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Alltag in Shanghaier Großklinik

Über den Alltag in einer großen Shanghaier Klinik – Interview mit einer Krankenhausmanagerin

SHUWEN BIAN

Frau H. war viele Jahre Managerin auf Leitungsebene eines der größten Krankenhäuser Shanghais. Über dreißig Jahre lang hat sie in dem Krankenhaus gearbeitet, zunächst im pa­thologischen Institut, später übernahm sie verschiedene Führungsaufgaben in der Kranken­hausleitung, unter anderem im Präsidium und in der Parteikommission. Inzwischen ist sie pensioniert und an einem Gesundheitsvorsorgezentrum beratend tätig. Das folgende Inter­view wurde in Shanghai geführt und handelt unter anderem von der hohen Patientenanzahl, die das Krankenhaus täglich bewältigen muss und von den daraus resultie­renden Herausforderungen.

Frau H., Sie haben Ihr gesamtes Berufsleben im Gesundheitswesen verbracht. In einem Krankenhaus sind Sie sowohl im medizinischen als auch administrativen Feld tätig gewesen. Können Sie uns zunächst einen kurzen Überblick über das Krankenhaus geben?

Das Krankenhaus wurde in den 50er-Jahren gegründet und zählt seitdem zu den größten und renommiertesten Krankenhäusern in Shanghai. Es beschäftigt aktuell etwa 3.500 Mitarbeiter, davon ungefähr 1.000 Ärzte und Ärztinnen, 1.500 Pflegekräf­te und 400 medizinische Fachangestellte. Als akademisches Lehrkrankenhaus nimmt das Krankenhaus pro Jahr noch 250 Studierende der verschiedenen medizinischen und Pflege-Studiengänge auf, die den Praxisteil des Studiums dort absolvieren. Das Krankenhaus ist mit 2.000 Betten ausgestattet und beherbergt 57 Kliniken, Institute und Abteilungen aller humanmedizinischen Fachrichtungen. Dazu kommen weite­re elf klinisch-wissenschaftliche Zentren. Im gesamten letzten Jahr wurden ca. 4 Mio. ambulante Behandlungen (Tageskliniken und Notaufnahme) durchgeführt, durchschnittlich über 10.000 Patienten am Tag. Im stationären Bereich wurden mehr als 70.000 Operationen durchgeführt. Im Durschnitt dauert der stationäre Aufenthalt 7 Tage. Viele unserer Patienten kommen von außerhalb und sind aufgrund des guten Rufs des Krankenhauses extra angereist.

Bei so einer hohen Patientenanzahl entsteht sicherlich ein immens hoher Effizienzdruck für das Krankenhaus?

Reisach_China_165x240_zumDruck_V02.inddReisach_China_165x240_zumDruck_V02.inddDas ist sehr wahr. Der Behandlungsprozess im ambulanten Bereich ist so organi­siert, dass Patienten den kompletten Vorgang eines Arztbesuches von der Terminver­gabe, über die Untersuchung, bis hin zur Diagnostizierung, einschließlich Medika­mentenausgabe und Kostenbegleichung, theoretisch innerhalb eines einzigen Tages erledigen können. Der Patient verbringt dann einen ganzen Tag von morgens bis zum späten Nachmittag im Krankenhaus und durchläuft alle diese Behandlungsschritte. In der Regel kommen die Patienten früh zu uns und melden sich beim zentralen Empfang an. Dort können sie gleich einen Termin für denselben Tag ver­einbaren. Sprechstunden finden nicht nur, aber größtenteils am Vormittag statt. Radiologische Untersuchungen, falls verordnet, werden direkt anschließend durch­geführt und die Befunde in Echtzeit übers Intranet dem behandelnden Arzt zurück­gespielt. Abschließend spricht der Patient wieder mit dem anfänglich behandelnden Arzt und bekommt die Diagnosen gestellt. Er kann auch die verschriebenen Medika­mente gleich danach von der krankenhauseigenen Apotheke abholen. Die Kosten, die beider Behandlung angefallen sind, werden ebenfalls am selben Tag abgerechnet und vom Patienten je nach seiner Krankenversicherung anteilig oder ganz bezahlt. Pathologische Untersuchungen dauern natürlich ein bisschen länger. Sie werden im krankenhauseigenen Labor durchgeführt und die Ergebnisse können normalerweise 1 bis 3 Tage später abgeholt werden. Sämtliche nötigen medizinischen Leistungen werden von dem Krankenhaus aus einer Hand organisiert mit dem Ziel, dass die Diagnostizierung noch am selben Tag erfolgt und den Patienten ein zweiter Besuch im Krankenhaus erspart bleibt. Die größte Herausforderung dabei ist, diesen Ablauf so zu organisieren, dass einerseits so viele Patienten wie möglich behandelt werden können und andererseits der Arztbesuch möglichst angenehm bleibt für die Patien­ten und ihre Begleitpersonen. Es ist nicht immer einfach, diese beiden Ansprüche unter einen Hut zu bringen.

Worin konkret bestehen die Schwierigkeiten?

Der eng getaktete Behandlungsablauf stellt sehr hohe Anforderungen an Infrastruk­tur und Logistik, die bereitgestellt werden müssen. Es lässt sich leider nicht vermei­den, dass die Patienten relativ viel Zeit mit dem Warten verbringen müssen. Je nach Behandlung steht der Patient oft vier-bis sechsmal in einer Warteschlange. Das ist natürlich zum einen durch die hohe Anzahl der Patienten verursacht. Jeden Morgen bilden sich lange Schlangen vor der Anmeldung. Bei Standardsprechstunden ist es nicht möglich, Termine im Vorfeld zu vereinbaren. Sie werden erst bei der Anmel­dung am selben Tag vergeben. Also: Wer zuerst kommt, ist zuerst dran. Daher kom­men viele Patienten schon vor den Öffnungszeiten und warten in der Halle, um si­cherzustellen, dass sie einen Termin bekommen. Bei Spezialisten-Sprechstunden (Sprechstunden von Ober-und Chefärzten) ist eine Terminvereinbarung im Vorfeld möglich. Solche Sprechstunden sind aber begrenzt und finden nicht jeden Tag statt. Außerdem sind sie um ein Vielfaches teurer als die Standardsprechstunden. Die mor­gendlichen Stoßzeiten sind natürlich eine Geduldsprobe für alle, überall herrscht hoher Andrang. Da wartet man auch mal 10 oder 15 Minuten auf einen Fahrstuhl. Dass Patienten bzw. ihre Begleitpersonen mehrmals in verschiedenen Schlangen an­stehen müssen, geht aber auch noch auf externe Bedingungen zurück, auf die wir keinen Einfluss haben. Da die Behandlungsschritte einzeln abgerechnet werden und die Bezahlung vorher erfolgen muss, müssen die Patienten während des Besuches zwei-bis dreimal bezahlen gehen, z.B. vor der Sprechstunde, vor der Blutabnahme, vor der radiologischen Untersuchung, vor der Medikamentenabholung usw. Auf­grund des Platzmangels befinden sich manche Kassen in anderen Gebäuden als die Untersuchungsräume, was bei Patienten schnell den Eindruck erweckt, hin und hergeschickt zu werden. Im Vergleich zu den Wartezeiten kommt ihnen die Zeit, die sich Ärzte für sie nehmen, noch kürzer vor. Dieser Abrechnungsmodus hängt mit dem Krankenversicherungssystem zusammen und ist in allen Krankenhäusern gleich.

Könnte man durch die Aufstockung von Personal gegenwirken?

Bei der Personalplanung haben wir keinen großen Spielraum. Die Größenordnung ist vorgegeben und die Finanzierung wird von staatlicher Seite bestimmt. In den letzten 20 Jahren ist unser Patientenaufkommen beständig angestiegen, was ja auch nicht besonders verwunderlich ist bei dem kontinuierlichen Einwohnerzuwachs in der Stadt. Das Krankenhauspersonal wächst aber langsamer. Der chronische Perso­nalmangel ist bei den Pflegekräften noch gravierender als bei Ärzten. Eigentlich könnten wir gut mehr Mitarbeiter gebrauchen. Dass die Krankenschwestern über­belastet sind, ist sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich ein Dauerzu­stand. Das hat zur Folge, dass einige einfachere Pflegeaufgaben letzten Endes von der Patientenseite selbst organisiert werden müssen. Häufig sind es die Angehörigen, die einspringen, wenn jemand aus der Familie operiert wird und mehrere Tage im Krankenhaus bleiben muss. Je nach Bettlägerigkeit des Patienten verbringen die An­gehörigen mehrere Stunden am Tag am Krankenbett oder übernachten sogar im Krankenzimmer, um mit aufzupassen. Die Familien, die aus zeitlichen oder anderen Gründen diese Mitbetreuung nicht leisten können, heuern dann in der Regel eine Privatperson an, eine sogenannte „Pflegehilfskraft“, die den Patienten während des Krankenhausaufenthaltes zusammen mit den eigentlichen Krankenschwestern pflegt. Die meisten dieser Pflegehilfskräfte sind Wanderarbeiter und Wanderarbei­terinnen vom Land, die über private Personalvermittlungsfirmen organisiert werden. Sie müssen auch am Krankenhaus registriert sein. Nicht wenige von ihnen haben feste Stationen, an den sie bereits seit Jahren arbeiten. Daher kennen sie sich mit der Pflegesituation vor Ort sehr gut aus, besser als die Angehörigen. Man könnte sie fast als eine Art informelle Pflegekräfte betrachten. Bezahlt werden sie von den Patienten aus eigener Tasche nach Stunden- bzw. Tagessatz.

Entscheiden sich die Patienten, wenn die Pflegesituation so angespannt ist, nicht für andere Krankenhäuser?

Natürlich gibt es in Shanghai auch Krankenhäuser, z.B. die privaten internationa­len Krankenhäuser, in denen die Personalschlüssel viel höher sind. Dort werden die Patienten zuvorkommender, zumindest mit mehr Zeit,behandelt. In allen öffentli­chen Krankenhäusern ist es aber ähnlich wie bei uns. Abgesehen von der Kostenfra­ge bevorzugen Patienten insbesondere bei größeren und schwereren Erkrankungen die großen öffentlichen Häuser. Was die Qualifikationen der Ärzte und die technische Ausstattung betrifft, liegen die öffentlichen großen Krankenhäuser vorn. Viele Pa­tienten sind sehr gut über die Schwerpunkte der verschiedenen Krankenhäuser in­formiert. Aus dem Gesundheitsressort der großen Tageszeitungen erhalten sie genaue Informationen darüber, welche neuen Behandlungsmethoden und -verfahren in welchem Krankenhaus eingeführt wurden, welches Ärzteteam wissenschaftliche Preise gewonnen hat oder was für neue Untersuchungsgeräte gerade angeschafft worden sind. Am Ende des Tages entscheiden sie sich dann für die besten Ärzte und die beste Ausstattung, nehmen dabei die anderen Dinge in Kauf. 

Um die großen öffentlichen Krankenhäuser zu entlasten, treibt die chinesische Re­gierung seit zwei Jahren verstärkt den Aufbau eines mehrstufigen Systems für me­dizinische Betreuung voran. Laut der „Richtlinien der Generaldirektion des Staats­rates zur Förderung des mehrstufigen Systems für medizinische Versorgung“ aus dem Jahr 2015 sollen die kleinen kommunalen Kliniken, die bisher eine untergeordnete Rolle in der medizinischen Grundversorgung gespielt haben, in Zukunft zunehmend die erste Anlaufstelle für Patienten werden, vor allem bei chronischen und häufigen Krankheiten. Erst bei schwereren und komplexeren Fällen werden die Patienten von dort aus an die großen Krankenhäuser überwiesen. Außerdem soll in den kommu­nalen medizinischen Einrichtungen eine neue Dienstleistung – ärztlicher Hausbe­such – eingeführt werden. Das sind durchaus ambitionierte Reformziele, bei der momentanen qualitativen Diskrepanz zwischen den großen Krankenhäusern – wie im Interview – und kleinen Krankenhäusern, die weniger Vertrauen seitens der Patienten genießen. Um die besten Umsetzungsmaßnahmen auszuloten, führen mo­mentan die regionalen Gesundheitsämter in den ausgesuchten Städten experimentell verschiedene Lösungsvorschläge durch. Die 17 Stadtviertel und 245 kommunalen Kli­niken Shanghais gehören auch dazu. Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass der Erfolg der Reform stark davon abhängen wird, ob es solchen kommunalen Kliniken letzten Endes gelingt, höhere ärztliche Qualifikationen und breitere Fachkompetenzen als bisher zustande zu bringen.

Auszug aus Das Gesundheitswesen in China"

Bild: Vogelperspektive auf das Dalian Children´s Hospital © Nickl & Partner Architekten AG


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