Raphael Roth fasziniert das Zusammenspiel von Inspiration und Impact. Seine Schwerpunkte sind die Lean Bettenstation sowie die Optimierung von OP Planung & Prozessen. Bei walkerproject organisiert er Studienreisen unter dem Motto „Lernen von den Besten“ und begleitet Kunden auf ihren Transformationsreisen. Im Interview spricht er über die Erfolgsgeschichte des Lean-Station-Modells.
1. Mehr Zeit für Patienten – wo stehen wir heute?
Der Ansatz wird mittlerweile in Krankenhäusern in der Schweiz, Deutschland, Österreich und Norwegen praktiziert. Ein Beispiel ist das Universitätsspitalin Genf (Hôpitaux Universitaires de Genève), das „Mehr Zeit für Patienten“ als strategische Initiative lancierte. Um dieses Ziel zu erreichen, transformieren sie 120 Stationen in 5 Jahren gemäß der Lean-Philosophie. Unter Einbezug aller auf den Stationen tätigen Berufsgruppen analysieren sie, welche Tätigkeiten mit und ohne Patienten stattfinden. Wo möglich und sinnvoll werden Tätigkeiten zu Patienten hin verlagert. Der Einbezug der Patienten verbessert die Kommunikation und Qualität der Zusammenarbeit. Gleichzeitig ist diese Arbeitsweise effizienter. Absprachen zwischen Pflegenden und Ärzten (Visiten, Rapporte, Schichtübergaben usw.) werden beispielsweise konsequent am Patientenbett getätigt.
Die Einführung von Lean-Bettenstationen am HUG zeigt Wirkung: Die Patienten bemerken die Veränderung und äußern sich positiv zu den neuen Instrumenten. In täglichen Patientenbefragungen wird die Zufriedenheit und die Kommunikation als sehr gut bestätigt. Die Mitarbeitenden beschreiben einen stärkeren Zusammenhalt und weniger Unterbrechungen im Arbeitsalltag. Die Pflegefachpersonen haben zwischen bis zu 30% mehr Zeit für Patienten gewonnen und nehmen eine Verbesserung der Qualität der Arbeit wahr.
2. Was sind die häufigsten Probleme im stationären Bereich in Bezug auf die Pflege?
Viele Pflegefachpersonen sind im heutigen System überlastet oder kämpfen mit starken Schwankungen in der Auslastung über den Tag hinweg. Das verursacht Stresssituationen. Dies ist einerseits natürlich auf zunehmende Patientenzahlen und den erhöhten Pflegebedarf zurückzuführen. Andererseits sind viele Herausforderungen auch historisch entstanden. In der Lean-Sprache spricht man hier von Verschwendungen. Es fehlt an Standards, wodurch sich jede Person ihre eigene Arbeitsweise zurechtlegt. Der administrative Aufwand nimmt stetig zu und häufig sammelt sich die Dokumentation und Leistungserfassung für die Feierabendstunden an, da die Pflegenden über den Tag hinweg ständig neuen Aufgaben hinterherrennen müssen. Oftmals übernimmt die Pflege zudem viele eigentlich berufsfremde Tätigkeiten, wie die Lagerbewirtschaftung. Viele Arbeiten werden nicht geplant und so erfolgt die Aufgabenverteilung auf Zuruf (Patientenrufe, Aufgaben von Ärzten, telefonische Mitteilungen von Kollegen etc.). Die Unterbrechungen sind nicht nur mühsam und ineffizient, sie erhöhen auch das Risiko Fehler zu machen.
Es werden viele Wege - bis zu 10 km - täglich zurückgelegt; für Transporte oder auf der Suche nach Personen, Material und Geräten. Interprofessionelle Abstimmungen sind schwierig. Häufig wartet die Pflege auf die Ärzteschaft und umgekehrt. All diese Verschwendungen führen dazu, dass der Pflege nur noch wenig Zeit direkt beim Patienten bleibt. Die Mitarbeitenden fühlen sich gestresst und viele Überstunden fallen an.
3. Die Lean-Bettenstation als Erfolgsmodell – was sind die Gründe dafür?
Mehr Zeit zu schaffen für Patienten ist ein anspruchsvolles Vorhaben. Mit punktuellen Prozessverbesserungen kommt man nicht weit. Vielmehr braucht es eine grundlegende Veränderung wie kommuniziert, gearbeitet und Probleme gelöst werden. Das bedingt ebenfalls eine Veränderung für die Führung.
Genau das passiert bei einer Lean-Transformation: Lean nützt das Potenzial von Mitarbeitenden und die bestehende Energie für eine Systemveränderung. Erst nach einer Analyse vor Ort, wo das gesamte Projektteam an den "Ort des Geschehens" geht und über Beobachtungen die häufigsten Brennpunkte erarbeitet, wird ein Projekt gestartet. Die Umstellung auf eine Lean-Bettenstation findet nach dem Big Bang Prinzip statt. So sind bereits vom ersten Tag an Verbesserungen spürbar. Lean Taktiken geben eine Richtung vor, wie die Verschwendungen angegangen werden können. Das Besondere daran ist, dass die Taktiken nicht eine fertige Lösung vorgeben, sondern sich je nach Station individuell gestalten lassen. Das Ziel ist, dass es auf einer Lean-Bettenstation für die Mitarbeitenden einfacher wird, ihre Arbeit zu erledigen. Jeder soll im oberen Drittel seiner Qualifikation arbeiten können. Die Mitarbeitenden dieser Stationen werden gezielt gefördert und motiviert. Das Lösen von Problemen, die stetige Verbesserung und Weiterentwicklung werden in Alltag integriert. Bei Lean steht an oberster Stelle der „Respekt für den Einzelnen“, wenn alle Herausforderungen mit diesem Grundprinzip angegangen werden und die Bedürfnisse von Patienten, ihren Angehörigen und von Mitarbeitenden an erster Stelle stehen, dann befinden wir uns auf einer Lean-Bettenstation.
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