Plattformtechnologien im Gesundheitswesen
ERWIN BÖTTINGER UND CHRISTIAN-CORNELIUS WEISS
Plattformen können die Sektorengrenzen überwinden
Der reibungslose und strukturierte Austausch von Daten über die Sektorengrenzenhinweg ist unabdingbar, um für alle Patienten eine optimale medizinischeVersorgung zu vergleichsweise niedrigen Kosten zu gewährleisten. In Deutschland jedoch bleibt das Gros der Beteiligten aufseiten der Ärzteschaft wie der Patienten skeptisch, unter anderem aufgrund von Datenschutzbedenken. Dabei ist der reibungslose Fluss von Daten der Schlüssel, um die strikte Sektorentrennung in Deutschland zu überwinden und damit das Gesundheitssystem zu optimieren. Doch wie ließen sich die Daten austauschen? Im Prinzip stehen dabei zwei Optionen zur Verfügung: zum einen über offene Standards in multi-lateralen Netzwerken, zum anderen über Plattformen, die als „Honest Broker“, also als ehrlicher, verantwortungsvoll agierender, unabhängiger Wegbereiter und Vermittler, zwischen den IT-Systemen der einzelnen Versorger agieren.
Die beiden Optionen sind unterschiedlich effizient. Standards wie FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) oder eMP (elektronischer Medikationsplan) ermöglichen es zwar, dass Krankenhausinformationssysteme und Praxisinformationssysteme Daten austauschen. Aber die Daten werden nur bei Bedarf abgerufen und liegen dezentral gespeichert vor. Jeder Knoten in diesem Netzwerk hält darum Kontakt zu jedem anderen Knoten. Und jedes Mal, wenn ein neuer Knoten zu dem Netzwerk hinzukommt, muss jeder der bereits existierenden Knoten Arbeit in die Anbindung des neuen Knotens investieren. Damit steigt die Komplexität bei wachsendem Umfang des Netzwerks, und die Effizienz nimmt ab. Netzwerke lassen sich darum nur schwer skalieren.
Plattformen dagegen sammeln die Daten aus den IT-Systemen der Versorger und bewahren sie auf. Die Plattformen stellen die zentral gespeicherten und sicher verschlüsselten Daten angeschlossenen Nutzern aus dem Gesundheitssystem vereinheitlicht und permanent zur Verfügung. Die Zahl der Nutzer lässt sich dabei leicht vergrößern, weil sie einfach an die Plattform andocken können. Digitale Plattformen sind damit deutlich effizienter als multilaterale Vernetzung über offene Standards.
Vielversprechende Beispiele für entsprechende Plattformen sind die derzeit in Deutschland eingeführten, elektronische Gesundheitsakten (eGA) wie der „TKSafe“ der Techniker Krankenkasse, das Digitale Gesundheitsnetzwerk der AOK oder die von der Allianz initiierte App „Vivy“. Diese Angebote ermöglichen den Versicherten, jederzeit und von überall aus mit ihren Smartphones auf Gesundheitsdaten wie Untersuchungsergebnisse, Impfungen oder Medikationsplänesowie auf Abrechnungsdaten zuzugreifen. Außerdem kann der Versicherte entscheiden, wem er diese Daten zugänglich macht, um z.B. Ärzten in Fällen wie oben beschrieben eine bessere Informations- bzw. Datenbasis bereitstellen zu können oder seine Daten in entfremdeter Form der Forschung bereitzustellen. Doch noch sind in diesem Kontext viele Fragen unbeantwortet und große Herausforderungen zu lösen:
- Wie wird die fehlende Interoperabilität der etablierten Systeme überwunden, um die Akten aus unterschiedlichen Töpfen zu füllen und die Daten vergleichbar zu machen?
- Wie wird sichergestellt, dass die hohen Sicherheitsanforderungen gelöstwerden?
- Wie wird die Einwilligung der Versicherten zur Verwendung dieser Daten im klinischen Umfeld oder zu Forschungszwecken gelöst und wie werden die Daten aus der Versorgung in die Forschung sicher übermittelt?
Die unabhängige, non-profit Plattform „data4life“ kann eine gute Ergänzung zu den genannten Lösungen sein, um einige dieser Fragen zu beantworten.
Die digitale Plattform data4life
Eine digitale Plattform, die Gesundheitsdaten aus beiden Sektoren sammelt und in beiden Sektoren zugänglich macht, gewährleistet einen verlässlichen Datenfluss – und kann damit das deutsche Gesundheitssystem substanziell besser machen. Die Infrastruktur für Gesundheitsdaten und Gesundheitsforschung data4life ist eine solche digitale Plattform. Sie baut eine Brücke über die eiserne Grenze zwischen den beiden Sektoren hinweg. Den Datenquellen aus den beiden Sektoren der stationären und der ambulantenVersorgung stellt data4life dabei eine dritte Datenquelle zur Seite: patientengenerierte Daten der neuen Digital Health Player, die beispielsweise über häusliches Monitoring, Self-Reporting via Sensoren oder über Apps anfallen. So wäre beispielsweise der Pulssensor einer Apple Watch eine wertvolle Ergänzung.
Mit diesen vom Patienten selbst gesammelten Daten könnten Ärzte etwa die Frequenz und das zeitliche Auftreten von Symptomen genauer bestimmen und so Therapien optimieren. Zudem würden im Gegenzug digital angebotene Informationen die Gesundheitskompetenz des Patienten stärken. Auch so ließen sich unnötige Kontakte mit dem Gesundheitssystem vermeiden.
Die persönlichen Gesundheitsdaten aus allen drei Quellen sammelt, vereinheitlicht und verwahrt data4life, damit die Beteiligten des Gesundheitssystems darauf zugreifen können. Aber nicht nur das, Bürger können ihre Daten auch in de-identifizierter Form einer weiteren Plattform zur Verfügung stellen, damit Wissenschaft und Forschung mit diesen Daten arbeiten können. Zwei miteinander verknüpfte Plattformen bilden darum die Grundstruktur von data4life:
- Die erste ist die Personal Health Data Platform (PHDP), auf der Bürger sämtliche gesundheitsrelevante Daten sammeln, aufbewahren und mit Dritten (beispielsweise Ärzten, Krankenversicherungen, Angehörigen) teilen können.
- Die zweite Komponente ist die Analytics Platform für gesundheitsbezogeneForschung (AP), über die Wissenschaft und Forschung auf de-identifizierte Daten zugreifen können.
Die Personal Health Data Platform (PHDP) ist eine einrichtungs- und sektorenübergreifende elektronische Gesundheitsakte (eGA). Sie speichert die Daten sicher in einer privaten Cloud – keine dritte Partei hat darauf unerwünschten Zugriff. Auf der PHDP können Bürger sämtliche gesundheitsrelevanten Daten speichern und verwalten, von den Werten ihrer Fitness-Apps bis zu den Resultaten einer Genomanalyse, von medizinischen Daten bis zu Gebrauchs hinweisen für Medikamente. Externe Parteien, etwa App-Anbieter, niedergelassene Ärzte oder Krankenhäuser mit ihren weiterhin für die dortige medizinische Versorgung maßgeblichen Informationssystemen, werden über Schnittstellen an die Plattform angeschlossen, um auf Wunsch der Nutzer daraus weitere Daten in dessen elektronische Gesundheitsakte einzufügen.
Die Analyse von Big Data und die Generation von Erkenntnissen daraus überwirksame Therapieansätze für einzelne Patienten sind Neuland für die Medizin. Es gibt medizinische Bereiche wie Radiologie, Augenhintergrund oder Genomdiagnostik, bei denen dieser Ansatz bereits heute zu funktionieren scheint. In anderen Bereichen ist weitere Forschung in dieser Richtung notwendig. Die unbedachte Analyse großer Datenmengen allein ist noch kein Garant für eine Verbesserung der medizinischen Versorgung. Vielmehr besteht bei der Analyse großer Datenmengen die Gefahr von Fehlinterpretationen, wenn statistisch signifikante Zusammenhänge (Korrelationen) identifiziert werden, die aber in der medizinischen Versorgung (zum Beispiel Diagnostik oder Therapie) aufgrund fehlender Kausalität keine Relevanz haben. Hier ist ein Zusammenspiel von evidenzbasierter Medizin und Big Data notwendig, um auf der Grundlage studienbasierter Ergebnisse die beste Lösung für den individuellen Patienten zu finden.
Die Plattform als „Honest Broker“
Über die beiden Plattformen von data4life entsteht ein umfangreicher sicherer, unabhängiger und gemeinnütziger Pool von gesundheitsrelevanten Daten – eine wichtige Arbeitsgrundlage für Wissenschaft und Forschung – und damit die Basis für ein verbessertes Gesundheitswesen. Um diese Infrastruktur herum bildet sich ein digitales Ökosystem, zu dem Digital Health-Startups und andere Technologiedienstleister aus dem Gesundheitswesen gehören, die sich vor allem an die PHDP anschließen, sowie Forscher, die auf der AP arbeiten können.
Die Daten sind bei data4life in einer zentralen Infrastruktur gespeichert und lassen sich über diesen zentralen Ansatz syntaktisch und semantisch effizient integrieren. Standards und geeignete Datenmodelle stellen sicher, dass die Gesundheitsdaten in einem einheitlichen Format vorliegen. Damit könnensie als Grundlage für performante, siloübergreifende Analysen genutzt werden. Nutzer, angeschlossene Dienstleister oder Forscher haben die Möglichkeit, schnell auf die zentral gespeicherten Daten zuzugreifen und darauf aufbauende Analysen durchzuführen. Wenn eine solche Infrastruktur von einer einzelnen Organisation betrieben wird, besteht die Gefahr von Interessenkonflikten und Datenmissbrauch. Diese Gefahr ist jedoch bei data4life nicht gegeben, weil die Betreiberorganisation der Plattform unabhängig und gemeinnützigist sowie größten Wert auf Informationssicherheit und Datenschutz legt.
In einem lernenden Gesundheitssystem kommt der Plattform, auf der die sensiblen Gesundheitsdaten lagern und mit der sämtliche Stakeholder von Bürgern über Ärzte und Forscher bis zu Technologiedienstleistern arbeiten, demnach eine zentrale Rolle zu. Auch mit einer maximal sicheren Systemarchitektur werden die unterschiedlichen Nutzergruppen diese Plattform nur dann akzeptieren und ihr vertrauen, wenn sie zusätzlich zu den technischen Rahmenbedingungen als unabhängiger, verantwortungsvoller Wegbereiter und Vermittler („Honest Broker“) auftritt.
Sensible Gesundheitsdaten dürfen nicht zu einem Rohstoff werden, den – ähnlich wie beispielsweise bei Social Media-Daten bereits geschehen – Firmen in eigenem Interesse kommerziell verwerten.
smart4health: Grenzüberschreitender Austauschvon Gesundheitsdaten
Während data4life im ersten Schritt einen sektorenübergreifenden Ansatz über eine zentrale Plattform auf nationaler Ebene anbietet, beschreibt die EU-weite Gesundheitsdaten-Plattform smart4health, wie dieser Ansatz auf europäischer Ebene funktioniert. Über diese Infrastruktur sollen EU-Bürger in sämtlichen Mitgliedsstaaten ihre Gesundheitsdaten verwalten können, sodass sie und ihre Ärzte bei einem Auslandsaufenthalt denselben Zugriff darauf haben wie in ihrer Heimat – ähnlich wie etwa jeder Mensch auch im Ausland auf dieselbe E-Mail-Adresse zugreifen kann wie an seinem Wohnort. Mit der länderübergreifenden Lösung für alle EU-Staaten ist auch bei beruflichen Auslandseinsätzen eines Bürgers oder im Urlaub derselbe Informationsstand des behandelnden Arztes sichergestellt wie zu Hause. Der grenz- und sektorenübergreifende Ansatz des Projekts ist damit der konsequente Gegenentwurf zu einem kleinteiligen, regionalen Denken. In vielen europäischen Ländern sind ähnliche Ansätze schon weit gediehen, und viele nationale Gesundheitssystemesind offen für Plattform-Ansätze.
Die EU-Kommission hat 2018 die Entwicklung eines Prototyps für einen bürgerzentrierten, EU-weiten digitalen Austausch von Patientendaten ausgeschrieben. Es soll eine „harmonised/standardised and interoperable platform“ entstehen, die „easy-to-use and secure, constantly accessible and portable within any other Member States of the EU“ (European Commission 2018) sein soll. Analog zur Struktur des deutschen Projekts data4life ist die smart4health-Infrastruktur außerdem ergänzt um eine „data-driven platform to help the scientific community to benefit from user generated data (health, care, and health-related)“ (Europäische Kommission 2018).
Am Erreichen dieser Ziele arbeitet smart4health seit dem 1. Januar 2019 mit einem Konsortium aus 18 Institutionen aus 10 Ländern, finanziert über „Horizon2020-EU.3.1.5.1. – Improving health information and better use of healthdata“ im Rahmen der EU-Strategie „Europe 2020 – Digital Single Market“ (Europäische Kommission 2019).
Bei den sehr unterschiedlichen Datenquellen aus unterschiedlichen EU-Ländern ist es unerlässlich, die syntaktische und semantische Interoperabilität dieser Daten mit dem smart4health-Datenmodell sicherzustellen. Um eine europaweite Anbindung von Providern an smart4health zu ermöglichen, konzentriert sich die offene Plattform auf internationale Standards wie FHIR und IHE sowie bei den bürgergenerierten Daten durch Wearables oder Sensoren auf die PCHA-Continua-Richtlinien. Diese Einbeziehung von internationalen Standards, Konventionen und Richtlinien erleichtert die Interoperabilität von Gesundheitsdaten innerhalb der EU und verhindert nationale Alleingänge durch proprietäre Formate.
HPI-MS: Globale Entwicklungspotenziale für Deutschland und die EU
Sowohl das EU-finanzierte Konsortium smart4health, als auch D4L data4lifegGmbH kooperieren eng mit einem weltweit als Best Practice anerkannten Vorbild: dem Mount Sinai Health System (MSHS). MSHS ist eine führende sektorenübergreifende Einrichtung der Gesundheitsversorgung, mit einer medizinischen Hochschule, sieben Krankenhäusern und mehr als 400 ambulanten Zentren. Am MSHS sind Prozesse und Daten durch eine umfassende einrichtungsübergreifende elektronische Patientenakte und ein klinisches Data Warehouse sowie über stationäre und ambulante Versorgungsleistungen hinweg integriert. Die Kooperation verläuft über das neu gegründete Hasso Plattner Institute for Digital Health at Mount Sinai (HPI-MS), das Ende März 2019 mit Förderung durch die Hasso-Plattner-Stiftung am Mount Sinai HealthSystem aus der Taufe gehoben wurde. Es vereint Kompetenzen unter anderem in Health Sciences, Biomedizin und Digital Engineering, Maschinellem Lernen und Künstlicher Intelligenz, um neue innovative Gesundheitsproduktezu entwickeln. Dafür stellt das HPI-MS einen organisatorischen Rahmen, in dem Forscher des Hasso-Plattner-Instituts und des Mount Sinai Netzwerks reibungslos zusammenarbeiten können.
Ziel des Instituts ist es, die Forschung im Bereich der digitalen Medizin weiter auszubauen und die Entwicklung von Digital Health-Anwendungen voranzutreiben. So will das HPI-MS Künstliche Intelligenz und Echtzeitanalyse von umfassenden Gesundheitsdaten aus elektronischen Patientenakten, Sensortechnologien, und Genomanalysen nutzen, um Leben zu retten, Krankheit zu verhindern und die Gesundheit der Bürger zu verbessern.
Die enge Zusammenarbeit von HPI-MS und data4life beziehungsweise smart-4health ermöglicht zum Beispiel über freiwillige Datenspenden sowie die Integration von anderen Datenquellen den Aufbau einer personalisierten, kun-denorientierten „Human Data Platform“. Die damit mögliche Weiterentwicklung von personalisierter Präzisionsmedizin kommt über die enge Integration von Forschung und Versorgung im Plattformmodell den Bürgern unmittelbar zugute. Die gewonnen Erkenntnisse und Best Practices fließen zudem zurück in die Entwicklung einer europäischen Plattformlösung. Damit macht das HPI-MS globale Entwicklungspotenziale auch für Deutschland und die EU zugänglich – und trägt zur Gestaltung einer sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung bei.
Allen offenen Fragen zum Trotz: Nach fast 100 Jahren Trennung zwischen den Niedergelassenen und den Stationären in Deutschland können digitale Plattformen erstmals wieder für Durchlässigkeit in der eisernen Wand zwischen den Sektoren sorgen.
Gekürzte Version, Orginal-Beitrag aus Zukunft der Gesundheit (hrsg. von Jens Baas)