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Digitalisierung in der Intensivmedizin

PAUL CHOJECKI, MICHAEL CZAPLIK, VERENAVOIGT UND DAVID PRZEWOZNY

Nach der Erfindung der Dampfmaschine (Industrie 1.0), der Einführung der Massenproduktion unter Nutzung elektrischer Energie (Industrie 2.0) und der Einführung programmierbarer Elektronik und Automatisierungstechnik (Industrie 3.0) ist aktuell die vierte industrielle Revolution im Gange. Sie wird geprägt durch Interoperabilität, das Internet, virtualisierte Objekte, Plattformen und letztlich durch Daten. Daten, die als der neue Rohstoff gehandelt werden, verhelfen einst kleinsten Unternehmen mit visionären Ideen dazu, sich zu riesigen, erfolgreichen Konzernen mit Milliardenumsätzen zu entwickeln.

Auch im Gesundheitswesen, vor allem aber im Bereich der Intensivmedizin, werden täglich für jeden einzelnen Patienten enorme Daten generiert. Leider wird nur ein Bruchteil der zum Beispiel in Medizingeräten erzeugten Daten elektronisch erfasst beziehungsweise digital gespeichert. Eine konsequente Anwendung der Ideen, die hinter der vierten industriellen Revolution stecken, würde bedingen, dass Medizingeräte und Informationssysteme vollständig miteinander interagieren und kommunizieren. Weiterhin stellt sich die Frage, wie all diese Daten dem Benutzer präsentiert werden sollten und wie die Mensch-Technik-Interaktion benutzerfreundlich und entsprechend der Anforderungen auf der Intensivstationgestaltet werden kann.

Zu den aus unserer Sicht wichtigsten Zielen der Digitalisierung auf der Intensivstation gehören:

  1. Vermeidung unnötiger Alarme bzw. die Generierung intelligenter Alarme,
  2. sinnvolle, kontextadaptive und einheitliche Bedienschnittstellen,
  3. ergonomisch und steril bedienbare Eingabegeräte,
  4. reduzierte Wartezeiten für Patienten und Personal durch optimierte Prozessabläufe,
  5. verbesserte Leitlinienkonformität und Qualität,
  6. Assistenzsysteme, die zur Teilautomatisierung von (einfachen) Prozessen führen und das Personal entlasten.

In diesem Artikel werden verschiedene Ansätze zur Digitalisierung in der Intensivmedizin vorgestellt undihr Potenzial erläutert.

Interoperabilität und Standards

In der heutigen Intensivmedizin nehmen nicht nur die Zahl und Diversität computergestützter Geräte und die Anwendungsmöglichkeiten der Informationssysteme zu. Auch die sich daraus ergebenden Datenmengen und Auswertungsmöglichkeiten, sowie die Anforderungen und Ideen von Anwendern sind deutlich komplexer. Das Potenzial der Daten ist groß, aber aus verschiedenen Gründen noch nicht ausgeschöpft.

Herstellerspezifisch variierende Standards erschweren die Weiterentwicklung in Richtung einer vernetzten Intensivstation. Um die gesamte Infrastruktur einer intensivmedizinischen Landschaft in ein Gesamtsystem zu integrieren, muss eine dynamische, herstellerübergreifende Interoperabilität geschaffen werden. Dies kannnur durch Definition von standardisierten Schnittstellen und offenen Übertragungsprotokollen erfolgen. Hierbei muss die Diversität der in diesem Umfeld benötigten Medizingeräte und Informationssysteme berücksichtigt werden.

Weltweit existieren verschiedene Ansätze zur offenen Vernetzung von Medizingeräten. Für den deutschsprachigen Bereich wurden im Rahmen des OR.NET-Projekts unter Förderung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung Grundlagenzur sicheren dynamischen Vernetzung im Operationssaal und in der Klinik entwickelt. Hierbei erfolgte die Konzeption von drei neuen Standardfamilien, die im IEEE 11073 die service-orientierte Gerätekommunikation definieren: Das „Medical Devices Communication Profile for Web Services“ (MDPWS, IEEE 11073-20702) standardisiert die sichere Datenübertragung zwischen Medizingeräten, während das „Domain-Information- & Service Model for Service-Oriented Point-of-Care Medical Device Communication“ (IEEE 11073-10207) die (Selbst‑)Beschreibung der Geräte und deren Interaktionsmöglichkeiten definiert. Der „Standard for Service-Oriented Medical Device Exchange Architecture & Protocol Binding“ (IEEE 11073-20701) definiert wiederum die (service-orientierte) Gesamtarchitektur und stellt die Verbindung zwischenden beiden anderen Teilstandards her. Über einen überregionalen Verein, OR.NET e.V., wird für Interessierte aus Klinik, Industrie, Normungsgremien und Wissenschaft eine Plattform geschaffen, die Standards und Konzepte weiterzuentwickeln und sich weiteren Anwendungsbereichen wie der Prozessoptimierung oder der vernetzten Intensivstation zuzuwenden.

Assistenzsysteme und (Teil-)Automatisierung

Wenn Intensivmediziner anhand mannigfaltiger Informationen und Messwerte Entscheidungen hinsichtlich Diagnostik und Therapie ihrer Patienten treffen, müssen sie diverse Einzeldaten aus verschiedenen IT-Systemen und Geräten „im Kopf“ aggregieren, bewerten und priorisieren. Es besteht somit die Gefahr, dass die getroffenen Entscheidungen nicht immer leitlinienkonform und prozessoptimiert erfolgen. Die Nutzung von Digitalisierungstechnologien und die Vernetzung von Medizingeräten und IT-Systemen bergen ein enormes Potenzial, um die klinische Patientenversorgung weiter zu verbessern.

Ein vernetztes Gesamtsystem hilft bei der Sammlung der Daten aus verschiedenen Quellen, aggregiert diese, bereitet sie auf und kann folglich diverse Unterstützungsmöglichkeiten bieten:

Durch die Integration standardisierter Abläufe und Workflows kann ein wesentlicher Beitrag zur Prozessoptimierung geleistet werden. Darüber hinaus ermöglicht die Kenntnis des Workflows und des Patientenzustands eine kontextbezogene Verwertung der Daten von einer situationsadaptierten Darstellung bis hin zur kontextsensitiven Entscheidungsunterstützung. Mittels entsprechender Assistenzmodule können dem Anwender die jeweils aktuellen Leitlinien an die Hand gegeben werden, um ein optimiertes und evidenzbasiertes Vorgehen zu fördern. Wissensbasierte Algorithmen ermöglichen situationsadaptierte, intelligente Alarmierungen. Mittels Plausibilitätsprüfung könnte die klinische Relevanz von Alarmen gesteigert und die Häufigkeit unnötiger Alarmierungen reduziert werden.

Durch Übermittlung der konsolidierten Daten wird zudem der Weg für die Teleintensivmedizin und Telesupervision geebnet. Die Expertise von Spezialisten anderer Krankenhäuser oder unterschiedlicher Fachdisziplinen sowie klinikinterne Supervisionsind somit direkt verfügbar.

Nicht zuletzt können smarte Assistenzdevices (z.B. Wearables) die Alarmierungs- und Interaktionsmöglichkeiten weiter verbessern, das Personal unterstützen und somit menschliche Ressourcen schonen.

Im Rahmen des Forschungsprojekts Leitwarte wurden exemplarisch die genannten Möglichkeiten einer vernetzten Intensivstation umgesetzt. Kernpunkte des Systems sind eine systematische Datenpräsentation diagnostischer und therapeutischer Parameter in einer organsystem-bezogenen Darstellung sowie ein Alarmierungskonzept, das den Gesamtzustand des Patienten bewertet und die Interventionsnotwendigkeit im Sinne einer Priorisierung staffelt und farbkodiert präsentiert. Eine Trendanalyse und die darauf basierend prognostizierte Tendenz des Krankheitsverlaufs erleichtern die Abschätzung der Behandlungsdringlichkeit. Durch ein Leitlinienmodul werden dem Nutzer standardgerechte Vorgehensweisen optional vorgegeben.

Mensch-Maschine-Interaktion im Umfeld der Intensivmedizin

Die Intensivstation (ITS) stellt Pflegekräfte und Ärzte vor besondere hygienische, kognitive, psychische und ergonomische Herausforderungen. Neben der komplexenmedizinischen Therapie und Pflege, müssen erschwerende Hürden, wie z.B. die sterile Arbeitsweise, ergonomische Mängel, Medienbrüche bei Dokumentation und Abruf von Parientendaten sowie heterogene Gerätelandschaften mit verteilten Informationsräumen und auditive Belastungen bewältigt werden. Obwohl die aktuell bereitgestellten Gesundheitstechnologien fortschrittliche Behandlungen erlauben und arbeitsintensive Tätigkeiten erleichtern, werden diese von Pflegekräften dennochals unzureichend und belastend eingestuft. Durch die innovative Verknüpfung neuer digitaler Lösungen zur Mensch-Technik-Interaktion, wie der berührungslosen Erfassung der Nutzereingaben und einer interoperablen Digitalisierung von Arbeitsvorgängen können die Abläufe in belastenden Situationen auf der ITS deutlich verbessert werden.

Die Interoperabilität der Medizingeräte und -Systeme erlaubt den Austausch der Daten und eine zentrale Speicherung. So können einerseits die o.g. intelligenteren Auswertungen und andererseits ein konsistentes, herstellerübergreifendes Anzeige- und Bedienkonzept für alle Geräte der ITS auf einem Display umgesetzt werden. Insbesondere in kritischen Situationen sind die zentrale Informationsbündelung aller Patienteninformationen und deren intelligente Auswertung vorteilhaft. Der Nutzer muss nicht in dem teilweise mit Geräten überfüllten Patientenzimmer nach dem alarmierenden Gerät suchen, hinlaufen und über ein gerätespezifisches Interface dieaktuell notwendigen Daten abrufen und dann zurück zum Patienten laufen.

Die berührungslose, meist kamerabasierte Erfassung von Menschen und ihren Bewegungen hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht und wurde als kontaktloses Eingabesystem auch in medizinischen Szenarien eingesetzt. Solch eine „Fernsteuerung“ erlaubt eine sterile, ergonomische und schnelle Interaktion mit Geräten oder graphischen Benutzerschnittstellen. Bereits die kontaktlose Erfassungder Abstände zwischen Nutzer und Display kann die Usability verbessern. So können die Patienteninformationen entfernungsadaptiv dargestellt werden, in der Ferne bekommt man nur das Wichtigste, in der Nähe die Details jeweils lesbar angezeigt. Durch intendierte Handgesten können Pflegekräfte aus der Ferne Alarme quittieren oder Informationen abrufen, damit Zeit und Wege sparen und längere Unterbrechungen der Tätigkeiten und des Patientenkontakts am Bett vermeiden.

Der Einsatz einer sprecherunabhängigen Spracherkennung und -steuerung als weitere kontaktfreie Eingabetechnologie kann sowohl unabhängig als auch in Kombination mit der Gestensteuerung auf der Intensivstation vorteilhaft sein. So können kurze Protokolle und Anordnungen ohne Tastatur in das System eingegeben und die Gestensteuerung durch Sprachbefehle zu einer multimodalen Eingabetechnologie erweitert werden.

Einige der o.g. Ideen wurden bereits in dem sogenannten Proxemic Bedside Monitor im Rahmen des Forschungsprojekts Leitwarte prototypisch umgesetzt. Das System wurde nutzerzentriert und in einem interdisziplinären Team entwickelt und bei öffentlichen Präsentationen vom Fachpublikum sehr positiv aufgenommen.

Fazit und Ausblick

Das Beispiel des Proxemic Bedside Monitor aus dem Leitwarte-Projekt zeigt sehr eindrucksvoll, welches Verbesserungspotenzial für die intensivmedizinische Versorgungdurch die Kombination aus Digitalisierung, Interoperabilität, Standardisierung und neuen Mensch-Technik-Interaktionskonzepten entstehen kann. Die an aktuellen Leitlinien ausgerichteten Assistenzsysteme können ganzheitlich und nicht nur gerätespezifischden Zustand des Patienten bewerten, intelligenter alarmieren und Pfleger und Ärzte bei der Entscheidungsfindung und Behandlung unterstützen. Die zentral gespeicherten, kompletten medizinischen Daten können zukünftig für weitergehende Big Data- und Künstliche Intelligenz-Analysen verwendet werden und zur Erkennung neuer Krankheitsmuster und entsprechender Therapien führen.

Auch der Zugang und die Verwendung der Daten wird sich ändern. Einerseits müssen, z.B. mittels berührungsloser Eingabetechnologien Lösungen aufgebaut werden, die eine einfache Mensch-Technik-Interaktion erlauben und ohne Zusatzaufwändedie hygienischen Anforderungen auf der Intensivstation besser erfüllen. Andererseits werden für klinikinterne und -externe telemedizinische Szenarien die Patientendaten oder Auswertungen wie z.B. Alarme an entfernte, mobile und getragene Endgeräte, unter Berücksichtigung von Datenschutzmaßnahmen weitergeleitet. Durch die enormen Fortschritte hinsichtlich Bildqualität, Kosten und Ergonomie von Smart Glasses sind Einsatzszenarien solcher Ein‑/Ausgabegeräte auch auf der Intensivstation, z.B. zur Überblendung der realen Situation mit aktuellen Informationen und Handlungsanweisungen sehr wahrscheinlich.

Die Interoperabilität und eine medizinischsinnvolle Zusammenfassung der Benutzerschnittstellen der verschiedenen Medizingeräte wird sich auf die Usability aber auch die gesamte User Experience der Intensivstation positiv auswirken. So können genesungsfreundlichere, leisere Patientenzimmerumgesetzt werden, indem die Frequenz der Warnsignale durch zuverlässigereintelligente Alarme gesenkt und insbesondere laute Medizingeräte vom Patientenbett entfernt aufgestellt und über ein zentrales Interface gesteuert werden. Durch die akustisch und optisch ruhigere Gestaltung des Patientenzimmers, ohne Technik im Vordergrund, kann Wohlbefinden der Angehörigen und des Personals, als auch die Genesung des Patienten positiv beeinflusst werden.

Auszug aus DIVI Jahrbuch 2018/2019

Bild: © AdobeStock/ipopba

19.03.2020



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