracht werden muss. Da eine Organersatztherapie in den meisten Fällen eine Überbrückung (bridging) bis zur Erholung des ausgefallenen Organs darstellt, kann die ‚richtige‘ Beendigung dieser Maßnahme durch komplexe Fragestellungen überlagert sein: Ist eine Erholung des ausgefallenen Organs überhaupt (ausreichend) möglich? Deckt sich eine weitergehende Langzeit-Beatmung mit dem Willen des Patienten? Führt Beatmung zu einem vom Patienten gewollten Zustand („Wohltun“), oder verlängert Beatmung eine aussichtslose Situation („Nicht-Schaden“)? Folgende Situationen im Rahmen der Beatmungsmedizin können ethische Fragestellungen hervorrufen:

  • Indikation zur Beatmung in einer Situation mit deutlich eingeschränkter Lebensprognose (fortgeschrittene maligne Erkrankung, fortgeschrittene pulmonale Erkrankung ohne Aussicht auf pharmakologische oder operative [z.B. Lungentransplantation] Heilung)
  • Einleitung einer Langzeitbeatmung mit Tracheotomie mit den Konsequenzen einer tiefgreifenden Veränderung der Lebenssituation
  • Entscheidung über die Frage, ob Beatmung eine realistische Chance der Erholung oder eine unangemessene Verhinderung des Sterbeprozesses bedeutet
  • Beendigung der Respiratortherapie am Lebensende

Die Anwendung der Prinzipienethik im Rahmen von ethischen Dilemmata beatmeter Patienten zeigt auf, dass die Prinzipien ‚Wohltun‘ und ‚Nicht-Schaden‘ gelegentlich unscharf und interpretationsbedürftig sind. Die Bewertung, ob die Fortsetzung einer Beatmung ein „Wohltun“ oder eine Missachtung des „Nicht-Schaden“-Gebotes darstellt, führt nicht selten zu unterschiedlichen Einschätzungen.

In den letzten Jahren hat sich der Begriff der Therapiezieländerung durchgesetzt. Hiermit wird beschrieben, dass sich das primäre Behandlungsziel von den bisher durchgeführten Maßnahmen zum Lebenserhalt in Richtung der Linderung von Schmerz, Atemnot, Mundtrockenheit etc. („Symptomkontrolle“) verschiebt mit dem Ziel, dem Patienten ein beschwerdefreies und würdiges Sterben zu ermöglichen. Während der Visiten und im Gespräch mit den Angehörigen ist eine präzise Begrifflichkeit eine unabdingbare Voraussetzung zur erfolgreichen Bewältigung ethischer Probleme, in diesem Sinne ist die Verwendung des Begriffes Therapiezieländerung (anstatt: „Wir können nichts mehr für ihn/sie tun“) eine bedeutende Maßnahme zur Klärung.

Eine Therapiezieländerung muss nicht zwangsläufig eine sofortige Beendigung aller Maßnahmen nach sich ziehen. Je nach Einschätzung der Situation kann eine Fortführung der Therapie (ohne Ausweitung) ein Rückzug (withhold) oder eine Beendigung (withdraw) geboten sein. Die entsprechenden Konsequenzen für die Beatmungstherapie lauten: Fortführung der Beatmung, Zurückhaltung bei der Invasivität (inspiratorische Sauerstofffraktion, Höhe des PEEP, Invasivität der Beatmungsparameter), oder Beendigung der Beatmungstherapie (terminale Extubation, terminales Weaning). Die abge-stufte Festlegung des jeweils angemessenen Therapieziels obliegt der ethischen Diskussion des Behandlungsteams, evtl. mit Unterstützung einer Beratung durch Mitglieder eines Klinischen Ethikkomitees.

Die Lösung ethischer Konflikte in der Intensivtherapie setzt eine eindeutige Begrifflichkeit und Verständigung voraus. Ist das Therapieziel einer definierten Wiederherstellung eines Lebenszustandes, der vor der Erkrankung bestand, nicht mehr erreichbar, dann ist in der Regel eine Therapiezieländerung unumgänglich. Diese bezieht sich abgestuft auf ein neues Ziel (z.B. würdevolles Sterben) und muss auf den individuellen Lebensentwurf des Betroffenen abgestimmt werden. Können die ethischen Konflikte im Team nicht gelöst werden, ist die Beratung oder Mediation durch Mitglieder des Klinischen Ethikkomitees empfehlenswert.

Herausforderung: Beendigung der Respiratortherapie

In Situationen, in denen nach sorgfältiger Prüfung, Erfassung der medizinschen Prognose, Überprüfung der Indikation, und gründlicher Evaluation des Patientenwillens eine Fortführung der Beatmungstherapie nicht mehr geboten ist, steht die Beendigung der Beatmung als eine Maßnahme an, die eine besondere fachliche und psychische Herausforderung darstellt. Hier stehen sich prinzipiell zwei Konzepte gegenüber, die jeweils ihre spezifischen möglichen Vor- und Nachteile aufweisen. In einer großen prospektiven Studie aus dem Jahre 2017 (ARREVE-study) wurde bei 450 Angehörigen von In-tensivpatienten, bei denen die Therapie entweder durch terminales Weaning oder durch Extubation vorgenommen wurde, drei Monate nach diesen Ereignissen nach dem Auftreten von Trauer, Angst, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen gefragt. Etwa die Hälfte der Befragten gaben zu diesem Zeitpunkt gravierende psychische Probleme an. Bezüglich der Art der Beendigung der Beatmung gab es allerdings keinen Unterschied im Ausmaß der psychischen Belastung. Allerdings gab es signifikante Unterschiede in der Charakterisierung des Sterbeprozesses zwischen den Patientengruppen: nach Ex-tubation zeigten sterbende Patienten signifikant häufiger Zeichen der Schnappatmung und Atemwegsobstruktion im Vergleich zum terminalen Weaning. Die Zeit bis zum Tod nach Beginn der jeweiligen Maßnahme war nicht wesentlich unterschiedlich zwischen Extubation (Median = 2,7 h) im Vergleich zu terminalem Weaning (3,9 h). Bei Patienten mit erloschenem Atemantrieb, bei denen die terminale Extubation indiziert ist, soll darauf geachtet werden, dass die Symptomkontrolle besonders ausreichend ist. Im Zweifel ist daher ein Narkose-ähnlicher Zustand für diese Maßnahme anzustreben.


Die Beendigung einer nicht mehr indizierten Beatmung ist eine Herausforderung: die unmittelbare Extubation erfordert gutes palliatives Fachwissen, um eine ausreichende Symptomkontrolle (Schnappatmung, Atemwegsobstruktion, Angst und Unruhe) zu beherrschen. Das terminale Weaning als Alternative kann den Sterbeprozess verlängern, stellt sich aber möglicherweise für das Team der Intensivstation als weniger belastend dar. Die Entscheidung für eine Strategie muss im individuellen Fall sorgfältig abgewogen werden.

Der Einsatz der nicht-invasiven Beatmung (NIV) im Rahmen einer Palliativbehandlung ist in mehreren Studien untersucht worden. In den meisten Untersuchungen zeigte sich, dass der Einsatz der NIV bei terminalem Weaning oder Extubation gut geeignet ist, den Komfort der Patienten zu erhöhen und eine bessere Symptomkontrolle zu gewährleisten. Auch für den Einsatz der NIV gilt, dass ausreichende Routine mit diesem Verfahren erforderlich ist. Darüber hinaus ist zu vermeiden, dass die Anwendung von NIV indirekt zu einer unerwünschten Verlängerung des Sterbeprozesses beiträgt.

Grundsätze zu Vorbereitung und Durchführung der Beendigung der Beatmung

Die sorgfältige und einfühlsame Vorbereitung und Durchführung von Maßnahmen zur Beendigung der Beatmung ist die wichtigste Voraussetzung zur Wahrung der Würde des Patienten, der Reduktion der psychischen Belastung der Mitarbeiter, und der Zufriedenheit der Angehörigen. Folgende Schritte sind empfehlenswert:

allgemeine Vorbereitung

  • Besprechung mit Mitarbeitern 
  • Spirituelle Unterstützung
  • Vorbereitung und Integration der Angehörigen

Patienten-Umgebung

  • Lärmreduktion 
  • Komfort (Licht, Temperatur …) 
  • Platz für Angehörige 
  • Entfernung unnötiger Technik (Monitoring, Maschinen …)

Patient

  • Lagerung 
  • Entfernung unnötigen Monitorings 
  • Entfernung von unnötigen Zugängen oder Medikamenten 
  • Vorbereitung einer ausreichenden Symptomkontrolle

Ethisches Handeln ist im Rahmen der künstlichen Beatmung häufig gefordert. Es kann auf verschiedenen Ebenen in den Klinikalltag integriert werden. Auch wenn Klinische Ethikkomitees zunehmend im Klinikalltag wahrgenommen werden, bedarf es teamorientierter ethischer Diskussionen und Entscheidungen. Hierfür sind grundlegende Kenntnisse, z.B. über die Prinzipienethik, hilfreich. Durch wiederholte und sorgfältige Reflexion über ethische Aspekte der Behandlung soll vermieden werden, dass ein Unterlassen oder Verdrängen einer ethischen Entscheidung in einer nicht-angemessenen „Über-Beatmung“ resultiert, die dem Würde-Anspruch eines jeden Menschen widerspricht.

Auszug aus dem Intensivbuch Lunge und Beatmung (hrsg. von Rolf Dembinski Michael Pfeifer Thomas Bein)


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