Kulturgeschichte: Hanf als Medikament
MANFRED FANKHAUSER
Spurensuche
Die Geschichte von Hanf als Medikament ist noch nicht geschrieben. Dazu passend das Zitat von Behr:
„Die Geschichte [des Hanfes] ist eine unendlich lange Treppenflucht, deren untere Etagen aus deprimierend wenig gesicherten Tatsachen und umso mehr Vermutungen bestehen.“ (Behr 1992)
Das erste schriftliche Dokument zur medizinischen Verwendung von Cannabis stammt aus China. Dem mythischen Kaiser und zugleich einem der Väter der chinesischen Medizin, Shen-Nung, wird dieses, um 2700 v. Chr. erschienene Grundwerk der Medikamentenkunde zugeschrieben (Haenel 1970).
Von China scheint die Pflanze um 800 v. Chr. nach Indien gelangt zu sein (Dreyfus 1973). Es gilt als sicher, dass der Hanf schon zu vedischer Zeit als Heilmittel verwendet wurde. Die in Persien entstandene heilige Schrift der Perser, die Avesta, wurde vermutlich im 6. Jahrhundert v. Chr. durch Zarathustra geschrieben. Bereits dort wird auf die betäubende Wirkung des Hanfs hingewiesen. Die Perser kannten auch ein Abortivum mit Namen „Bhanga“, was auf Cannabis hindeutet (Tschirch 1910).
In Ägypten ist die Präsenz von Cannabis seit zirka 1500 vor Christus belegt (Manniche 1989). Es finden sich jedoch Hinweise auf die Pflanze in 1.000 Jahre älteren Papyri. Auch das 1872 entdeckte, umfassendste Dokument zur ägyptischen Medizin, das Papyrus Ebers, liefert mehrere Hinweise zum medizinischen Gebrauch von Cannabis im 16. Jahrhundert vor Christus (Mechoulam 1993).
Erste ausführliche Beschreibungen des übermäßigen Gebrauchs (oder Missbrauchs) beschreibt Herodot im 4. Jahrhundert v. Chr. Er spricht über die Dampfbäder der Skythen, einem indogermanischen Reitervolk des 7. Jahrhunderts v. Chr.:
„Von diesem Hanf nun nehmen die Skythen die Körner, kriechen unter ihre Filzzelte und werfen die Körner auf glühende Steine. Wenn die Körner auf diese Steine fallen, so rauchen sie und verbreiten einen solchen Dampf, wie er sich in keinem hellenischen Dampfbad findet. Die Skythen aber heulen vor Freunde über den Dampf. Er gilt ihnen als Bad, denn im Wasser baden sie niemals.“ (Reininger 1941)
Auch aus dieser Zeit stammen Kräuterbuchfragmente aus Assyrien (zwischen Tigris und Euphrat liegend, daher auch Zweistromland (Mesopotamien) genannt), heutiger Grenzbereich zwischen Iran und Irak. Cannabis erscheint unter verschiedenen Namen (meist als „azallu“) und wird ausgesprochen vielseitig verwendet: Äußerlich gegen Schwellungen, Quetschungen, Augenleiden, zudem wird die Anwendung als Medizinalbad zur Linderung depressiver Zustände empfohlen. Auch innerlich soll es gegen Stimmungsschwankungen helfen, zudem wurde es empfohlen gegen Impotenz, Nierensteine und Hexerei. Die Hanfsamen werden verwendet (zusammen mit Safran und Minze in Bier) gegen verschiedene Frauenleiden.
Cannabis in der antiken Medizin
Welche Bedeutung Cannabis bei den Griechen und Römern gehabt hat, ist unsicher. Man glaubt zwar, dass die psychoaktive Wirkung des Hanfs bekannt, die Verwendung als Rauschmittel aber kaum gebräuchlich war; bezeichnenderweise fehlt Hanf im Corpus hippocraticum (Stefanis et al. 1975). Diese, im 4. Jahrhundert vor Christus entstandenen, dem Vater der Medizin, Hippokrates, zugeschriebenen Schriften, gelten als Fundament der abendländischen Medizin. Andere, Nichtärzte, erwähnen Hanf zwar vor Christi Geburt, gehen jedoch nicht auf die medizinische Verwendung ein (Brunner 1973).
Vielfach zitiert wird die bei Homer (evtl. 7./8. Jahrhundert v. Chr.) im vierten Gesang der Odyssee beschriebene Telemachszene. Helena wirft in den Wein des Telemach und seiner Genossen das Arzneimittel „Nepenthes“, welches das Vergessen aller Leiden bewirken soll. Homer schreibt:
„Und sie tat in den Wein, von dem sie tranken, ein Mittel, Sorgen und Zorn zu stillen und alles Leid zu vergessen. Wer das Mittel genoss mitsamt dem Weine des Mischkrugs, dem rann keine Träne den Tag die Wange herunter, lägen ihm auch tot darnieder Vater und Mutter, selbst, wenn man vor ihm den lieben Sohn oder Bruder mit dem Schwert erschlüge vor seinen Augen.“ (Homerus 1938)
Dass es sich beim Nepenthes um ein Haschischpräparat handelte oder wenigstens Teile davon zu finden sind, wird für möglich gehalten. Andere glauben allerdings, dass es sich beim Nepenthes um eine dichterische Erfindung handelt. Interessant ist, dass bereits in der Antike über die Zusammensetzung dieses sagenumworbenen Pharmakons diskutiert wurde.
In der Arzneimittellehre des Dioskurides (um 50 n. Chr.) wird Cannabis erstmals in einer abendländischen Schrift erwähnt (s. Abb. 2):
„Gebauter Hanf. Der Hanf – einige nennen ihn Kannabion, andere Schoinostrophon, Asterion– ist eine Pflanze, welche im Leben sehr viel Verwendung findet zum Flechten der kräftigsten Stricke. Er hat denen der Esche ähnliche übel riechende Blätter, lange einfache Stengel und eine runde Frucht, welche, reichlich genossen die Zeugung vernichtet. Grün zu Saft verarbeitet und eingeträufelt, ist sie ein gutes Mittel gegen Ohrenleiden.“ (Dioskurides 1902)
Nebst Dioskurides erwähnt auch einer der berühmtesten Ärzte der Antike überhaupt, Galen, Hanf in zwei seiner zahlreichen Schriften. Neben blähungswidrigen und aphrodisischen Wirkungen schreibt er, dass ein zu häufiger Gebrauch der Körner zu Magenbeschwerden, Kopfschmerzen und schließlich zu Impotenz führe. Den grünen Saft der Samen empfiehlt er gegen Ohrenschmerzen. Trotz einiger konkreter Hinweise auf die betäubende Wirkung der Pflanze, unter anderem auch von Galen, ist dessen Bedeutung als Rauschmittel im Gegensatz zum Opium als klein einzustufen. Nicht zuletzt deshalb, weil in dieser Zeit vom Hanf fast ausschließlich die nicht betäubend wirkenden Samen und nicht das Kraut als Arznei verwendet wurden. Mit dem Zerfall des alten Römischen Weltreichs begann gleichzeitig das Aufblühen von Byzanz und, damit verbunden, die Überlieferung der klassisch-antiken Medizinkonzepte in die arabische Welt.
Haschisch in der arabischen Welt
Die Rezeption der antiken Medizin in der arabisch-islamischen Welt fand im 10. Jahrhundert ihren eigentlichen Höhepunkt. Die großen Autoren der Antike waren ins Arabische übersetzt worden, das medizinische Wissen in den arabisch-islamischen Sprach- und Kulturraum übernommen und durch eigene wie auch Einflüsse anderer Kulturen (z.B. aus Indien) ergänzt. Bezüglich Hanf waren die Verhältnisse ganz anders als in der Antike. Nicht wie dort das Opium, sondern Haschisch (bedeutet in arabischer ursprünglich „dürres Kraut“; das „Haschischat al-foqarâ“ wird als das Kraut der Armen bezeichnet) (Gelpke 1975) hatte die größere Bedeutung als Medizinal- und Rauschpflanze. Zahlreiche angesehene Ärzte gehen auf die medizinische Verwendung von Cannabis ein, so auch Avicenna, der Übervater der arabischen Medizin. Er erwähnt die Pflanze in seiner etwa um 1.000 v. Chr. entstandenen Schrift „Canon medicinae“. Diese Arzneimittellehre galt auch in Europa als wegweisendes und vollständigstes Werk der Medizin noch bis ins 15. Jahrhundert. Im Unterschied zu den Werken von Dioskurides oder Galen werden neu nicht nur die Samen, sondern auch das Kraut medizinisch verwendet, dadurch bedingt wird bereits damals darauf hingewiesen, dass mit dieser Pflanze auch Missbrauch betrieben werden könne (Moller 1951; De Courtive 1848).
Im 13. Jahrhundert beginnt mit dem politischen Ende des arabisch-islamischen Reiches auch der Niedergang der arabisch-orientalischen Medizin, die später das wesentliche Fundament der scholastischen Medizin des westlichen Mittelalters werden sollte.
Hanf im mittelalterlichen Europa
Cannabissamen genossen im frühen Europa des Mittelalters als Heilmittel großes Ansehen. Detailliert geht um 1150 die deutsche Äbtissin Hildegard von Bingen in ihrer Heilmittel- und Naturlehre „Physica“ auf Hanf ein. Sie schreibt:
„De Hanff-Cannabus – Vom Hanf
Der Hanf ist warm. Er wächst, während die Luft weder sehr warm noch sehr kalt ist, und so ist auch seine Natur. Sein Same bringt Gesundheit und ist den gesunden Menschen eine heilsame Kost, im Magen leicht und nützlich, weil der den Schleim ein wenig aus dem Magen entfernt und leicht verdaut werden kann, die schlechten Säfte mindert und die guten stärkt. Wer Kopfweh und ein leeres Hirn hat, dem erleichtert der Hanf, wenn er ihn isst, den Kopfschmerz. Den, der aber gesund ist und ein volles Gehirn im Kopfe hat, schädigt er nicht. Dem schwer Kranken verursacht er im Magen einigen Schmerz. Den, der nur mässig krank ist, schädigt sein Genuss nicht. – Wer ein leeres Gehirn hat, dem verursacht der Genuss des Hanfes im Kopf einen Schmerz. Einen gesunden Kopf und ein volles Gehirn schädigt er nicht. Ein aus Hanf verfertigtes Tuch, auf Geschwüre und Wunen gelegt, tut gut, weil die Wärme in ihm temperiert ist.“ (Reier 1982)
In den folgenden Jahrhunderten wird Hanf in den meisten Kräuter- und Arzneibüchern erwähnt, obschon im Jahr 1484 der Papst Innozenz VII Kräuterheilern die Verwendung von Cannabis verbietet. Dieser verkündete, dass Hanf ein unheiliges Sakrament der Satansmesse sei.
Auch Paracelsus beschreibt Cannabis in mehreren seiner zahlreichen Werke. Die bekannten deutschen Kräuterbuchautoren Otto Brunfels, Hieronymus Bock und Leonard Fuchs (diese drei werden auch als Väter der Botanik bezeichnet) bringen wenig Neues zu Cannabis, dafür wird die Pflanze in Form von Holzschnitten sehr schön abgebildet. In fast allen bekannten und prächtigen Kräuterbüchern der Zeit ist Hanf aufgeführt. Das Interesse an diesen Werken schwand im Verlaufe des 17. Jahrhunderts. Im Zuge der Aufklärung begann vermehrt die Suche nach neuen therapeutischen Ansätzen. Allmählich setzten sich auch chemische Stoffe in der Therapie durch.
Cannabis im europäischen Arzneischatz des 18. Jahrhunderts
Wie bereits in den vorangegangenen Epochen wurden auch im 18. Jahrhundert von der Arzneipflanze Cannabis sativa fast ausschließlich, wie in der Volksmedizin üblich, der Samen in Form des Öls oder einer Emulsion medizinisch verwendet.
So wie die nützlichen und therapeutischen Eigenschaften des einheimischen Hanfes geschätzt wurden, so stand man dem bis dahin in der europäischen Medizin unbekannten indischen Hanf kritisch gegenüber. Der Begriff „indischer Hanf“ wurde erstmals Mitte des 18. Jahrhunderts durch Georg Eberhard Rumphius eingeführt, der wohl auch als erster deren Zweigeschlechtigkeit erkannte (Tschirch 1912). Aber erst 50 Jahre später wurde die definitive Unterscheidung von Cannabis sativa bzw. Cannabis indica durch Jean Baptiste Lamarck vollzogen.
Den berauschenden Eigenschaften der fremdländischen Hanfpflanze und der vermuteten Schädlichkeit derselben wurde mit Vorsicht begegnet. Der Tübinger Johan Friedrich Gmelin schrieb 1777 in seiner „Allgemeinen Geschichte der Pflanzengifte“:
„Auch der Same, die Rinde, die Blätter, noch mehr der Saft, und die Spitzen der grünenden Pflanze haben etwas Betäubendes; sie sind das Brug, oder Bangue der Morgenländer, die sie gemeiniglich mit etwas Honig anmachen, und es gebrauchen, wenn sie sich ein eine angenehme Trunkenheit und Benebelung des Verstandes versetzen wollen. Ob ich gleich nicht zweifle, dass ein langer Gebrauch solcher Mittel tödlich werden kann, so ist mir doch bisher kein Beispiel davon bekannt.“ (Gmelin 1777)
Es sollte Mitte des 19. Jahrhunderts werden, bis sich indischer Hanf in der europäischen Schulmedizin etablieren konnte.
Cannabis in der westlichen Schulmedizin des 19. Jahrhunderts
Nach wie vor wurde auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend (einheimischer) Hanfsamen, ausnahmsweise das Kraut, pharmazeutisch genutzt. Eine erste ausführliche Beschreibung zur Verwendbarkeit des fremdländischen, indischen Hanfs liefert im Jahr 1830 der Apotheker und Botaniker Theodor Friedrich Ludwig Nees v. Esenbeck.
Im Jahr 1839 veröffentlichte der im indischen Kalkutta stationierte irische Arzt William B. O’Shaughnessy eine umfassende Studie über den indischen Hanf. Seiner Arbeit mit dem Titel „On the Preparations of the Indian Hemp or Gunjah“ ist es hauptsächlich zu verdanken, dass der indische Hanf in der Folge auch in der abendländischen Schulmedizin Fuß fassen konnte. Im Hauptteil seiner Arbeit geht der Autor auf seine vielfältigen Versuche am Menschen ein. Er setzte diverse Hanfpräparate mit zum Teil großem Erfolg bei folgenden Indikationen ein: Rheumatismus,Tollwut, Cholera, Starrkrampf, Krämpfe und Delirium. Zu jeder Indikation liefert O’Shaugnessy mehrere Fallbeispiele und hält gemachte Beobachtungen fest. Mit Haschisch fand er ein gutes Mittel, seinen Patienten Linderung zu verschaffen oder sie sogar ganz von den entsprechenden Symptomen zu befreien. Bei vielen Patienten waren Krämpfe ein zentrales Problem, darüber kam er zu folgendem Schluss:
„Die vorliegenden Fälle geben zusammengefasst meine Erfahrungen mit Cannabis indica wieder, und ich glaube, dass dieses Heilmittel ein Antikonvulsium von grösstem Wert ist.“ (O’Shaugnessy 1838–40)
Die westliche Schulmedizin reagierte prompt auf diese neuen Erkenntnisse aus Indien. Dies ist nicht erstaunlich, denn bis dahin hatte man den Symptomen der Infektionskrankheiten wie Tollwut, Cholera oder Starrkrampf relativ hilflos gegenübergestanden. Aus den Ergebnissen von O’Shaughnessy schöpfte man verständlicherweise Hoffnungen, nicht zuletzt deshalb, weil gerade in dieser Zeit in Europa eine große Cholerawelle wütete, die allein in Paris 1.800 Menschen dahinraffte. Der Startschuss zur Karriere der vielversprechenden Medizinalpflanze Cannabis indicawar gefallen.
Anfänglich wurden die von O’Shaugnessy bekannten Anwendungsgebiete übernommen, später wurde das Therapiefeld für Haschisch wesentlich erweitert. Insbesondere die Erfolgsmeldungen im Kampf gegen Tetanus veranlasste englische und französische Mediziner, dieses neue Wundermittel bei dieser Indikation einzusetzen. Auch der bulgarische Arzt Basilus Beron befasste sich in seiner Dissertation „Über den Starrkrampf und den indischen Hanf als wirksames Heilmittel gegendenselben“ mit dieser Problematik.
Von Europa fand das vielversprechende Heilmittel seinen Weg nach Amerika. Wie in Europa waren es auch in den Vereinigten Staaten vorerst Künstlerkreise, die dem Haschisch zu großer Popularität verhalfen. Aber bereits im Jahr 1860 verfasste das Medizinische Komitee des Bundesstaates Ohio einen detaillierten Bericht über die Verwendung von Cannabispräparaten in den USA. Viele der erwähnten Ärzte übernahmen die bekannten Indikationen aus Europa, daneben experimentieren einige mit vorerst neuen Anwendungsgebieten wie Asthma und Bronchitis.
Der Aufschwung hält an
Dass die meisten europäischen Länder wie auch die USA den indischen Hanf in ihre Landespharmakopöen aufnahmen, verdeutlicht den Stellenwert, der diesem Heilmittel mittlerweile eingeräumt wurde. Aus praktisch allen westlichen Ländern folgten wissenschaftliche Arbeiten über Cannabis. Nach wie vor waren es vor allem Frankreich, England und die USA, die viel dafür taten, diesem Heilmittel in der westlichen Medizin endgültig zum Durchbruch zu verhelfen. Aber auch in Deutschland wurde die Erforschung des indischen Hanfes vorangetrieben. Eine umfangreiche, oft zitierte Arbeit dieser Zeit ist diejenige von Bernhard Fronmüller aus dem Jahr 1869. Dieser hatte sich schon seit längerer Zeit mit den Eigenschaften der Hanfpflanze beschäftigt. Seine Cannabisversuche im Rahmen der „Klinischen Studien über die schlafmachende Wirkung der narkotischen Arzneimittel“ führte er mit exakt tausend Probanden durch, die bedingt durch verschiedenste Ursachen an Schlafstörungen litten. Die erzielten Resultate waren im Großen und Ganzen sehr zufriedenstellend.
1880 bis 1900: der Höhepunkt
Diese Zeitspanne kann als Höhepunkt sowohl der damaligen Cannabisforschung als auch der Verwendung der Hanfpräparate bezeichnet werden. In Europa war es insbesondere das Verdienst der Firma E. Merck in Darmstadt, dass Cannabispräparate gegen Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt verfügbar waren und verwendet wurden. Aber auch die Firmen Bourroughs, Wellcome & Co. in England stellten solche Präparate her. In den Vereinigten Staaten waren es Squibb, dann vor allem Parke-Davis & Co. und später auch Eli Lilly & Co., die diese Rolle übernahmen. Dank diesen (und einigen anderen) Unternehmen standen qualitativ hochwertige Rohstoffe und mehrere Fertigpräparate zur Verfügung.
Um die Jahrhundertwende waren Cannabispräparate in der westlichen Schulmedizin bei folgenden Indikationen beliebt: Schmerzzustände (vor allem Migräne- und Menstruationskrämpfe), Keuchhusten, Asthma. Zudem wurden sie als Schlaf-und Beruhigungsmittel eingesetzt. Zusätzlich war Haschisch relativ häufig als Zusatz in Hühneraugenmitteln zu finden. Folgende Beschwerden wurden auch, aber seltener, mit Hanf therapiert: Magenschmerzen und -verstimmungen, Depressionen, Durchfall, Appetitlosigkeit, Juckreiz, Gebärmutterblutungen, Morbus Basedow und Wechselfieber. Es ist bezeichnend, dass sich Ärzte, die sich intensiv und vielfach über Jahre mit dem Arzneimittel Cannabis beschäftigten, dieses meist als wertvolles Medikament einstuften. Andere lehnten es ab, hielten es oft für wertlos oder gar gefährlich.
Einen außerordentlich wichtigen wissenschaftlichen Beitrag zur Cannabisforschung gegen Ende des 19. Jahrhunderts lieferte der sogenannte „Indian Hemp Report“ von 1894. In dieser von England in seiner Kolonie durchgeführten Erhebung ging es hauptsächlich darum, die Gewinnung von Drogen aus Cannabis, den Handel mit demselben und dessen Auswirkungen auf die Gesamtbevölkerung zu untersuchen. Zudem sollte abgeklärt werden, ob sich ein allfälliges Verbot dieser Präparate rechtfertige. Zu diesem Zweck wurde eine Expertenkommission gegründet, deren Bericht den Stellenwert des Rausch- und Heilmittels Cannabis in Indien gegen Ende des 19. Jahrhunderts wiedergibt. Im Wesentlichen kommt die Kommission zu dem Schluss:
„Aufgrund der Auswirkungen der Hanfdrogen scheint es der Kommission nicht erforderlich, den Anbau von Hanf, die Herstellung von Hanfdrogen und deren Vertrieb zu verbieten.“ (Leonhardt1970)
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschienen vermehrt chemisch orientierte Arbeiten über Cannabis. Man war bestrebt, das Geheimnis des „aktiven Prinzips“ dieser Pflanze zu lüften. Im Weiteren war das Standardisieren der Cannabispräparate ein großes Thema. Da man die Medikamente nicht genau auf einen bestimmten (noch nicht bekannten) Wirkstoff einstellten konnte, beklagten sich immer wieder Ärzte mit deren unzuverlässigen Wirksamkeit. Ein ebenfalls oft diskutiertes Thema war die Wirksamkeit von einheimischem Hanf. Überhaupt begann man nach dem ersten Weltkrieg Cannabis sativa wieder vermehrt zu berücksichtigen, weil indischer Hanf in Europa praktisch nicht mehr erhältlich war.
Das Ende naht
Nachdem die Cannabispräparate um die Jahrhundertwende noch rege benutzt wurden,verschwanden sie gegen Mitte des 20. Jahrhunderts vollständig. Dies waren die Gründe:
- Medizinisch-pharmazeutischer Fortschritt: Für alle Hauptanwendungsgebiete der Cannabispräparate wurden noch vor Beginn des 20. Jahrhunderts neue spezifische Arzneimittel eingeführt.
- Pharmazeutische Instabilität: Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die unterschiedliche Wirksamkeit der Cannabispräparate auffiel. Verschiedenste Faktoren wie Provenienz, Alter, Lagerung und Galenik der Droge waren dafür verantwortlich, dass das Arzneimittel hochwirksam war oder unwirksam blieb. Anders als bei Alkaloid-Drogen wie dem Opium gelang die Isolierung des Tetrahydrocannabinols (THC) in reiner Form erst 1964, damit verbunden gab es zuvor Standardisierungsprobleme.
- Wirtschaftliche Aspekte: Durch Einschränkungen in den Produktionsländern (vor allem Indien) und bedingt durch den ersten, dann aber auch noch am Rande durch den zweiten Weltkrieg, wurde es immer schwieriger, hochwertigen indischen Hanf nach Europa zu importieren. Auch für die Droge Cannabis galt das Gesetz von Angebot und Nachfrage, sodass die Preise sowohl der Rohprodukte als auch der Präparate massiv stiegen.
- Rechtliche Einschränkungen: Durch die immer restriktiveren länderspezifischen und internationalen Gesetzgebungen wurde die Verwendung der Cannabismedikamente immer stärker eingeschränkt. Früher oder später wurden sämtliche Haschischpräparate der Betäubungsmittelpflicht unterstellt, was deren Anwendung in der Praxis massiv erschwerte,bis schlussendlich ein generelles Verbot die Verwendung verunmöglichte.
Das Comeback
Nachdem Cannabis allmählich der Betäubungsmittelpflicht unterstellt wurde, kam 1961 das eigentliche Ende der medizinischen Karriere von Cannabis. Im Jahr 1958 war die medizinische Verwendung von Cannabis weltweit noch in 26 Ländern der UNO gestattet. Das sogenannte Einheits-Übereinkommen (Convention on NarcoticDrugs) führte nun de facto zu einem kompletten Verbot von Cannabis. Dies galt auch für die medizinische Anwendung, mit Ausnahme der wissenschaftlichen Forschung. Diese Ausnahmeregelung sollte sich noch als sehr wertvoll erweisen, denn so konnte weiterhin mehr oder weniger intensiv mit Cannabis geforscht werden. Bereits 3 Jahre nach Unterzeichnung des Abkommens gelang es den israelischen Wissenschaftlern Yechiel Gaoni und Raphael Mechoulam die chemische Struktur des Hauptcannabinoids, das THC, aufzuklären. Bereits 1 Jahre vorher war ebenfalls R. Mechoulam bereits dasselbe mit Cannabidiol (CBD) gelungen.
Ein weiterer Meilenstein in der Cannabisforschung folgte zu Beginn der 1990er-Jahre: die Entdeckung des körpereigenen Endocannabinoid-Systems. Das Auffinden der Cannabinoidrezeptoren führte zu einer explosionsartigen Intensivierung der Forschung. Aufgrund dieser neuen Erkenntnisse haben verschiedenste Länder Anstrengungen unternommen, Cannabispräparate oder Cannabinoide (THC bzw. Dronabinol, CBD, Nabilon, Nabiximol) verkehrsfähig zu machen, wenngleich dies je nach Land sehr unterschiedlich gehandhabt wird.
In den letzten Jahren war es vor allem das Cannabisextrakt enthaltende Fertigarzneimittel Nabiximols (Sativex®), das sich, nebst den Individualrezepturen (v.a. Dronabinol ), etablieren konnte. Weltweit ist eine starke Tendenz zu erkennen, dass der Zugang für die medizinische Verwendung von Cannabis liberalisiert wird, so auch in Deutschland, wo seit 2017 das Verschreiben von THC-haltigen Hanfblüten möglich ist. Grosse Hoffnungen werden zudem in das medizinische Potenzial des nicht psychoaktiven CBD gesetzt, insbesondere zur Behandlung von Epilepsie. Ein neuerlicher Schritt in diese Richtung war die Zulassung des CBD-haltigen Medikamentes Epidiolex® zur Behandlung schwerer Epilepsieformen durch die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA im Juni 2018.
Es scheint sich abzuzeichnen, dass die Renaissance der Arzneipflanze Cannabis nicht mehr aufzuhalten ist. Ob Hanf die großen Erwartungen erfüllen kann, wird die Zukunft zeigen. Bereits heute ist Cannabis für viele Patienten ein unverzichtbares Medikament geworden.
Auszug aus Cannabis und Cannabinoide in der Medizin (Hrsg. Kirsten R. Müller-Vahl | Franjo Grotenhermen)